2008
Was ist Wahrheit – was ist Anthroposophie?
Dieser Aufsatz beruht auf einer weiteren Korrespondenz zu folgenden Fragen: Kann man nicht Mieke Mosmuller und Judith von Halle würdigen statt in einen Entweder-Oder-Dualismus hineinzugeraten? Sind irrende Anthroposophen Gegner der Anthroposophie? Gibt es nur einen Weg zur Anthroposophie?
Die zentralen Fragen sind tatsächlich immer: Was ist Wahrheit? Steht diese fest? Was ist Anthroposophie? Gibt es hier nur einen Weg? Und so weiter.
Die Frage: Steht die Wahrheit fest? hat ja mehrere Bedeutungen: für mich als nach Erkenntnis ringenden oder absolut? Nach dem, was Steiner gesagt hat, kann man sich zur Wahrheit erheben, wobei die gesamte Wahrheit natürlich so umfassend ist, dass man sie niemals in ihrem gesamten Umfang erkennen kann. Das gilt nicht für einzelne Fragen. In allen einzelnen Fragen – Wahrheitsfragen – kann man sich zu einer vollgültigen Erkenntnis erheben. Und wenn die Erkenntnis wirklich da ist, dann ist sie auch da.
Was ist überhaupt Dualismus?
Es ist doch geradezu eine Grundbedingung der Anthroposophie, urteilsfähig zu werden? Hier muss man nun zunächst den Dualismus-Begriff untersuchen. Heißt es Vermeiden des Dualismus, wenn man alle „mit ins Boot nimmt“, die sich als Anthroposophen bezeichnen – bis hin zu einem Gronbach, vielleicht sogar einem Zander, der sich ja hervorragend „auskennt“? Oder warum Zander nicht? Nur weil er sich selbst auf keinen Fall als „Anthroposoph“ bezeichnen würde, sich aber dennoch in den Fakten scheinbar besser auskennt als jeder Anthroposoph? Ist Anthroposophie eine Frage des Anthroposoph-sein-Wollens, und die anderen haben das eben anzuerkennen?
Die Welt war noch verhältnismäßig einfach, als Rudolf Steiner die Anthroposophische Gesellschaft begründete und leitete und alle aufgenommen wurden, die darin „etwas Berechtigtes sehen“. Nun treten heute Menschen mit unterschiedlichsten Ansätzen, Erfahrungen etc. auf – und alle behaupten, das wäre (auch) Anthroposophie. Kommt man in einen Dualismus hinein, wenn man hier urteilt?
Es war doch durchaus so, dass Rudolf Steiner selbst auch verschiedene Strömungen des damaligen Geisteslebens scharf angegriffen hat – ja dass er die Anthroposophen selbst des öfteren scharf kritisiert hat, weil sie nicht verstanden und nicht verwirklichten, was Anthroposophie sein sollte. War er dann Dualist? Oder hatte er die Wahrheit der Anthroposophie vor Augen und war demzufolge urteilsfähig und hat ausgesprochen, was er erkannte?
Dualismus heißt doch nichts anderes als: aufgrund falscher Urteilsgrundlagen falsche Unterscheidungen machen. Der Begriff weist auf die Gefahr falscher Urteilsgrundlagen hin, nimmt aber nichts fort von der Notwendigkeit zu urteilen!
Vom Streben und der Verantwortung
Soll man nun Fehler benennen, aber dies nur wohlwollend tun, weil man sonst den Menschen bzw. sein Streben nicht würdigen würde?
Nun, es wäre schön, wenn man Judith von Halle als strebenden Menschen wahrnehmen könnte (sei es in ihren Büchern oder in ihren Vorträgen). Mir scheint jedoch, dass sie mehr und mehr als „Wissende“ auftritt, sich als Eingeweihte darstellt, die – wie man durch die Stigmata erkennen kann – vom Auferstehungsleib Christi durchdrungen ist. Was wäre das schon für eine Behauptung! Da hört ja die Notwendigkeit des Strebens geradezu fast auf, denn es ist ja schon alles erreicht... Also zum einen ist es eine enorme Fragestellung an das eigene Urteilsvermögen, wie man sich zu so einer Behauptung stellen soll. Zum anderen ist da eben dieser Mangel an Ehrfurcht, mit dem Judith von Halle über höchste Dinge spricht, in Vorträgen offenbar sogar noch salopper als in ihren Büchern. Man wird dagegen in allen Büchern von Mieke Mosmuller finden, wie sie auf die Unvollkommenheit und das Unzureichende ihrer Ausführungen hinweist – die sie nur niederschreibt, weil niemand anders es tut.
Man kann sehr wohl ein ehrlich irrender Mensch sein – aber dann muss man sich, wenn es um die Anthroposophie geht, auch seiner Verantwortung bewusst sein und sich für seinen Irrtum auch scharf beurteilen lassen – um so schärfer, je mehr Verwirrung und Verdunkelung man mit seinen Irrtümern ausgelöst hat und auslöst. Mir fällt in diesem Zusammenhang das Bild des Christus im Tempel ein. Hatte er „Verständnis“ für die Wechsler, die vom wahren Gottesdienst keine Kenntnis nehmen wollten, oder hat er nicht vielmehr rücksichtslos die Tische umgeworfen und die Frevler aus dem Tempel getrieben?
Dem entspricht folgende Stelle aus Mieke Mosmullers Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ (S. 245), wo sie schreibt, man könne auch diese oder jene Dinge genießen... „man darf sie nur nicht gleichstellen mit der reinen Anthroposophie, oder sie sogar höher stellen wollen als die reine Anthroposophie.“! Das trifft nun genau auf Judith von Halle, auf Muschalle usw. zu. Man darf eben nicht glauben, dass es hier um die wahre Anthroposophie gehe! Und weil das behauptet wird, darf man die entsprechenden Ausführungen in dieser Hinsicht nicht einmal genießen (Mieke Mosmuller sprach in dem Zitat von großen Kunstwerken!), sondern muss entschieden urteilen und die Behauptung, es wäre wahre Anthroposophie, entschieden bekämpfen.
Man muss in unserem Zeitalter des Diskurses und der Toleranz eben erst einmal den Mut (wieder neu) aufbringen, die Wahrheit selbst höher zu stellen als selbst das ehrliche Ringen von Menschen. Denn wonach ringen denn die ehrlich Ringenden? Nach der Wahrheit! Heute will man allerorten niemandem Unrecht tun. Aber ich tue der Wahrheit selbst Unrecht, wenn ich niemandem „Unrecht tun will“ und darüber die Wahrheit vergesse bzw. verfehle, weil ich es verfehle, vor allem anderen um meine eigenen Urteilsgrundlagen in bezug auf die Wahrheit zu ringen! Die Wahrheit liegt nicht in der Toleranz, sondern in der Wahrheit. Erst von der Wahrheit aus kann man Verständnis für das Irren als solches haben, muss es um der Wahrheit willen aber dennoch beurteilen (nicht: verurteilen!). Verurteilt werden muss jedoch der selbstüberzeugte Hochmut, mit dem man als Irrender seine Irrtümer und Halbwahrheiten in die Welt setzt und als Anthroposophie (und damit die Anthroposophie selbst) verkauft. Damit ist noch immer nicht der Mensch selbst verurteilt, sondern nur die Tatsache als solche.
Irrtum und Gegnertum
Nun sind wir wieder bei der Frage nach der Wahrheit. Von welchem Standpunkt aus kann man denn urteilen?
Die Antwort gibt sich in einem ersten Schritt eigentlich fast von selber. Urteilen kann man nur als denkender Mensch. Man muss also das Denken entwickeln – in einer Richtung, in der es sein wahres Wesen entfaltet. Schon Steiner wies immer wieder scharf darauf hin, dass heute jeder meint, er könne ja denken! Und genauso meinen diejenigen, die ihr intellektuelles Denken noch ein wenig mehr geschult haben, sie wären nun mittendrin im reinen Denken der Anthroposophie. Das sind die zentralen Irrtümer der damaligen und der heutigen Zeit, die den Blick auf die wahre Anthroposophie völlig verstellen! Dabei hat Rudolf Steiner immer wieder betont, wie entscheidend dieses reine Denken dafür ist, die Anthroposophie zu verwirklichen – wie es das entscheidende Nadelöhr für und der entscheidende Übergang zu einem wirklichen Erleben der geistigen Welt ist.
Sind nun irrende Anthroposophen Gegner der Anthroposophie? Ja und Nein. Nein vom persönlichen Standpunkt, denn sie sind ja (hoffentlich) immer weiter ringende Menschen, die auf diesem Wege dann früher oder später ihre Irrtümer erkennen werden. Ja vom Standpunkt der Wahrheit, insofern sie nicht privat in ihrem kleinen Kämmerlein ringen, sondern ihre „Wahrheiten“, d.h. Irrtümer in die Welt setzen. Nehmen Sie das Geschehen wirklich einmal real und objektiv: Was tun die Irrtümer? Sie bekämpfen geistig-real die wahre Anthroposophie. Und die irrenden „Anthroposophen“ sind die Träger dieser Irrtümer, setzen sie in die Welt. Deshalb ist die Verantwortung ja so groß! Je größer die Wahrheit, um die es geht, desto größer ist die Verantwortung derer, die in ihrem Namen handeln. Nicht umsonst hat Rudolf Steiner immer wieder betont, dass er Dinge nur ausgesprochen hat, wenn er sich von ihrer Wahrheit durch und durch überzeugt hat. Wie halten es die „Anthroposophen“ damit heute?
Die Grundbedingung der Geistes-Wissenschaft
Zu einem wahren Urteil kommt man also nur über das Denken, wenn man es wirklich zu einem Organ für die Wahrheit macht. Und das reine Denken ist das Nadelöhr zur geistigen Welt. Rudolf Steiner hat tatsächlich keinen Weg in die geistige Welt angegeben, der nicht dieses reine Denken zur Voraussetzung hat. Wohin man dann tatsächlich und real kommen kann und warum dort die wahre Anthroposophie erst anfängt, das können sie an Mieke Mosmullers Büchern „Suche das Licht, das im Abendlande aufgeht“ und „Der Heilige Gral“ erleben. Es gibt im Grunde keinen anderen Weg als ein Verständnis bzw. Erleben des in diesen Büchern Gesagten, wenn man beurteilen will, was die Urteilsvoraussetzungen von Mieke Mosmuller sind und ob sie Recht hat. Wenn man diese Bücher aber gelesen hat und auf sich wirken lassen konnte, dann kann man nur staunend davor stehen, dass wirklich ein Mensch diesen von Rudolf Steiner beschriebenen Weg so weit gegangen ist. Und es ist eben keine Zuspitzung, sondern offenbar traurige Realität, dass niemand sonst diesen Weg bisher (so weit) gegangen ist.
Damit geht natürlich einher, dass man die daraus erfließenden Erkenntnisse nicht wahrhaben will. Man sagt dann: Es muss doch auch andere Wege geben! Auch Muschalle und andere kultivieren doch das reine Denken! Judith von Halle ist mit ihren wunderbaren Erkenntnissen doch genauso eine strebende, ja hervorragende Anthroposophin! Selbst ein Gronbach will doch nichts anderes, als das Leben der Anthroposophie entfalten!
Das alles kann man aus all seinen Vorurteilen heraus ja gerne meinen – es hat nur mit der Wahrheit nichts zu tun. Es ist einfach nur die eigene Sehnsucht, dass der eigene Standpunkt und die Ausführungen anderer Menschen, die man als wertvoll empfindet (oder einfach nur in ihrem Streben würdigen will), doch Anteil an der wesenhaften Anthroposophie haben mögen. Mit anderen Worten: Man erträgt es nicht, zu irren – grundsätzlich zu irren.
... und die Konsequenzen
Anthroposophie ist ein Erleben des Geistes – ein reales und immer realer werdendes Erleben. Wer sich auf diesen Weg wirklich begibt, der muss auch die Fähigkeit haben, anzuerkennen, welche Menschen ihm auf dem wahren Weg voraus sind. Und er muss erkennen, welche Menschen andere Erfahrungen haben, die nicht auf dem Weg und der Basis des reinen Denkens erworben wurden und damit prinzipiell irrtumsanfällig, ja irrtumsbehaftet sind – Teilwahrheiten oder Unwahrheiten darstellen und niemals zur Anthroposophie als Geistes-Wissenschaft gehören können.
Hier ist der Dualismus voll berechtigt, weil es um die Entscheidungsfrage geht: Geistes-Wissenschaft ist nur auf der Grundlage des reinen Denkens möglich. Ist diese Grundlage eine verwirklichte, lebendige Fähigkeit, kann man von Geistes-Wissenschaft oder wahrer Anthroposophie sprechen, sonst nicht. Alles andere ist bestenfalls ein Streben nach Anthroposophie und muss dann auch anerkennen und zugeben können, dass es ein Streben ist und wo es sich (noch nicht) befindet.
Man muss dieses reine Denken und das rein geistige Erkenntnis-Weben selbst noch nicht verwirklicht haben, um verstehen zu können, worauf es ankäme – und um erkennen zu können, dass man es noch nicht verwirklicht hat. Wenn man dies aber versteht, dann weiß man auch, dass Judith von Halle mit ihren sinnlichen Schilderungen – die nichts mit Imagination zu tun haben! – (etwa von Elohim, die das Ätherische von Hautfetzen, Blut und Schweiß des Christus aufsammeln usw.) absolut keine wahrhaft geistigen Erkenntnisse hat und einen Weg geht, der nicht Anthroposophie genannt werden darf. Und man weiß dann auch, dass ein solches reines, lebendiges Denken so real werden kann, dass es zu einem Erleben der Wahrheit selbst wird. Es ist dann dieses Wahrheitserleben, dass sich aus sich selbst heraus gegen eine Vorstellung wie die des ein Lamm schächtenden Christus wehrt – weil es eine Lüge ist.
Die Kernfrage also ist: Was ist mir am wichtigsten? Die Wahrheit oder etwas anderes? Und wenn es die Wahrheit ist: Kann ich aus den Schilderungen Rudolf Steiners oder Mieke Mosmullers (an)erkennen, was mit dem reinen, lebendigen Denken und damit mit Geistes-Wissenschaft überhaupt gemeint ist?
Wenn ich dies kann, dann verstehe ich auch, warum das erstere eine Voraussetzung für die wahre Anthroposophie ist – und erkenne zugleich, dass es heute eigentlich noch von niemandem verwirklicht ist!