Auszüge aus dem Roman "Inferno"

Mieke Mosmuller: Inferno. Occident Verlag, 2008. >> Buchbesprechung.

Auszug 1

Schweigend tranken wir den Kaffee. Er schlug seine Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Es war, als ob ich nichts zu fürchten hatte.

‚Il Dottore hat mich gebeten, einmal nach Ihnen zu sehen.‘, sagte er mit zwinkernden Augen. ‚Er meint es glaube ich als Strafe. Viele Menschen haben Angst vor mir, vor meinem durchdringenden Blick oder so.‘

Es war eine wundersame Eröffnung. Ich wusste gleich schon nichts mehr zu sagen – also schwieg ich und wartete ab.

Dadurch gab ich ihm alle Gelegenheit, um mit seinem ‚durchdringenden Blick‘ zu schauen. Was sah er? Ich konnte es nicht ergründen. In jedem Fall war es unangenehm. Vielleicht stand ich vor ihm völlig nackt da, vielleicht auch nicht. Er war etwas bleicher als vorhin, als ich hereinkam. Er beugte sich vor und sagte:

‚Gibt es etwas, was ich für Sie tun kann? Haben Sie Fragen?‘

Ich sagte schulterzuckend:

‚Beat fand dies nötig, er wird Ihnen wohl eine Fragestellung gegeben haben?‘

Er nickte.

‚Aber Sie müssen zustimmen, mein Herr.‘

‚Sagen Sie bitte Gerrit!‘

‚Gut, Gerrit.‘

‚Ich bin mit allem einverstanden. Schauen Sie nur, soviel Sie wollen. Ich schätze es sehr, dass Sie damit warten, mich auszuziehen, bis ich die Zustimmung gebe. Die haben Sie nun.‘

Nun, das war deutlich. Die Atmosphäre veränderte sich total, und es tat mir leid, nachgegeben zu haben. Man glaubt natürlich kein bisschen davon, und dann macht es alles nichts aus. Aber ich wurde unmittelbar von meinem Unglauben geheilt. Er saß totenstill da, aber es kam etwas in Bewegung, was mich sehr berührte. Vergleichbar mit der Wirkung, die Beato auf mich hat, aber realer, intensiver, beängstigend. Fühlte ich mich selbst? Fühlte ich, was er sah? Er schwieg und schwieg und schwieg. Offensichtlich kannte auch er die Regeln der Macht...

Es kam ein Sturm auf, und ich sah einen Engel mit einem flammenden Schwert. Das Schwert steckte meine Persönlichkeit in Brand, und übrig blieb allein der Lichtpunkt, den ich Beat verdanke. Nichts hatte ich, als nur ein winziges Lichtteilchen, an das ich mich klammerte. Der Rest war mitleidlos verurteilt.

‚Praegustatio in mortis examine.‘, sprach er, da gegenüber von mir. ‚Ein Vorgeschmack von dem Urteil im Tode. Wenn Sie Il Dottore nicht kennengelernt hätten, wären Sie mit dem Tod vollkommen gestorben. Nun erwartet Sie das Urteil.‘

Sagte er es wirklich, oder war es eine Vision, eine Halluzination? Wurde ich wahnsinnig? Ich konnte mich nicht bewegen, mein Körper tat es nicht. War ich schon tot? Vor Angst gestorben? Macht jetzt, Arme und Beine! Gehorcht meinem Willen! Regt euch!

Ich konnte mich normal bewegen, ich atmete, ich lebte.

Der Meister schwieg und schaute, schwieg und schaute.

‚Sag in Gottesnamen etwas!‘, rief ich aus.

Er nickte, stand auf, lief einige Male im Zimmer auf und ab, setzte sich wieder und begann zu sprechen.

‚Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was ich sehe, mein Herr. Sie sind sehr gut zur Selbsterkenntnis fähig und wissen also, was Sie aus sich selbst gemacht haben.‘

Es klang streng und war zweifellos auch so gemeint. Dieser Mann brachte kein Verständnis für mich auf, das wollte er auch nicht. Ich nickte und fragte:

‚Meine Krankheit?‘

Erst schwieg er, ein paar Minuten vielleicht. Dann sah er mich direkt an und sagte:

‚Ihr Körper ist davon durchzogen.‘

‚Mit der Krankheit?‘

‚Ja.‘

‚Also sehen auch Sie keine Chance auf Besserung?‘

‚So würde ich das nicht ausdrücken. Im Leben ist alles möglich, solange der Tod nicht eingetreten ist. Aber ein starker, einmal in Gang gesetzter Prozess kehrt sich von selbst nicht um. Dazu ist eine ebenso starke, am besten stärkere, umkehrende Bewegung nötig.‘

‚Und die halten Sie nicht für möglich.‘, konstatierte ich.

Er hob seine Schultern, fast gleichgültig.

‚Ich weiß nicht, ob es gewünscht ist, mein Herr.‘

Ich wurde böse. Was dachte dieses Männlein denn? So ein unterentwickelter Ausländer? Aber er sah auch das und sagte mit einem Lächeln:

‚Ich beurteile Sie nicht. Ich suche nach einer Lösung.‘

‚Wofür?‘

‚Für die Sackgasse, in der Sie sich befinden. Ich habe nämlich eine Sache gesehen ... die Sie nicht wissen können. Aber gerade dieses Eine stellt Ihr Leben auf tönerne Füße.‘

‚Was denn?‘, fragte ich unbesonnen, neugierig.

Auszug 2

‚Was wird mich nach dem Tod erwarten, Professor?‘

Er lehnte sich etwas zurück, nahm das Gespräch wieder auf. Er sagte:

‚Sie sind stark. Sehr, sehr stark. Mit Ihrer Kraft können Sie jetzt noch umkehren. Wenn die Kraft des Bösen sich in das Gute umwandelt, dann entsteht etwas Gewaltiges. Etwas, was selten vorkommt. Sie würden das können. Sie sind schon damit beschäftigt. Aber es geht noch radikaler, stärker, schneller.‘

‚Wie?‘

Er sah mich direkt an und sagte wohlüberlegt:

‚Als Sie jung waren, haben Sie gewählt, vielleicht dennoch nicht ganz bewusst, sondern mehr aus Drang. Sie haben nicht im Kleinen gewählt, sondern im Großen. Das heißt, dass Sie Ihrem Willen eine bestimmte Richtung gegeben haben, oder besser gesagt: Ihr Wille hat das Böse gewählt, und Sie haben daran gearbeitet, die Willensrichtung zu fördern, durchzusetzen, gegen alle Widerstände.

Nun, so kurz vor dem Tod, sehen Sie ein, dass Sie die verkehrte Wahl getroffen haben. Sie können sich auf alle Taten besinnen, die Sie begangen haben, und die Reue darüber fühlen. Das ist gut und heilsam. Aber es ist der lange Weg, und so viel Zeit haben Sie nicht. Außerdem sitzt Ihre Kraft im Willen, nicht in der Einsicht. Sie müssten von einer Willensumkehrung aus zur Einsicht kommen, nicht andersherum.‘

‚Ich verstehe keine Bohne davon.‘, sagte ich verärgert. ‚Sagen Sie einfach, was Sie sagen wollen.‘

‚Dass Sie im Willen umkehren müssen, statt in den Gedanken oder den Gefühlen. Ihr Wille will noch nicht wirklich.‘

‚Ich fragte: Was wird mich nach dem Tod erwarten?‘

‚Das ist abhängig davon, was Sie jetzt noch tun. Wenn Sie vor Ihrem Tod mit Ihrem Willen noch das Gute wählen – aber dann durch und durch – dann haben Sie diesen Willen auch nach dem Tod zur Verfügung. Auch wenn das Urteil über Ihre Taten dann noch so niederschmetternd sein wird, Ihr guter Wille wird Ihnen hindurchhelfen und Sie werden vor dem nächsten Erdenleben Ihr Schicksal ganz im Dienste des Herrn des Guten erfüllen können. Ansichten und Gefühle sind zu schwach, zu flüchtig, um in Ihrem Fall etwas Wesentliches verändern zu können.‘

Mir war kalt und warm zugleich, kalter Schweiß brach mir aus. Von diesem Mann hatte man kein tröstendes Wort zu erwarten.

‚Und wie, Professor, kehrt man seinen Willen auf einen Schlag um hundertachtzig Grad um?‘

Während ich die Worte sprach, fühlte ich, wie es gehen musste. Aber das ist nun gerade, was ich zutiefst nicht will!

‚Das kann niemand.‘, sagte er nachdenklich. ‚Aber Sie würden es können. Wirklich, Sie würden es können!‘

Ich erschauerte. Ich fühlte den Tod, ein Stückchen von mir entfernt noch. Von hier nach dort ... würde ich eine Herkulesaufgabe in dieser kurzen Zeit verrichten können? Wochen, vielleicht Monate?

Der Mann gegenüber von mir las meine Gedanken und sagte:

‚Dies liegt außerhalb der Zeit. Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde dafür nötig, überhaupt keine Zeit.‘