2008
Zu den „infoseiten anthroposophie Herbst 2008“ von info3
Letzter Abschnitt veröffentlicht im "Europäer", Dezember 2008 (unter dem Titel "Anthroposophie als williges 'Mädchen für alles'?").
In den "infoseiten anthroposophie Herbst 2008" sprechen Ramon Brüll (info3) und Sebastian Jüngel (Das Goetheanum) über Situation und Perspektiven der anthroposophischen Medien. Die merk-würdigsten Aussagen seien hier vorgestellt und kommentiert.
- Mangelndes Verständnis – bei wem?
- Das Goetheanum und info3 auf Du und Du
- Wo der Geist weht – oder sein Zerrbild
- Liebevoll-kritisch???
- Zeitgemäßes Vertreten der Anthroposophie?
- Was ist innen ... was ist außen?
- Anthroposophie bei Nicht-Anthroposophen?
Mangelndes Verständnis – bei wem?
Ramon Brüll kommt in seinem Vorspann „Liebe Leserin, lieber Leser“ schon im zweiten Absatz zu folgender zentraler Feststellung:
„Einige Leser der infoseiten, die ja fast allen anthroposophischen Zeitschriften beiliegen, haben offenbar größere Schwierigkeiten damit, Widersprüche zu akzeptieren. So gab es Leser, die unseren Autoren – und zwar in einem Atemzug Rüdiger Sünner und Bodo von Plato – unterstellen, Anthroposophie „nicht zu verstehen“, geschweige denn, um Verständnis bemüht zu sein. In vereinzelten Zuschriften war von „unausgewogenen Ansichten“ die Rede, gar von einer „Angriffskampagne gegen die Anthroposophie“, und von der üblen Art, wie info3‑Redakteure „mit der Anthroposophie umspringen“. [...] Könnte man nicht einmal ganz unbedarft, vielleicht sogar mit einem Hauch von positivem Interesse, hinhorchen oder herauszulesen versuchen, mit welch‘ andersgeartetem, aber eigenem Ernst heutige Zeitgenossen Steiner aufnehmen, mit Steiner leben und arbeiten? Wie Anthroposophie, vielleicht etwas verspätet, zum Sprung ins 21. Jahrhundert ansetzt?
Als ich Einsicht in die zitierten Zuschriften bekam, glaubte ich eine rückwärtsgewandte Zeitreise zu träumen. Diese Intoleranz, diese felsenfeste Überzeugung, nur die eigene Meinung gelten lassen zu dürfen, war das nicht einmal? Früher? Doch nicht in der Jetztzeit! Leben denn überhaupt noch Menschen, die so denken und empfinden? Ich musste mich belehren lassen: sie seien, versicherte mir ein anderer Kollege, noch nicht einmal auf dem Wege auszusterben. Sie wachsen nach. Tatsächlich, ich hätte es fast übersehen: besagte Zuschriften atmeten den Dunst der guten alten Schreibmaschine, waren aber mit Computer geschrieben, und mit aktuellem Datum versehen!“
Brüll geht nach der scharfen Kritik an den letzten „infoseiten“ also unbeeindruckt zum Angriff auf die Kritiker über und unterstellt ihnen generell eine verstaubte, verknöcherte Rückwärtsgewandtheit, die im Grunde schon ausgestorben zu sein hätte. Er unterstellt den Kritikern mangelndes Verständnis, zeigt in seinen üblen Formulierungen aber nur, dass er selbst nicht versteht – nämlich weder die Kritik, noch die Anthroposophie.
Wenn die Ausführungen eines Nicht-Anthroposophen wie Sünner den einzigen Inhalt einer Ausgabe der sogenannten „infoseiten anthroposophie“ bilden, muss man annehmen, dass info3 glaubt, es handle sich dabei um gültige, berechtigte Aussagen über Anthroposophie. Von außen kann man natürlich immer Aussagen machen – sie werden die Anthroposophie nur nie wirklich erfassen. Der Hochmut, mit dem Sünner glaubt, „auf gleicher Augenhöhe“, d.h. vielmehr von oben herab über Steiner sprechen und urteilen zu können, spricht ohnehin für sich. Aber selbst die meisten „Anthroposophen“ haben inzwischen nicht mehr die Fähigkeit, staunend vor dem Mysterium Rudolf Steiner stehen zu können, um so diesem Rätsel wenigstens im Ansatz näher zu kommen.
Nein, man hat sich mit „der Anthroposophie“ und Rudolf Steiner ja selbstverständlich schon jahrelang auseinandergesetzt, kann daher urteilen, natürlich auch kritisch usw. – wie schnell das alles geht, kann einen nur verwundern. Nur bemerkt man bei alledem nicht, dass man noch keinen Schritt aus dem Intellekt herausgemacht hat, ja vielmehr sich immer weiter in diesen verstrickt.
Den Intellekt bekommt heute jedes Schulkind, ja jeder Säugling von der gesamten Umwelt eingebleut. Es ist daher keine Kunst und auch kein Wunder, dass ihn jeder für alles gebraucht. Der gesunde Menschenverstand, von dem Rudolf Steiner immer sprach, die Urteilskraft, die in der Lage ist, sich dem Geistigen vorsichtig zu nähern, ist jedoch etwas völlig anderes – nämlich etwas, was damals schon äußerst bedroht war und heute immer mehr verloren geht, gerade weil er vom Intellekt nicht unterschieden und auch die New-Age-Anthroposophen diesem nicht entrinnen. Man kann eben viel von Spiritualität sprechen, entscheidend ist, dass man lernt zu erleben, wie einen der Intellekt bei allem schönen Gerede immer noch in den Fängen hat!
„Das Goetheanum“ und „info3“ auf Du und Du
Das eigentliche Gespräch beginnt dann so, dass Sebastian Jüngel fragt:
„Ramon, die Zusammenarbeit zwischen info3 und dem Goetheanum wurde von einigen unserer Leser stark kritisiert, als ob wir nun die Richtung von info3 einschlügen. Wäre solch ein Zusammengehen überhaupt sinnvoll?“
Auch dies zeigt wieder, wie das Bewusstsein für das, um das es geht, schlicht überhaupt nicht da ist. Der Goetheanum-Redakteur ist mit dem info3-Redakteur seit langem freundschaftlich verbunden und „auf Du“. Ein Empfinden der Gründe der scharfen Kritik vieler Leser (die sich geäußert haben!) ist nicht erkennbar – es ist, als ob das geistige Organ dafür völlig fehlt.
Das Ausmaß der Nicht-Erkenntnis, des Nicht-Empfindens zeigt sich in der unglaublichen Bewegung, die innerhalb dieser nur eineinhalb Sätze vollführt wird:
Zuerst wird die Kritik der Leser erwähnt und in der Formulierung („als ob wir...“) gleichzeitig bereits als unberechtigt zurückgewiesen. Schon diese Zurückweisung an sich steht auf tönernen Füßen, denn eine verstärkte Zusammenarbeit ist immer schon eine eingeschlagene Richtung! Niemand wird glauben, dass „Das Goetheanum“ über Nacht eine zweite „info3“ wird, es geht um die Tendenz. – Doch das Schlimmste liegt dann im Folgesatz: Wurde eben noch eine Annäherung quasi pauschal bestritten, wird nun einfach sogar der schlimmste Fall eines Zusammengehens als offenbar durchaus denkbare Möglichkeit hingestellt!
Welch eine Beliebigkeit der Optionen, welch ein Hohn gegenüber allen Menschen, die „info3“ schon lange als ein Organ der Zerstörung der Anthroposophie von innen heraus empfinden! Im letzten Satz liegt gleichsam von der anderen Richtung her der Sinn: „Ein Zusammengehen mit Dir, lieber Ramon, kann ich mir durchaus vorstellen, aber wäre es überhaupt sinnvoll?“ Es scheint, dass einer noch stärkeren Zusammenarbeit nicht im geringsten etwa eine innere Unvereinbarkeit entgegenstünde – nein, es würde nur einfach nicht der gemeinsamen Sache („Anthroposophie“) dienen!
Mit anderen Worten: „Das Goetheanum“ und „info3“ bleiben nur deshalb getrennt, um weiterhin gemeinsame Sache zu machen! Wovor viele Kritiker warnten – ein inneres Zusammengehen mit „info3“ – ist also trotz aller Unterschiede im „Konzept“ usw. längst geschehen, wie das freundschaftliche Gespräch zeigt. Das Empfinden des Goetheanum-Redakteurs über die Wirkungen von „info3“ ist nicht vorhanden, und das heißt: Auch „Das Goetheanum“ ist unter Verlust jedes echten Urteilsvermögens längst Instrument der schleichenden Zerstörung der Anthroposophie geworden.
Wo der Geist weht – oder sein Zerrbild
Im weiteren Gesprächsverlauf sagt Ramon Brüll an einer Stelle:
„Wenn einzelne Artikel in info3 von Teilen der Leserschaft als Provokation erlebt werden, dann ist es keineswegs so, dass wir mit der Veröffentlichung auf den Markt oder auf höhere Auflagen schielen. Die Redaktion veröffentlicht, ganz im Gegenteil, dasjenige, was sie für wahr, für wichtig oder für eine berechtigte Denkweise ansieht, die zur Kenntnis genommen werden darf, auch dann, wenn man vorhersehen kann, dass anschließend die Vertriebsabteilung wegen einer Häufung von Kündigungen stöhnt. Der Geist weht nicht immer da, wo die Vorlieben der Leserschaft, insbesondere der konservativen Leserschaft, sind!“
Die Info3-Redaktion nimmt also sogar Kündigungen ihrer eigenen (Noch-)Leser in Kauf, um Beiträge zu veröffentlichen, die sie für wahr hält. Und dass sie glaubt, für die Wahrheit (im Gegensatz zu „insbesondere der konservativen Leserschaft“) ein sicheres Gespür zu haben, geht aus der geschickten Formulierung „Der Geist weht...“ hervor. Es wird nicht gesagt, dass die Redaktion wüsste, wo der Geist weht – aber es steht da. Wiederum: Welche Arroganz! Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, ein Weg zum Geist – ein lebenslanger Übungsweg... Die Info3-Redakteure aber spüren oder wissen in bester New-Age-Manier, „wo der Geist weht“!
Wenig später sagt Brüll:
„Sprechen wir nicht immer noch von der „Außenwelt“, und erlebt die Öffentlichkeit die anthroposophische Bewegung nicht nach wie vor als mehr oder weniger geschlossenes System? Wie kommt das wohl? Oder wie können wir das ändern? Wie stellen wir uns die zukünftige Entwicklung der Anthroposophie vor: Ich frage mal provokativ: als verwaltetes Erbe oder als öffentlichen Kulturfaktor?“
Um öffentlicher Kulturfaktor werden zu können, müsste die Anthroposophie erst einmal verstanden und übend verwirklicht werden! Das ist natürlich nicht mehr nötig, wenn man bereits weiß, „wo der Geist weht“! Dann kann man „die Konservativen“ getrost als sich abschließende Sektierer ansehen und seine eigene Sehnsucht nach Anerkennung und „Kulturfaktor“ dadurch befriedigen, dass man die Anthroposophie auf sein Verständnis hinabzieht und anderen spirituellen Strömungen angleicht und an-freundet.
Dass die „Außenwelt“ die anthroposophische Bewegung als „geschlossenes System“ wahrnimmt, liegt sicher zu einem nicht geringen Teil auch am Dogmatismus der „Anthroposophen“. Es liegt aber auch an dem schwierigen Zugang zum Wesen der Anthroposophie. Beides hängt wiederum miteinander zusammen: Was ich nicht verstehe, mache ich zwangsläufig dogmatisch. Brüll und „info3“ schütten das Kind mit dem Bade aus, indem sie verkünden, sie wüssten, wo der Geist weht, sie würden das Wesen der Anthroposophie verstehen und es in die Öffentlichkeit tragen.
Wenn es so einfach wäre, dass man in den verschiedensten „besseren“ New-Age-Strömungen wie Wilber, Cohen und Co bereits Keime oder echte Verwandtschaften zur Anthroposophie fände, dann fragt man sich, warum Steiner immer wieder zu wahrerem und tieferem Verständnis gemahnt hat und immer wieder feststellen musste, dass die Anthroposophen in dem notwendigen, alles ergreifenden Ernst durchgehend versagten? Und man fragt sich auch, was die Info3-Redakteure vom Wesen eines Eingeweihten verstehen, wenn sie Rudolf Steiner mit einem Wilber auch nur vergleichen. Aber wahrscheinlich hält sich z.B. Redakteur Gronbach mit seiner PC-Erleuchtung ja bereits selbst in gewisser Hinsicht für „eingeweiht“.
Immer wieder zeigt sich: Das Verständnis, das Empfinden ist nicht im mindesten da. Was wirkliche Anthroposophie ist, ahnt man erst, wenn man etwa die in einem jahrelangen realen Übungsweg erreichten Erfahrungen zur Kenntnis nimmt, die die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller in ihrem Buch „Der Heilige Gral“ schildert.
Liebevoll-kritisch???
Im Folgenden demontiert Ramon Brüll endgültig die Grundlagen, um Rudolf Steiner verstehen zu können: Den Originaltext und die Ehrfurcht, mit der man sich dem Werk Steiners nähern müsste:
„Die Aufgabe, Steiners Vorträge in ein verständliches Schriftdeutsch zu übersetzen, steht noch aus. Um Kulturfaktor zu sein, müsste erst die tiefe Zerrissenheit der anthroposophischen Bewegung überwunden sein. [...] Für einen Teil der Leserschaft sind die Erfahrungen und Ansichten eines Rüdiger Sünner Sakrileg. Andere horchen gespannt auf, wie ein kulturschaffender Zeitgenosse, der nun wirklich im Leben steht und sich zudem intensiv mit Steiner auseinandergesetzt hat, liebevoll‑kritisch [???] auf dessen Werk schaut. Und darauf, wie „die“ Anthroposophen mit diesem Werk umgehen. Zwischen den bedingungslosen Verehrern Dr. Steiners und denjenigen, die bereit sind, im öffentlichen Diskurs auch kritische Fragen zuzulassen, liegen Welten. Bei den diversen Zuschriften, die einen so erreichen, denke ich manchmal: „Post von einem anderen Planeten“. Wenn man, wie Steiner, „Planeten“ für Bewusstseinszüstände nimmt, stimmt das sogar.“
Rudolf Steiner hat an verschiedenen Stellen betont, dass er seine für manche „kompliziert“ oder „antiquiert“ (der Intellekt meldet sich!) wirkende Sprache bewusst gewählt hat. Die Gründe möge man im Werk Steiners selbst nachlesen.
Brülls Auslassungen über die Bewusstseinszustände der angeblich „bedingungslosen Verehrer“ Steiners bedürfen keines weiteren Kommentars – ihre Art spricht sich unmittelbar selbst das Urteil. Neben „bedingungsloser Verehrung“ gibt es aber auch echte Ehrfurcht. Und diese ist kein Zeichen von „unmündiger Jüngerschaft“ oder ähnlichem, sondern eine Voraussetzung jeglicher esoterischer Schulung. Wer eine tiefe Ehrfurcht mit voller Urteilsfähigkeit nicht zusammendenken kann, hat ebenfalls noch nicht begriffen, worauf es ankommt und was das Wesen des modernen Einweihungsweges ausmacht.
Zeitgemäßes Vertreten der Anthroposophie?
Am Ende spricht Brüll über eine ideale anthroposophische Zeitschrift:
„Was wir beide wollen, ist eine starke Bewegung, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Anthroposophie als Kulturfaktor. Autoren, die was zu sagen haben: nicht besserwisserisch, weil sie Steiner gelesen haben, sondern kompetent, weil sie den Dialog mit anderen aktuellen Denkern und Forschern suchen. Und Anregungen aus der Anthroposophie zeitgemäß und mit eigenen Erfahrungen getränkt vertreten können. [...]
Eine Zeitschrift, die Anthroposophie als Kulturfaktor zeigen will [...] sollte keinen Unterschied zwischen Innen und Außen (ich meine: zwischen Anthroposophen und dem Rest der Welt) mehr machen müssen, und sie sollte – da waren wir uns einig – eine Vielfalt von Sichtweisen zum Ausdruck bringen und auch unbequeme Frage zulassen, um damit jeglicher Dogmatik entgegenzuwirken.“
Hier geht wieder furchtbar viel durcheinander. Wieder gibt es nur das Entweder-Oder-Denken: Dogmatik vs. Weltzugewandtheit, Dogmatik vs. Mit Eigenerfahrung getränkt, Sektierertum oder In-der-Welt-Stehen...
Klar ist, dass es in der anthroposophischen Bewegung sehr viel Dogmatismus, Sektierertum und Innen-Außen-Denken gibt. Darin besteht die Tragik der Anthroposophie. Sie wird aber nicht aufgelöst, sondern gesteigert, wenn man eine falsch verstandene „Anthroposophie“ als solche in die Öffentlichkeit tragen will – damit verkauft man nämlich den letzten Rest Anthroposophie.
Man fühlt sich ach so weltzugewandt, ja mittendrin in der Welt, mitten im Kontakt mit aktuellen Denkern und spirituellen Leitfiguren. Man ist zusammen mit Wilber, Cohen und Co die Avantgarde der spirituellen Transformation der einen Menschheit – welch wunderbares, wunderbares Gefühl! Die Anthroposophie und man selbst als Anthroposoph ist endlich in der Welt – und zwar ganz vorne, am Wachstumspunkt der evolutiven Weiterentwicklung – angekommen. „Info3“ als Retterin und Schöpferin der wahren, der heutigen, zeitgemäßen Anthroposophie!
Erst wenn man den Mut hat, dies als die gewaltigste Verführung (die bei den innersten Sehnsüchten nach Geltung, nach die-Anthroposophie-verstanden-haben-wollen – natürlich besser als die anderen! – und anderen im Dunklen bleibenden Triebfedern ansetzt) zu durchschauen, eröffnet sich die Möglichkeit, wieder einen klaren Blick auf die in der ferne liegende wahre Anthroposophie zu erlangen.
„Anregungen aus der Anthroposophie zeitgemäß und mit eigenen Erfahrungen getränkt vertreten zu können...“ – schon in diesem einzigen Halbsatz liegt eine ganze Welt von Halbwahrheiten und Verzerrungen! Vertritt man die Anthroposophie oder vertritt man einige Anregungen? Pickt man sich heraus, was einem wichtig ist, oder ist die Anthroposophie einem Lebenselement? Muss sie erst zeitgemäß gemacht werden? Muss sie erst „getränkt mit eigenen Erfahrungen“ lebendig gemacht werden? Kommen diese „eigenen Erfahrungen“ zur Anthroposophie hinzu oder geht es nicht vielmehr darum, zu verstehen, was Anthroposophie überhaupt ist, wodurch ebendies eigene Erfahrung wird?`
Es geht doch nicht darum, die Anthroposophie abstrakt zu nehmen, einige Anregungen herauszubrechen, diese erst einmal zeitgemäß zu machen, darüber hinaus mit eigenen Erfahrungen zu tränken – und erst bzw. nur auf diese Weise in der Wirklichkeit angekommen zu sein! Was für ein verqueres Denken! Anthroposophie kann man überhaupt nur vertreten, wenn man sie selbst zu eigener Erfahrung gemacht hat!
Nicht die eigenen Erfahrungen durchtränken die „Anregungen aus der Anthroposophie“, sondern das Wesen der Anthroposophie beginnt, die eigenen Erfahrungen zu durchtränken! Nicht die Anthroposophie wird durch eigene Erfahrungen lebendig, sondern die eigenen Erfahrungen können von der immer schon lebendigen Anthroposophie beleuchtet und verwandelt werden.
Ramon Brüll zeigt durch diesen einen Satz, wie er die Anthroposophie verstanden hat – nämlich gar nicht. Er sieht sie als Summe von Anregungen, die in ihrer Summe zum Kulturfaktor werden können, wenn sie „getränkt von eigenen Erfahrungen“ „zeitgemäß“ vertreten werden. Ein Sammelsurium von Anregungen kann jedoch nie ein Kulturfaktor werden – es sei denn, man versteht Kultur ebenso äußerlich.
Was ist innen ... was ist außen?
Anthroposophie würde nur dann zum Kulturfaktor werden, wenn sie das Denken verwandelt – das gesamte Denken. Darum kann man auch nie mit den „Anregungen“ beginnen, sondern muss beim Denken selbst beginnen. Man hat die Anthroposophie eben nicht verstanden, wenn man meint, sie biete eine Fülle von „Anregungen“. Das tut sie letztlich, doch die Quelle von all diesem ist ein völlig neu geborenes Denken. Ohne dass man dieses realisiert, kann man zwar mit anderen „spirituellen Denkern“ in einen wunderschönen Diskurs und in eine „Zusammenarbeit“ treten – aber wie gesagt: Man verkauft die Anthroposophie, weil man sie als Schein- und Irrtums-Gestalt vertritt, statt sie in sich selbst auch nur im ersten Ansatz wahrhaft zu realisieren.
Man hat sich durch „jahrelange Beschäftigung“ mit vielen ihrer „Anregungen“ vertraut gemacht – aber das Denken ist seinem ganzen Wesen nach völlig das alte geblieben. Man merkt dies nicht, weil die vielen „Anregungen“ einem das Gefühl geben, furchtbar spirituell zu denken. Nun – die Gedanken, die „Anregungen“ sind ja aus dem lebendigen Geist der Anthroposophie entsprungen, daher kann dieses Gefühl zunächst gar kein anderes sein. Doch man merkt nicht, wie man die fertigen Früchte nach-denkt und eben dadurch bereits das Gefühl hat, mit dem lebendigen Quell Verbindung zu haben. Tatsächlich könnte man selbst diese Gedanken nie hervorbringen, weil das eigene Denken sich nicht im geringsten verwandelt hat. Die Widersachermächte triumphieren und können ungehindert ihre übliche Suggestion ausüben: Man glaubt, man sei Anthroposoph und verträte Anthroposophie, indem man ihre Früchte nach-denkt und diese fertigen Gedanken weitergibt.
Die wahre, für die Anthroposophie entscheidende Trennlinie verläuft nicht zwischen der „anthroposophischen Bewegung“ und der „bösen, verständnislosen Außenwelt“, sondern viel weiter innen: Zwischen allen, die das Wesen der Anthroposophie nicht von ihren Früchten unterscheiden, sondern sich nur an diesen Ergebnissen bereichern und sie benutzen – und jenen, die sich wirklich in ständiger, harter Arbeit auf den Weg zu ihrer Quelle und ihrem Wesen machen, indem sie durch Studium und Meditation an der Verwandlung des Denkens, an der Entwicklung eines reinen Denkens arbeiten.
Es ist wie in der Kunst: Es gibt nur sehr, sehr wenige Künstler, aber sehr viele, die glauben, alles beurteilen zu können und sich selbst schon Künstler dünken. Vielleicht kann man sogar urteilen, doch einer dieser wenigen Künstler wird man nur durch jahrelange Übung – und manchmal selbst dann nicht.
Das Wesen der Anthroposophie ist ein offenes Geheimnis. Jeder kann wissen, wo es liegt – dennoch erreicht man es nur, wenn man sich selbst auf den weiten, anstrengenden Weg macht. Viele scheuen diesen Weg und behaupten in verschiedenster Hinsicht, schon da zu sein – sie alle schaffen mit an einem dichten Schleier. Am schlimmsten sind die, die mit ihren auflagenstarken „infoseiten anthroposophie“ am lautesten eine angeblich „zeitgemäße Anthroposophie“ vertreten – dennoch sind auch sie nur die Spitze eines Eisberges. Alle „Anthroposophen“ könnten um das Wesen der Anthroposophie wissen, doch fast alle schaffen mit an einem vielgestaltigen Zerrbild und einem dichten Schleier für alle jenen, die als „Außenwelt“ die Anthroposophie nicht kennen, aber vielleicht suchen würden, wenn sie in einigen Menschen oder Büchern in gewisser Reinheit verkörpert wäre. Nun aber muss man diese selbst in der „anthroposophischen Bewegung“ wie eine Nadel im Heuhaufen suchen.
Anthroposophie bei Nicht-Anthroposophen?
In seinem abschließenden Beitrag vergleicht Jens Heisterkamp die „Grundanliegen der Anthroposophie Rudolf Steiners“ mit Neale Donald Walshs „Gesprächen mit Gott“, mit Ken Wilber und Andrew Cohen und schreibt dann:
„Vielleicht wird mancher sagen: die Zusammenschau solcher unterschiedlichen Richtungen, schon die Tatsache, das Werk Rudolf Steiners in einem Atemzug damit zu nennen, macht die Anthroposophie weniger einzigartig und bringt sie auf einen gefährlichen Kurs der Verwässerung. Man kann es aber auch genau umgekehrt sehen: Dann würde man Anthroposophie nicht als eine kausal nur durch Anthroposophen und ihre Institutionen wirkende „Lehre“ verstehen, sondern als real inspirierenden Impuls begreifen; Anthroposophie wäre dann kein in den Büchern Rudolf Steiners festgeschriebenes „Werk“, sondern ein Menschen und Jahrhunderte übergreifendes Geschehen, das sich in ähnliche Weise fortentwickelt und immer neue Formen annimmt wie beispielsweise auch das Christentum im Laufe seiner Geschichte immer andere (oft auch sich widersprechende) Metamorphosen angenommen hat. So gesehen wäre Anthroposophie etwas, das eben nicht nur in dem sich auf Rudolf Steiner berufenden Traditionsstrom auftritt, sondern viel universeller gefasst als Realität des erwachenden Bewusstsein der kosmischen Dignität des Menschentums. Hat nicht Rudolf Steiner selbst die Anthroposophie im Kern als ein eigenständiges, gleichsam höheres Wesen charakterisiert? [...]
Es geht hier um die einzigartige Chance am Beginn des 21. Jahrhunderts, sich mit zutiefst verwandten Strömungen und Motiven aktiv zu verbinden und gemeinsam eine verbindende, höhere Wahrheit zu schaffen, die jenseits aller weltanschaulichen Definitionen liegt. [...] Die Anthroposophie könnte derart in eine neue Phase ihrer Erscheinung treten: von einer ersten, abgegrenzten und ganz aus sich selbst schöpfenden Zeit der Gründung über eine Phase des dialogisch-gesellschaftlichen Wirkens (die durch die anthroposophischen Praxisfelder veranlagt ist) zu einer dritten, sich in die Welt hineinopfernden Phase der Raumschaffung für den aktuellen Zeitgeist. Es liegt an uns, diesen Ruf zu hören und uns auf das Wagnis des Neuen, das noch keine klare Kontur hat, einzulassen.“
Was Heisterkamp hier in schlimmer Weise verwechselt und in eines setzt, ist die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit und die Anthroposophie. In der Bewusstseinsentwicklung wirken auf jeden Fall Impulse der geistigen Welt – wobei wir durch Rudolf Steiner wissen, dass die „guten Kräfte“ die Menschheit inzwischen frei lassen... Was also wirkt heute noch weiter? Und was ist Anthroposophie? Sie ist ein Entwicklungsweg – der einzige Weg, auf dem der abendländische Mensch in klarer, vollbewusster Weise sich selbst als geistiges Wesen und in die geistige Welt hinein finden kann. Alles, was nicht ein solcher Weg ist oder nicht auf einem solchen Weg erlebt und erkannt ist, ist nicht Anthroposophie.
Das heute viel beschworene „erwachende Bewusstsein“ der Menschheit ist ein höchst heterogener Prozess, der fast immer viel mehr mit Illusionen, Träumen, fertigen Gedanken oder unklaren Empfindungen zu tun hat als mit einem klaren Denken. Darüber hinaus bedeutet ein solches erwachtes „Bewusstsein der kosmischen Dignität des Menschentums“ noch lange nicht, dass man wirklich sein eigenes, einfaches Denken auch nur in einem ersten Schritt ergriffen hat, um es wirklich zu etwas so Eigenem zu machen, wie es Steiner beschreibt.
Heisterkamp beschwört dann wieder die „zutiefst verwandten Strömungen und Motiven“ und zeigt damit nur, dass er mehr der oben schon beschriebenen Sehnsucht nach Vereinigung erliegt, als die Anthroposophie wirklich verstanden zu haben. Eine Hilfe könnte die Anthroposophie diesen anderen Strömungen nur sein, wenn sie zunächst in einzelnen Menschen wirklich verwirklicht werden würde. Dies ist ein vollkommen klarer Weg und Prozess, der aber beschritten werden müsste.
Stattdessen schwelgt Heisterkamp in einer vorgestellten dritten Phase der Anthroposophie, in der sie sich „in die Welt hineinopfert“, um dem „aktuellen Zeitgeist“ Raum zu schaffen. Das reale Einfließen der Anthroposophie in die Lebenspraxis (die „Praxisfelder“) wäre dann nur ein Zwischenstadium, dessen Steigerung das Sich-Einlassen auf das „Wagnis des Neuen, das noch keine klaren Kontur hat“ wäre! Das klingt natürlich wunderbar – auch Heisterkamp schwimmt also auf der Avantgarde-Welle des Zukünftigen ganz vorne mit ... wie herrlich!
Anthroposophie ist aber etwas völlig Anderes als ein Sich-Anfreunden mit angeblich „zutiefst verwandten Strömungen“, um sich gemeinsam auf „das Neue“ einzulassen, das „noch keine klare Kontur hat“. Sie ist in völligem Gegenteil dazu ein von Anfang bis Ende klarer Entwicklungsweg, der über das bewusste Denken in harter innerer Arbeit zum Geist führt. Man kann jeden einzelnen Menschen und jede „Strömung“ auf diesen Weg hinweisen. Der Weg selbst ändert sich dadurch nicht – er wird unbeliebt bleiben, und es werden wohl auf lange Zeit immer nur Einzelne bleiben, die ihn gehen werden. Doch die verbindende, höhere Wahrheit liegt erst dahinter. Sie wird nicht dadurch geschaffen, dass man sich „verwandten Strömungen“ anfreundet, sie wird immer nur im eigenen Inneren gefunden – in „innerster Erkenntnisfeier“. Was Menschen, die diese Wahrheit gefunden haben, dann in der Welt neu hervorbringen, ist eine ganz andere Frage. Man sollte sie nicht vor der ersten stellen – denn die erste Frage ist die entscheidende: Es geht darum, die Anthroposophie in sich Schritt für Schritt zu verwirklichen, statt vor intellektuellem Hochmut völlig abgehoben und illusorisch von „Raumschaffung für den aktuellen Zeitgeist“ zu reden. Welcher Zeitgeist das wäre, sollte jedem wahren Anthroposophen klar sein.