2008
Welche Zukunft hat die Waldorfschule?
Veröffentlicht im "Goetheanum" vom 21.11.2008 (Nr. 47). >> Langfassung.
Die Pädagogische Akademie am Hardenberg-Institut beschäftigt sich mit der Frage nach der Zukunft der Waldorfpädagogik und ihren Voraussetzungen. Karl-Martin Dietz, Gründer der Akademie, hat bereits mehrere wichtige Schriften zur Selbstverwaltung, zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern und zum Freien Geistesleben verfasst. Am 8. November 2008 gab es ein Kolloquium zur Frage, wo die Waldorfpädagogik heute steht und wie für die Zukunft gearbeitet werden kann.
Große Sorge
Gleich während des anfänglichen Austausches stand die Sorge um die Substanz und Qualität der Waldorfpädagogik im Zentrum. In den letzten Jahren machen immer weniger Menschen eine Ausbildung zum Waldorflehrer. Schon seit langem haben nur 50-60% der jährlich neu anfangenden Lehrer an Waldorfschulen überhaupt eine Waldorfausbildung – der Rückgang der Studentenzahlen wird diese Situation in Zukunft weiter verschärfen.
Eine vielleicht noch größere Sorge betraf die Substanz in den Schulen selbst. An vielen Schulen findet anthroposophische Grundlagenarbeit kaum oder überhaupt nicht statt – und wenn, bleibt sie oft abstrakt, steht unverbunden neben dem „organisatorischen Rest“ der Konferenzen. Ein Kollege schilderte, wie viele Studenten an der anthroposophischen Grundlagenarbeit sehr interessiert sind und dann die ersten Lehrerkonferenzen erleben und fragen: „Ja, wo lebt denn das jetzt?“ Auch die Kinderbesprechung als ein wesentliches Element der Waldorfpädagogik wird offenbar in immer weniger Schulen ernsthaft praktiziert.
Dem Schwinden dieser wesentlichen Grundlagen steht ein Anstieg an Schwierigkeiten und Konflikten in der kollegialen Zusammenarbeit gegenüber. Immer mehr Waldorfschulen ziehen Mediatoren und Berater hinzu, um an Problemen zu arbeiten, die vorwiegend im Sozialen und in der Zusammenarbeit liegen.
Es liegt nun natürlich nahe, hier unmittelbare Zusammenhänge zu sehen, und genau in dieser Richtung äußerten sich dann mehrere Lehrer: Die anthroposophische, wirklich geistige Arbeit ist die Grundlage sowohl für die gemeinsame Selbstverwaltung, als auch für die tägliche Pädagogik. Findet diese geistige Arbeit nicht statt, treten auf allen Ebenen vermehrt Probleme auf.
Von Fragen der Dreigliederung oder des Kulturauftrages darf man in vielen Schulen erst recht nicht reden, ohne sich den Unmut der Kollegen zuzuziehen, die darüber klagen, nicht einmal genug Kraft für das Tägliche zu haben. Es wäre aber notwendig, auch nach außen zu wirken – schon weil sonst das Umfeld in einer negativen und kraftraubenden Weise auf die Schulen zurückwirkt (Stichwort Prüfungen etc.). Vor allem aufgrund dieser Außeneinflüsse geben immer mehr Waldorfschulen gerade in der Oberstufe wesentliche Elemente preis, etwa die Botanikepoche in der 12. Klasse oder die Projektive Geometrie – Epochen, die das Denken lebendig machen würden!
Kinderbesprechung und geistige Arbeit
Eine Kollegin gab konkrete Beispiele, warum die Grundlagenarbeit heute notwendiger denn je wäre: Die Frage, was die Kinder ihrem eigenen Wesen nach heute eigentlich mitbringen, ist aufgrund eines unglaublichen Dickichts von Außeneinflüssen immer schwerer zu beantworten. Die Jugendlichen wiederum, die äußerlich stiller und angepasster wirkten als vor 20, 30 Jahren, hätten ein tief beeindruckendes Begegnungsbedürfnis und auch eine entsprechende Fähigkeit, einen Tiefgang ganz neuer Qualität. Dem gerecht zu werden, erfordert eine fortwährende innere Schulung.
Ein Kollege schilderte, wie die Kinderbesprechung, wenn man sie bewusst und entschlossen in die Konferenzarbeit hineinnimmt, im Grunde sofort einen Zusammenhang mit der Engelssphäre ermöglicht – und wie dadurch dann ganz real Ideen kommen, Ideen für das Pädagogische, das Soziale, das Organisatorische. Man muss mit dieser Kinderbesprechung allerdings wirklich ernst machen, sie üben und auch nach einiger Zeit nachbesprechen. Ein anderer Kollege berichtete, was passiert, wenn man dies nicht tut: Es wird eine Kinderbesprechung gemacht ... und dann geht man zum nächsten Punkt über: keine Nachfragen von Kollegen, auch keine Nachbesprechung. Dann hat das Ganze keine positive Wirkung, eher im Gegenteil!
Karl-Martin Dietz schilderte, wie immer wieder eine völlige Unklarheit darüber herrscht, was Waldorfpädagogik eigentlich ist. Man könne es zwar wunderbar aufzählen, aber gerade das sei das Problem! Er verwies auf eine Äußerung Rudolf Steiners, dass es im Grunde bereits eine Zumutung sei, jemandem sagen zu müssen, etwas müsse so und so gemacht werden. Mit anderen Worten: Waldorfpädagogik kann nicht definiert werden! Jede Schule muss zu ihrem eigenen Impuls finden und sich dieses Impulses immer wieder neu versichern! Fehlt dieser eigene Impuls, dann fehlt die Grundlage schlechthin.
Christoph Wiechert (Leiter der Pädagogischen Sektion) betonte, dass ein Gefäß für den Geist auch von Geist gefüllt werden muss, sonst kämen Gegenwirkungen hinein. Es gehe um die Frage: Nominalismus oder Realismus? Die „Elemente“ der Waldorfpädagogik wie Epochen, Nicht-Sitzenbleiben würden noch keine Waldorfschule ergeben. Die Frage sei: Wie kriegt man den Geist wieder geweckt? In der Arbeit an der Menschenkunde, in der Kinderbetrachtung müsse man zum Realismus kommen.
Wiechert ging dann auf den 6. Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“ ein, auf die Übergänge zwischen wachend-bildhaftem Erkennen, träumend-inspiriertem Fühlen und schlafend-intuitivem Wollen. Rudolf Steiner wies auf die Notwendigkeit hin, einen „pädagogischen Instinkt“ zu entwickeln, also die Fähigkeit, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Im Grunde gehe es hier um Intuitionsfähigkeit. Jeder Lehrer kennt hier die Schwellenerlebnisse der Ohnmacht, also die Augenblicke, wo dieses überhaupt nicht gelingt. Aus Angst vor der Schwelle flüchtet man sich dann allzu oft in Strukturen („Eintrag ins Klassenbuch“ etc.).
Ein Kollege beschrieb aus eigener Unterrichtserfahrung, wie es auf das Bildhafte ankommt: Wenn es etwa in der Chemie um Feuer und Kalk geht, besteht die Herausforderung darin, dass man die Kräfte und das Wesen dieser Prozesse bis in die Geste hineinbekommt. Dann bleibt es nicht intellektuell, dann gehen die Schüler mit! Und dann fängt es in den Kindern zu leben an. Um als Lehrer bis an diesen Punkt zu kommen, braucht man die anthroposophische Grundlagenarbeit. Erst dadurch wird in mir etwas erweckt, was die Kinder miterleben. Man kann es gar nicht überschätzen, wie stark Kinder mit dem mitgehen, was der Lehrer im Seelisch-Geistigen selbst realisieren kann.
Es braucht eine Renaissance der Waldorfpädagogik
Die Waldorfpädagogik bedarf einer fortwährenden inneren geistigen Arbeit, der fortwährenden Ich-Tätigkeit. Sie muss ununterbrochen neu geboren werden („Renaissance“). Was nur nach Rezept verwirklicht wird, trägt heute überhaupt nicht mehr. Jeder Einzelne steht vor der Herausforderung, das Moralisch-Geistige in sich zu gebären, statt im Intellektuell-Gemütlichen zu verweilen.
Was kann man nun aber in seiner Schule konkret tun, wenn es nicht sofort gelingt, die anthroposophische Grundlagenarbeit im ganzen Kollegium neu zu ergreifen?
Man kann selbst anfangen und sich mit Kollegen zusammentun, die dasselbe Anliegen haben. Eine solche innere Arbeit von drei, vier Menschen hat in jedem Fall seine Wirkung – und zieht auch andere Kollegen mit, die die Notwendigkeit erkennen. Eine andere Notwendigkeit ist der soziale Impuls, das Interesse am Anderen. Oft arbeitet man jahrzehntelang zusammen und kennt sich eigentlich kaum näher! Nur auf dieser Grundlage können Probleme in dem Ausmaß entstehen, wie es überall zu beobachten ist. Die tiefere Begegnung würde soziale Impulse ermöglichen, die wiederum die gemeinsame Grundlagenarbeit und pädagogische Arbeit unendlich stärken würden.
Christoph Wiechert wies gegen Ende nochmals auf die Problematik des heutigen Freiheitsbegriffes hin: Es ist vor allem im Denken eine ungeheure Individualisierung der Meinungen, Ansichten und Vorstellungen eingetreten, während im (gerade pädagogischen) Handeln oft eine große Konformität eintritt: „Wir machen das so und so“ oder „In der Waldorfschule macht man das so und so.“ Vom Geiste aus gesehen müsste es genau umgekehrt sein: Im Denken dem Geist und der Wahrheit gehorsam sein und im Handeln absolut individuell. So könnte man die Waldorfpädagogik jeden Tag neu erschaffen! Ein Vorbild sei hier die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim, sie lebe das vor, was „eigentlich gemeint“ war.
Nur auf der Grundlage des inneren Schulungsweges könnte das Soziale und das Pädagogische gedeihen. Man könnte sogar auf das Abitur vorbereiten und dennoch voll und ganz Waldorfschule sein. Eine Waldorfschule lebt aus den Kräften der Kollegialität und der Kreativität – beides ist eine Frage der inneren Arbeit und des wirklichen gemeinsamen Impulses.