05.06.2008

Der lebendige Rudolf Steiner

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Der lebendige Rudolf Steiner. Eine Apologie. Occident Verlag, 2008.

Vorbemerkung: Der folgende Aufsatz dient dazu, ausführlich ein außerordentliches Buch vorzustellen. Wenn versucht wird, einiges Wesentliche wiederzugeben, so deshalb, um auf dessen Bedeutung hinzuweisen. Der Schreiber möchte nicht den Eindruck erwecken, dass er Erkenntnisse der Autorin zu kommentieren oder gar selbst gewonnen hätte. Allein nachvollziehen und teilen kann er sie vollkommen, und so wurde dieser Aufsatz verfasst, um möglichst viele Menschen auf dieses Buch hinzuweisen und ihnen die vollständige Lektüre ans Herz zu legen.


Es gibt viele Bücher über Rudolf Steiner. Kürzlich aber ist ein außergewöhnliches Buch erschienen, das Zugänge zum lebendigen Wesen Rudolf Steiners und zum wahren Wesen der Anthroposophie eröffnen will. Geschrieben wurde es von der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller, die in ihrem 2007 erschienenen Buch „Der Heilige Gral“ bereits das Wesen und den Entwicklungsweg des reinen Denkens schilderte – ein Weg, der schließlich zur realen Erfahrung des Christuswesens führt. 

Mit dieser seit 21 Jahren errungenen und stetig weiterentwickelten über-sinnlichen Fähigkeit trägt sie von verschiedenen Seiten Aspekte zusammen, die sich auch für den Leser immer mehr zu einem Erlebnis zusammenfügen. Die klare Sprache zielt immer auf das Wesentliche und enthält zugleich voll und ganz den tiefen Ernst des Geschilderten. Mehr und mehr wird klar: Rudolf Steiner und die Anthroposophie sind lebendige Wesen. Man kann sie und ihre Bedeutung immer nur unterschätzen – und tut dies fortwährend, weil überall, selbst im Zentrum der anthroposophischen Bewegung, der Intellekt das Feld beherrscht und nirgendwo das reine Denken geübt, geschweige denn in seiner Bedeutung (an)erkannt wird.

„Wie einem völlig unbekannten Mann sollten wir uns ihm nähern und einmal ganz neu erleben, was sichtbar wird. Auch der Anthroposoph, der ‚alles bereits weiß‘, könnte so einmal miterleben, wer eigentlich erscheint, wenn man Rudolf Steiner neu begegnet.“

Vom Denker zum Eingeweihten

Mieke Mosmuller schildert, welche unerhörte Tat Rudolf Steiner bereits in „Wahrheit und Wissenschaft“ vollbrachte: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte verwirklicht ein Mensch denkend das Erkennen des Erkennens – und bringt diese Tat in Worte. Es käme darauf an, nicht einfach darüber hinwegzulesen, sondern dem mit aller Willenskraft nachzufolgen. Was ereignet sich dann? „Man fängt an, das Erkennen zu empfinden als eine Kraft, eine Bewegung, eine sich bewegende Energie, eine Stärke, die sich mit Licht und Liebe erfüllen kann.“

Die von Rudolf Steiner geschilderten geisteswissenschaftlichen Tatsachen beweisen sich dadurch, dass sie in einem selbst lebendig werden können. Blind annehmen muss und soll man die Dinge nicht, und dies wirft auch ein Licht auf die unselige „Rassismus“-Diskussion: „Nur Dogmatiker müssen sich für ihre Dogmen verantworten. Ein freier Mensch braucht sich nicht für Äußerungen eines anderen freien Menschen zu entschuldigen. Er weiß, dass der freie Mensch seine Aussagen tiefer und besser überlegt als der unfreie, und weiß also auch, dass diese freien Aussagen von freien Menschen sehr wohl zu verstehen sind.“

Kurz vor der Jahrhundertwende vertieft sich das geistige Erleben Rudolf Steiners, was er mit den Worten beschreibt: „Das Erleben durch den ganzen Menschen enthält die Geisteswelt in einer viel wesenhafteren Art als das ideelle Erleben“ (aus dem noch die Philosophie der Freiheit geschrieben war). Dieser Umschwung kennzeichnet den Übergang vom Denker zum Eingeweihten. Rudolf Steiner musste sich damals seine Geistanschauung „in inneren Stürmen retten“. In dieser Zeit findet er den Christus – und schreibt „Das Christentum als mystische Tatsache“.

„Ab dieser Zeit ist alles, was Rudolf Steiner lehrt, in diesem Christus-Erleben eingebettet, auch wenn er nicht darüber spricht.“ Um dies zu erkennen, muss „der Leser die Abschnitte meditieren, damit sie sich zum Erleben vertiefen. So findet er, was er sucht – und er weiß von dem Moment an, dass der Verfasser aus dem ‚Gefunden-Haben des Christus‘ heraus geschrieben hat.“ – „Wer sich tatsächlich meditierend mit den Geist-Erkenntnissen Rudolf Steiners einlässt, wächst in ein lebendes, webendes, vielgestaltetes, sich immer tragendes Weltenwort hinein. Man fragt sich dann höchstens erstaunt, wie es möglich ist, dass ein solches Wissen durch einen Menschen hindurchgegangen ist.“

„Das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha (...) wer dies bis in sein Mark zu erleben wagt, für den ist Rudolf Steiner ab jetzt (...) der Meister des Abendlandes.“ Auch über alles andere, was Rudolf Steiner schildert, darf man nicht einfach hinweglesen. „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ ist ein Schulungsbuch. Die zu erübenden Fähigkeiten, die der Eingeweihte hier beschreibt, hat er in Vollkommenheit selbst ausgebildet. Kann man sich dies einmal intensiv vor die Seele stellen, ohne dass sich gleich eine hochmütig-sozialistische Verleugnung dieser Tatsache regen will? Und dann folgt die gesamte „Geheimwissenschaft“ – die umfassende Schilderung des Menschenwesens und Weltenwerdens. Auch hier muss man sich klarmachen, was es bedeutet, dass ein Mensch dies geschaut hat!

Das Versagen der Anthroposophen

Das reine Denken ist nun zugleich die Quelle der Kunst. Rudolf Steiner beginnt, auch hier auf den verschiedensten Gebieten Impulse zu geben. Aber gerade als die Anthroposophie unmittelbar fruchtbar in das Leben eingreift, beginnt sich auch ihre Tragik zu offenbaren, die Mieke Mosmuller in einem ersten „Bitteren Intermezzo“ schildert: Es hätte neben Rudolf Steiner andere Menschen geben müssen, die das reine Denken zumindest in Ansätzen entwickelten. Diese gab es jedoch nicht, und als die Anthroposophie in den Künsten sichtbar und hörbar wurde, verfiel man um so mehr dem äußeren Schein – sowohl die Zuschauer, als auch die Künstlerschaft. Der Geist kann die Formen nur beleben, wenn sie selbst aus einem geistigen, wirklichen Bewusstsein der Form gestaltet werden. Ist dies nicht der Fall, bleibt alles, was in Erscheinung tritt, mehr oder weniger geistlos.

Nach Rudolf Steiners Tod beschleunigte sich diese Entwicklung rasant. Mieke Mosmuller weist darauf hin, dass das Wesen der Dekadenz darin besteht, dass innere Leere sehr wohl noch lange Zeit von äußerem Glanz verdeckt sein kann, sie spricht aber ganz deutlich von einer „Mumie“, die nur der äußerlichen Gestalt nach noch „anthroposophisch“ ist. Wie alles Tote wirkt sie wie Gift und verhindert geradezu das Suchen und Finden der wahren Anthroposophie. Sehr aufschlussreich ist auch der Gedanke, dass eine Frist von 70 Jahren angenommen werden kann, in der das Tote wie traditionell weiterwirkt. Der zunehmende Aufruhr in der Gesellschaft seit Mitte der 90er Jahre ist dann ein Zeichen dafür, dass seitdem immer mehr die reinen dissoziierenden Kräfte wirksam werden. Teilweise versucht man diesen Todesvorgängen zu entgehen, indem man die Anthroposophie „modernisiert“, sich teilweise von Steiner distanziert, neue Wege sucht, neue Propheten hofiert usw. – ohne zu sehen, dass man dadurch nur den Zerfall der Mumie beschleunigt. Diese tote Mumie war es auch, die die „Anthroposophie“ von außen immer als sektiererisch erscheinen ließ, doch alle „neuen Wege“ machen es nur schlimmer...

„Es müsste Menschen geben, die ein innerlich erkraftetes reines Denken entwickelt haben – wodurch es erst ein freies Geistesleben und eine anthroposophische Bewegung geben würde –, die das auf Erden anwesende anthroposophische Gebilde auferstehen lassen könnten. (...)
Die innerlichen Anstrengungen, die man machen muss, um zum reinen Denken zu gelangen, werden viel zu sehr unterschätzt. Es wird schnell gemeint, man habe etwas erreicht, während man erst einen Zehntelschritt gemacht hat. Dann aber kann man auch Rudolf Steiner nie in seiner Lebendigkeit erfassen, denn man formt sich keine hinreichenden Vorstellungen seiner ungeheuren innerlichen Aktivität – und meint gar, es ebenso gut oder noch besser zu wissen und zu können. (...)
Die Eurythmie erregt Schauder nicht wegen einer Furcht vor dem Geist, sondern wegen Furcht vor der Geistlosigkeit. Das sollten die führenden Anthroposophen einmal ernst nehmen!“


Der Brand des Goetheanums war dann die Folge dessen, dass die Mitglieder nicht wach genug waren. Zu Graf Polzer-Hoditz sagte Rudolf Steiner am Tage nach dem Brand: „Wohl wollen sie alles sehen und hören und bei allem dabei sein, aber erwachen wollen sie nicht.“ Dies alles muss man ernst in sich aufnehmen, ebenso wie die Tatsache, dass Rudolf Steiner selbst die Arbeit mit unveränderter, ja gesteigerter Intensität fortsetzte – aus einer ganz anderen Quelle, als es die natürlichen Kräfte sind. Die Gesellschaft aber hatte die Probe nicht bestanden. Ein Jahr später versuchte Rudolf Steiner durch die Tat der Weihnachtstagung, das Ruder herumzureißen. Doch auch da konnten ihm die Mitglieder nicht wirklich innerlich folgen, den von ihm gewiesenen Weg nicht wirklich betreten. Am letzten Tag der Weihnachtstagung erkrankte Rudolf Steiner schwer, neun Monate später brach er zusammen, und ein halbes Jahr darauf starb er. 

Das Dogma der karmischen Verbindung

Die Anthroposophie hatte kein wahrhaftiges Wirkensfeld gefunden, und die Individualität Rudolf Steiners musste sich zurückziehen. Es gibt nun bis heute die Auffassung, Rudolf Steiner habe sich mit der Weihnachtstagung karmisch mit der „Gesellschaft“ verbunden und bleibe es „auf ewig“. Nimmt man aber das oben Gesagte nur ernst genug, kann unmittelbar deutlich werden, dass Rudolf Steiner durch die Tat der Weihnachtstagung natürlich sehr wohl ungeheures Karma auf sich geladen hat, dass aber dieses gedachte „auf ewig“ ein reines Dogma ist – an dem bis heute unzählige Anthroposophen leiden, die in der „Gesellschaft“ nie eine Geistesheimat gefunden (oder das Erleben einer solchen bereits lange wieder verloren) haben. Die Zerrissenheit der tief erlebenden Seele entsteht gerade dadurch, dass der Geist Rudolf Steiners und der Anthroposophie nicht anwesend ist.

Man sollte es wiederum tief ernst nehmen, wenn Rudolf Steiner schon damals sagte: „Natürlich sind die meisten erstaunt, wenn ich von dieser inneren Opposition spreche, weil sie sich ihrer nicht bewusst sind, viele wenigstens. Aber ich möchte sagen: um so schlimmer.“ Und Ita Wegman schrieb nach seinem Tod: „Wir müssen uns zu allererst klar sein, dass die Weihnachtstagung eigentlich kaputt ist, zugrunde gerichtet.“ Sie fügte hinzu, was die bis heute unveränderte Realität kennzeichnet, bis in die „obersten Reihen“: „Leider konnte diese Esoterik von den Menschen nicht verstanden werden. Es wurde alles so hingenommen, als ob es selbstverständlich war und als ob man ein Anrecht darauf hatte.“

Wenn man in der Gesellschaft meint, esoterisch zu arbeiten, so ist dies in der Regel eine Illusion und ein reines Wiederkäuen – ein letztlich intellektuell bleibendes Nachzeichnen ursprünglich tiefer geisteswissenschaftlicher Inhalte oder auch ein Nachsprechen der längst unwirksam gewordenen Mantren der Klassenstunden.

„Als Mantren sind sie nicht nur unwirksam – davor hatte der Meister selbst schon genügend gewarnt: ein Bekanntwerden der Sprüche außerhalb der Hochschule würde diese unwirksam machen –, sondern sind sie sogar schädlich für das gesunde Seelenleben. (...) Aller Streit, alle Konkurrenz, das ganze Machtstreben, das in den Klassenlesern und den Mitgliedern der Hochschule damals lebte, jetzt noch immer lebt, ist in sie hineingetragen worden, ist hineingeflossen. Sie sind von schädlicher Astralität überladen, und wer den Geist in sich erweckt hat, der erlebt es und schaut es letztlich.“


Noch einmal Ita Wegman: „Alle alten Formen, auch die allerletzte Form für die Anthroposophie, sind gründlich kaputt gemacht, und mir kommt es jetzt so vor, als ob man nicht mehr eine Form für das Leben der Anthroposophie zu suchen hat, sondern dass jeder Mensch selber die Form ist, mit der sich Anthroposophie vereinen will.“ 

Wie findet man eine Beziehung zum lebendigen Rudolf Steiner?

Wie findet man Zugang zum Wesen Rudolf Steiners? Auch die großartigen Offenbarungen Rudolf Steiners in Form seiner Werke und Vorträge sind – Offenbarungen seines Wesens und der geistigen Welten. Wie aber findet man eine Beziehung zu diesem Wesen selbst? In diesem zweiten Teil schildert Mieke Mosmuller, wie angesichts dieser Frage auch das reine Denken ohnmächtig an der eigenen Erkenntnisgrenze verharren muss, weil es noch nichts rein Geistiges außerhalb seiner selbst erkennen kann.

Es kommt in diesem wahrhaftigen Ringen dann aber doch eine Antwort. Sie kleidet sich in das Gewand bereits errungener Erkenntnise, die sich unerwartet neu gliedern. Und nun entfaltet Mieke Mosmuller Zusammenhänge, die im mitdenkenden Leser ebenfalls eine Ahnung von dem Entwicklungsweg des großen Eingeweihten über mehrere Inkarnationen hin aufsteigen lassen. Man kann mitdenken und mitempfinden, wie dieser Meister des Abendlandes in einer früheren Inkarnation jener Heilige Philosoph war, der als tief frommer Mönch schon damals das Denken auf die höchsten Höhen führte und mit der Frage rang, wie dieses vollkommen durchchristet werden könne. Und wie er in einer noch früheren Inkarnation jener Philosoph gewesen ist, der das menschliche Denken überhaupt begründete, der das Denken als menschliche Tätigkeit errang.

Dieses ganze Kapitel hat nichts mit gewöhnlichen „karmischen Betrachtungen“ zu tun, in denen frühere Inkarnationen benannt und durchgegangen werden. Nein, es wird auf behutsamste und ehrfürchtige Art gezeigt, wie diese einzigartige Individualität die Früchte ihrer Entwicklung jeweils aufgegriffen und auf immer höhere Stufen geführt hat – für die ganze Menschheit. Auf diese Weise eröffnet sich eine weitere Ahnung, wer dieser Mensch wirklich war.

In Rudolf Steiner ist das Denken auferstanden, er hat die menschliche Intelligenz in ihrem wahren Wesen selbstbewusst ergriffen. Auch alle Erkenntnisse früherer Einweihungen können nun auferstehen. Aus den Schilderungen von Mieke Mosmuller wird deutlich, wie eng diese Individualität immer schon mit jener kosmischen Macht verbunden ist, die Michael genannt wird. Wie sie nun in dieser Inkarnation das reale, schaffende Weltenwort selbst in auferstandener Gestalt wiederfand, weil es in ihre Intelligenz einziehen konnte...

Im ersten Teil hatte sich Mieke Mosmuller Rudolf Steiner über seine Werke, seine Taten genähert. Jener erste Teil findet nun in diesem rund 30 Seiten umfassenden zweiten Teil des Buches eine großartige Steigerung. Es ist eine wahrhaftige Annäherung an das Wesen Rudolf Steiners, hervorgehend aus einem tiefen Erkenntnisstreben, voller Verehrung und frei von jedem Belehrenwollen, jeglichem Verkündenwollen großartiger Erkenntnisse, nur geleitet von dem Wunsch, dieser einzigartigen Individualität gerecht werden zu können.

Rudolf Steiners Wirksamkeit heute

Im Hauptkapitel des dritten Teiles schildert Mieke Mosmuller „die Wirksamkeit der Individualität Rudolf Steiners heute“. Zuvor setzt sie sich mit dem entgegengesetzten Blick auseinander: dem Blick in die Vergangenheit. In furchtbarster Weise ist dieser in den Filmen zu empfinden, die kürzlich über Rudolf Steiner entstanden sind. Jeder dieser Filme „legt nur eine Verkörperung unter ein Vergrößerungsglas und lässt sie zur bleibenden Form erstarren.“ Aber auch die Anthroposophen sind diesem Blick allzu sehr verhaftet. Mieke Mosmuller macht ganz deutlich, dass mit dem Tode Rudolf Steiners auch sein Name Vergangenheit ist: „Er war Rudolf Steiner bis zum Tod. Als er aber in seine geistige Heimat zurückkehrt, ist der Name Bezeichnung einer der vielen Verkörperungen geworden. Das ist das erste, was wir uns gut merken sollten. ‚Rudolf Steiner‘ wird oft als eine Art Besitz der Gesellschaft genommen, als Eigentum der Anthroposophen.“

„Wenn wir jetzt, 83 Jahre nach Rudolf Steiners Tod, über ihn denken wollen, müssen wir ihn noch viel größer zu sehen wagen, als er als Rudolf Steiner war. Denn er ist nicht mehr ‚Rudolf Steiner‘, kein Mann, keine Frau. Er ist das Wesen, das die menschliche Intelligenz retten muss, sie für die Götter erhalten muss.“

„So wie ein Mensch wie Rudolf Steiner seine Intelligenz den göttlichen Wesen zur Verfügung gestellt hat (...), so stellt die nicht im selbstbewussten Erkennen lebende Menschheit ihre Intelligenz den ahrimanischen Wesen (...) zur Verfügung. Das geht von selbst, sie drängen sich hinein, fliehen nur vor einer sich selbst erkennenden Intelligenz. (...) Die ‚Artificial Intelligence‘ also, die Atomtechnik, die Umwelttechnik, aber auch die Schulmedizin, die Politik, sie alle sind Diener dieser Wesen.“

Mieke Mosmuller nähert sich der Tätigkeit Rudolf Steiners nun mit dem Begriff der Liebe – und auch dieser Aspekt kann nicht tief genug empfunden werden:

„Die Selbst-Erkenntnis muss geopfert werden an das Andere, das einen dann aber mit der Seligkeit der anderen Existenz erfüllt. (...) Das tatsächliche Erleben der Existenz des anderen schenkt dann die Idee zur sinnlichen Tat, die moralische Intuition. Dieselbe Liebe, die im Erleben des anderen Daseins lebte, wird nun zur Tat, die dann ebenfalls um ihrer selbst willen geliebt wird. (...) Der Geistesforscher musste jene Liebe, die das Selbst-Opfer darstellt, indem das Selbst sich in das Andere verwandelt, in die Erkenntnis hineinbringen. Da erst ‚führt Michael zu Christus‘.

Man sollte sich tief mit dieser Devotion auseinandersetzen, sie zu erleben versuchen, sie nachahmen wollen, sie in sich züchten wollen. Erst wenn wir uns damit durchdrungen fühlen, gibt es eine Möglichkeit, die Liebefähigkeit Rudolf Steiners zu verstehen.“

Die Autorin fährt fort mit dem Hinweis, dass sowohl das Wesen Rudolf Steiners als auch die Anthroposophie selbst sich weiterhin lebendig entwickeln. Sie beschreibt, wie man eine Beziehung zu Rudolf Steiner finden kann und von seinem Wesen Hilfe und Antworten auf seine Fragen bekommen kann. Und sie deutet an, wie man die lebendige Anthroposophie finden und in ihr lesen lernen kann – was sie ausführlicher in ihrem Buch „Der Heilige Gral“ beschrieben hat. All dies ist nur möglich, wenn man selbst das reine Denken erreichen kann und dieses immer weiter entwickelt. Die vielfältigen Stellen, an denen Mieke Mosmuller dies immer wieder betont, sind eine klare Absage an den verbreiteten Glauben, „Anthroposophie“ treiben zu können, ohne dieses reine, lebendige Kraft-Denken als Fähigkeit errungen zu haben.

Scheidung der Geister: Innere Gegnerschaft und das Wesen der Wahrhaftigkeit

Im vierten Teil setzt sich Mieke Mosmuller mit der Gegnerschaft der Anthroposophie auseinander (vor allem der inneren!) und schildert das Wesen der für den wahren Anthroposophen unabdingbaren Wahrhaftigkeit. Das Buch schließt mit einem ausdrücklichen Kapitel über den lebendigen Rudolf Steiner und persönlichen Worten der Autorin.

Auf drei Arten innerer Gegnerschaft richtet Mieke Mosmuller den Blick. Die erste Art richtet sich gegen das Wesen der Geist-Erkenntnis, indem sie bei einer Verstandes-Erkenntnis stehen bleibt. Autoren wie Renatus Ziegler („Intuition und Ich-Erfahrung“) setzen sich scharfsinnig mit der „Philosophie der Freiheit“ auseinander, bleiben aber dem Verstandesdenken verhaftet. Dies zeigt sich z.B. daran, dass sie die Worte ‚ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten‘ (3. Kapitel) verabsolutieren. Mieke Mosmuller macht deutlich, dass die Entwicklung des reinen Denkens mit der Erfahrung einhergeht, dass diese Beobachtung doch möglich ist – und dass es ohne dieses Erleben überhaupt keine Anthroposophie gibt, weil ihr Wesen gerade die Entwicklung des schauenden Bewusstseins ist.

Die zweite Gegnerschaft, die die Autorin betrachtet, richtet sich gegen die Entwicklung an sich. Hier zielt sie auf die seltsamen Vorstellungen, die der Info3-Kreis von Anthroposophie hat, wie sie sich ausführlich in Sebastian Gronbachs im Frühjahr erschienenen Buch „Missionen“ offenbaren. Die ‚Ich-bin‘-Erfahrung des jungen Steiner wird als Wesen seiner Einweihung gesehen, die späteren geisteswissenschaftlichen Schilderungen als bildhafte Darstellung für seine Anhänger, die überlieferte Bilder wie „Michael“ und „Christus“ brauchten. Einweihung bestehe in der All-Eins-Erfahrung, in der wir auch erkennen, dass „der eine Geist“ sich individuell inkarniere und nach dem Tod wieder in den einen „MENSCHEN“ zurückkehre. Wirkliche Individualität und ihre Entwicklung, die unendlich vielfältige geistige Wesenswelt, die Tat und das Wesen des Christus – alles wird geleugnet, als „Erzählung Steiners“ herabgewürdigt. Damit wird zugleich die Entwicklung Steiners geleugnet, der sich Mieke Mosmuller in den Kapiteln des ersten Teils ausführlich genähert hat.

Die dritte Gegnerschaft richtet sich ebenfalls gegen das Christliche in der Anthroposophie, nun jedoch gerade dadurch, indem sie es völlig verzerrt verkündet. Hier bezieht sich Mieke Mosmuller auf Judith von Halle, die mit ihren viel zu sinnlichen Schilderungen und „Offenbarungen“ das wahre Erleben des Christus in unserer Zeit geradezu verhindert. Mit Judith von Halle hat sich die Autorin ausführlich in ihrem im Februar erschienen Buch „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ auseinandergesetzt. Darin weist sie für jeden mit-denkenden Leser sehr klar nach, wie die Werke von Judith von Halle nichts mit Geisteswissenschaft und esoterischem Christentum zu tun haben. Dass in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ in einem Bericht über die Pfingsttagung zum Christus-Impuls Judith von Halles Vortrag der „Höhepunkt der Tagung“ genannt wird, spricht eine deutliche Sprache in Hinsicht darauf, wie es um das Verständnis für das Wesen der Anthroposophie bestellt ist...

Von Wahrhaftigkeit, Abstraktion und Scheinheiligkeit

Ein zentrales Kapitel in bezug auf die heutige Situation der Anthroposophie und ihres toten, finsteren Gegenbildes, dem man denselben Namen gibt, ist dann das folgende: „Der Weg zur Wahrhaftigkeit“. Es schildert den Maßstab, an dem sich entscheidet, ob etwas Anthroposophie, ob jemand Anthroposoph ist oder nicht.

„Ohne Wahrhaftigkeit gibt es keine Möglichkeit, sich zur geistigen Welt zu erheben, und wer bewusst über die Schwelle zur geistigen Welt geschritten ist, konnte das dank seiner Wahrhaftigkeit.“

Mieke Mosmuller unterscheidet zunächst drei Arten der Wahrhaftigkeit: Wahrhaftigkeit des Begierdenlebens („Tu was du willst“), des Gefühlslebens („authentisch sein“) – und dann die entscheidende, meist völlig fehlende Wahrhaftigkeit im Denken. Das alltägliche „Denken“ in Meinungen, Urteilen, persönlichen Erinnerungen und praktischen Gedanken ist eigentlich nur ein gedachtes Fühlen und Wollen.

„Die Wahrhaftigkeit im Denken tritt erst ein, wenn es zwischen dem Denker und dem Gedachten keine Distanz mehr gibt. Gibt es diese Distanz, dann hat man es entweder mit Abstraktion zu tun, oder mit Unwahrheit (bewusste oder unbewusste Lüge oder Irrtum).“ Diese tief ernste Wahrhaftigkeit ist in der Anthroposophie aber „Grundbedingung, Merkmal ihres ganzen Wesens. Hat man sie nicht und will man sie auch gar nicht entwickeln, dann ist Anthroposophie eine Unmöglichkeit, ein Widerspruch mit dem tieferen Wollen, das dann eigentlich ein Nicht-Wollen ist.“

Die volle Bedeutung dieser Grundbedingung zeigt sich zum Beispiel angesichts der Versuche, sich von manchen „Äußerungen“ Rudolf Steiners zu distanzieren, oder auch angesichts von „wunderbar esoterischen“ Vorträgen, in denen man aber fühlt, der Redner spricht über etwas, er spricht nicht voll und ganz sein Eigenes aus, es bleibt die Distanz. Und dann ist da der ganze Bereich des Umgangs miteinander, der Außenstehende mit Recht so furchtbar abstößt:

„Es ist die realisierte Unwahrhaftigkeit, wenn Vorstandsmitglieder einer Gesellschaft, die der Anthroposophie dienen soll, das Vertrauen in deren Gründer öffentlich aufgeben. (...)

Die Unwahrhaftigkeit selbst jedoch beginnt schon da, wo Anthroposophie vom Abstrakten her ‚behandelt‘ wird, statt sich von innen nach außen wahrhaft zu entfalten (...) Das Denken der anthroposophischen Wahrheiten muss immer mit dem Innersten der Menschenwesenheit verbunden bleiben, darf sich nie davon loslösen. (...) Die Gedanken dürfen nie Phrase werden, werden es jedoch, die aus den Gedanken geschöpften Verhaltensweisen nie zur Konvention, es besteht aber ein ganzes System ‚anthroposophischer‘ Konventionen, und die Taten, welche auch immer, nie zur Routine, diese findet sich jedoch im ganzen ‚anthroposophischen‘ Tatenleben (Vorbereitungsgruppen, Jahresfeste, Tagungen, Konferenzen, Zweigabende, usw.).


Abstraktes Wissen („Ätherleib“, „Reinkarnation“, „Christus“) wird zu geistlosem Dogmatismus. Vor sich her getragenes „Anthroposophentum“ – sei es das immer nette Lächeln, sei es das subtil-hochmütige „tief-in-der-Anthroposophie-Stehen“ oder das „ungeheuer-initiativ-und-esoterisch-Sein“ – ist eine furchtbare Lüge. Mieke Mosmuller schreibt dazu: 

„Denn Wissen, das man nicht vollkommen mit seiner eigenen innersten Wesenheit verbunden hat und trotzdem annimmt, ist dogmatisch. (...) Es wird eine Art ‚Universalie‘, die für jeden in gleicher Weise und in gleichem Maße gelten soll. Dieses Wesen geht in der Gesellschaft unter den Menschen herum, beeinflusst sie, verwandelt sie. (...)

Man braucht nur die Fotos von Anthroposophen zu sehen, und man sieht dieses Wesen, fast in jedem abgebildet. (...) Das einzige Vollkommene, das sie haben, ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Sie werden aber dazu verführt, sich dieser Vollkommenheit ähnlich fühlen zu wollen, nachdem man sich in welcher Weise auch immer damit beschäftigt hat. Das hat diese furchtbare Schein-Heiligkeit herbeigeführt, die alle Lebendigkeit abtötet. Man wagt es doch nicht, auch nur einen Schritt aus sich heraus zu machen – denn dann fühlt man sich als ein Egoist, subjektiv, emotional, persönlich...“

Der reale Geist wird nicht entwickelt, stattdessen wird die Persönlichkeit unterdrückt, was die Selbstbezogenheit aber gerade verstärkt:

„Dieses Unterdrücken führt dann zu einer Gesellschaft lauter unechter Menschen, die sich mit dem gewöhnlichen Selbst gleichsam außerhalb von sich selbst stellen – sie werden dazu gezwungen, weil sie fortwährend nach allerlei ‚anthroposophischen Kriterien‘ beurteilt werden – und dann gerade in eine furchtbare Selbstbezogenheit hineingeführt werden, die alle Liebe tötet. In der Liebe vergisst man ja seine Persönlichkeit, mit dem Risiko, dass sie sehr, sehr sichtbar wird...“

Der lebendige Rudolf Steiner

Die Grundtragik der Anthroposophie heute ist, dass so furchtbar wenig Menschen auch nur die eine „goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften“ befolgen, die Rudolf Steiner in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ gibt: „Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.“

Manche Menschen arbeiten in stiller Bescheidenheit an ihrem Charakter, vernachlässigen aber die Entwicklung ihrer Erkenntnisfähigkeiten. Manche Menschen vertreten die anthroposophische „Lehre“ intensiv nach außen, vernachlässigen oder missachten aber die energische Selbstverwandlung. Die meisten Menschen vernachlässigen beides. Sie machen allenfalls hier oder dort einen Zehntelschritt, wie es sich eben ergibt, die Anthroposophie läuft letztlich – welchen Stellenwert sie vordergründig auch haben mag – „neben dem Leben her“.

In ihrem Schlusskapitel macht Mieke Mosmuller noch einmal ganz klar, dass man sich dem Wesen Rudolf Steiners und der Anthroposophie nur nähern kann, indem man diese verwirklicht – in harter, fortwährender Arbeit.

„Für mich war das seit dem ersten Satz Rudolf Steiners, den ich las, klar: Dies ist nicht nur eine Erkenntnisaufgabe, man muss sich selbst verwandeln wollen, und im Werk Rudolf Steiners liegt der Leitfaden dazu. Es muss ein Streben nach Heiligkeit da sein, aber mit dem vollen Bewusstsein, dass diese nicht unmittelbar erlangt werden kann, sondern erst entlang eines langen Weges.“

„Den lebendigen Rudolf Steiner finden wir in diesem einzigartigen ‚Dreh- und Angelpunkt‘, wo die ganze Erkenntnisfähigkeit erkannt wird, wo die menschliche Fähigkeit, Sinnvolles zu erleben, erweitert wird um das Objekt der Erkenntnisfähigkeit selbst. Das Sinnvolle, die sinndurchdrungene Tätigkeit des Erkennens wird hier erkannt – und das ist der Sinn des Mensch-Seins, die Verwirklichung, die Geburt des Geistes, Ausgangspunkt für selbstständige Geist-Erkenntnis. (...)

Er ist noch immer da, er ist nicht tot. Er kann auch tatsächlich wirksam sein, wenn seine Schüler die Anthroposophie realisieren. Das bedeutet viel mehr, als eine Verwaltung der Erkenntnisse und der Künste. Das würde bedeuten, dass es immer mehr wirkliche freie Individualitäten gäbe, die Wärme und Verständnis ausstrahlen würden. Dann könnte die öffentliche Meinung nicht zweifeln an der Güte und Menschenliebe dieses Geisteslehrers, denn man würde an den Früchten den Baum erkennen. (...)

Den lebendigen Rudolf Steiner findet man nicht in Zitaten oder Anekdoten. Er lebt in der Begabung, die Welt als von Sinn durchdrungen zu erkennen, sich selbst als Sinn-erkennend zu erkennen; das Durchforschen und Erleben dessen lässt uns den Geist in uns selbst spüren, immer stärker und stärker, bis er sich zur geistigen Welt differenziert und verdichtet.“

Und in ihren abschließenden persönlichen Worten schreibt Mieke Mosmuller:

„Nun, nach 24 Jahren des ‚Zusammenlebens‘ mit dem Nachlass Rudolf Steiners und intensiver Nachfolge seiner Anregungen (...) fesselt mich noch immer jede Zeile, (...) beweist sein Werk noch täglich die unerschütterliche Wahrheit, weil alles nachvollziehbar ist, nicht nur als Erkenntnis, sondern vor allem in dem Verwirklichen der beschriebenen Erkenntnis-Stufen, das auch zum wirklichen, lebendigen Rudolf Steiner führt.“


Wenn sie dann das Buch mit dem Satz beendet: „Im Bewusstsein der Unvollkommenheit dieser Darstellung, in tiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit für diesen Meister des Abendlandes geschrieben“, zeigt sich in diesem einen Satz nochmals die ganze Signatur des Buches. Und trotz dieser Unvollkommenheit, die die Autorin fühlt, muss gesagt werden: Es gibt kein Buch, das dem Wesen Rudolf Steiners näher kommt und die Tragik der Anthroposophie heute klarer und wahrhaftiger beschreibt als dieses.