2009
Geistloser Streit um Prokofieff und Judith von Halle
Obwohl das „Goetheanum“ in der Regel nur noch Buchbesprechungen von maximal einer Seite zulässt, erschienen in der Ausgabe vom 6.2.2009 gleich zwei ausführliche (insgesamt über mehr als drei Seiten gehende) Besprechungen des neuen Buches von Sergej O. Prokofieff, dessen Anhang von mir hier am 30.1.2009 besprochen worden war (>> siehe hier). Im folgenden zeige ich detailliert die Problematik beider Aufsätze.
Inhalt
Originaltext 1 (Heinz Zimmermann)
Originaltext 2 (Dietrich Rapp)
Das verdrängte wahrhaftige Empfinden
Komplexität und Autoritätsglaube
Unverständnis des Geistigen und suggestive Behauptungen
Gesteigerte Irreführung
Die beiden Aufsätze von Heinz Zimmermann und Dietrich Rapp kommen im Grunde zu entgegengesetzten Resultaten, was einmal mehr zeigt, wie es um die Anthroposophie bestellt ist. Es herrschen Meinungen, Vorstellungen, Anschauungen, Gedanken – und diese können natürlich in jede beliebige Richtung gehen und dennoch den Anschein erwecken, mit der Anthroposophie in Übereinstimmung zu stehen. Die erste klare Erkenntnis müsste jedoch sein, dass mit alledem gewissermaßen noch nicht einmal der Vorhof der Anthroposophie betreten ist! Anthroposophie beginnt erst da, wo sich in einem gereinigten Denken Wahrheit durch ihren eigenen Zusammenhang zu offenbaren anfängt. Der folgende Aufsatz ist ein Versuch, zumindest die gröbsten Irrtümer und Abstraktionen der beiden erwähnten Aufsätze aufzuzeigen.
Originaltext 1 (Heinz Zimmermann)
In seinem mit der Überschrift „Gründliche Aufklärung“ betitelten Aufsatz schreibt Heinz Zimmermann unter anderem:
„Das Geheimnis der Auferstehung hat die Christen zu allen Zeiten zutiefst beschäftigt und zu den verschiedensten kontroversen Überzeugungen geführt. Auch innerhalb der Anthroposophie gehören Wesen und Bedeutung Christi zum Zentralsten, aber auch Intimsten und damit Verletzlichsten. Missverständnisse und fundamentalistische Haltung entstehen leicht, weil notgedrungen jeder sein durch Erziehung und religiöse Bedürfnisse geprägtes Christusbild in die anthroposophische Bemühung hineinträgt.
Zwei Erscheinungsformen sind es, die dieses Bild vor allem prägen und leicht daran hindern, aus der modernen Geisteswissenschaft heraus zu einem unverstellten Verständnis und daraus zu einer christlichen Lebenspraxis zu kommen. Das eine ist der 2000‑jährige traditionsbeladene kirchliche Vergangenheitsbezug, das andere die latente Sehnsucht nach einer sinnlich‑materiellen Manifestation des Christuswesens. [...]
Auf diesem Hintergrund legt Sergej O. Prokofieff sein neues Buch vor, die Frucht langjähriger Vortragstätigkeit und gründlicher Verarbeitung des Gesamtwerkes Rudolf Steiners. [...]
Es stellt für den Leser eine hohe Anforderung dar, all diese gewaltigen Dimensionen von Gipfel zu Gipfel mitzuverfolgen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren oder aber alles ins Prosaische herunterzuziehen. Der große Respekt des Verfassers selbst, der gegenüber der Thematik durchwegs zu spüren ist, kann dabei eine Hilfe sein.
Der Anhang ‚Die Kräfte des Phantoms und die Stigmatisation‘ knüpft vor allem an das erste Kapitel an. Der Verfasser arbeitet, sich wiederum eng an Rudolf Steiners Werk orientierend, heraus, dass die Phänomene der Stigmatisation, insofern sie dauernd erscheinen, weder mit dem umgewandelten Phantom noch mit dem christlich‑gnostischen Einweihungsweg unmittelbar zu tun haben. Am Beispiel von Katharina von Emmerich zeigt er ausführlich, dass die dinghaften sinnlichen Schilderungen des Christuslebens an der Zeitenwende einem leibgebundenen Bewusstsein entstammen und dem anthroposophischen Weg einer leibfreien Geistbegegnung, wie sie schon bei Novalis auftritt, völlig widersprechen. Sie bieten sinnesgesättigte Bilder einer zweitausendjährigen Vergangenheit und verstellen dadurch den Blick auf den gegenwärtigen Christus, der auf ganz neue Weise geistig real gesucht und gefunden werden muss.
[...] Anthroposophie ist die Sprache des Christus in unserer Zeit.
Der Leser kann diesem Anhang gegenüber den Eindruck haben, ein Franz von Assisi, eine Katharina von Emmerich, eine Theresa von Konnersreuth seien doch zu einseitig beschrieben. Es geht dem Verfasser aber mit dem historischen Kontext einzig darum, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus einem Verkennen von Rudolf Steiners Werk erwachsen und innerhalb der anthroposophischen Bewegung von Anfang an auch tatsächlich vorhanden waren, wie er mit dem Zitat von Carl Unger zeigen will.
Zum Schluss stellt sich dem Leser in Bezug auf diesen Anhang die Frage, ob es wohl möglich ist, über so eine zentrale Frage in eine offene geistige Auseinandersetzung zu kommen, in kompromissloser Erkenntnissuche bei gleichzeitigem Respekt und seelischer Toleranz dem Mitstreiter gegenüber.“
Originaltext 2 (Dietrich Rapp)
Dietrich Rapps Aufsatz „Eine Schicksalsfrage“ geht dann in eine ganz andere Richtung:
„Das neue, hier vorzustellende Buch von Sergej O. Prokofieff „möchte Zeugnis davon ablegen, zu welcher Verständnistiefe der Ereignisse der Zeitenwende man aufgrund der Geistesforschung Rudolf Steiners kommen kann“. [...]
Das erste Kapitel, ‚Das Mysterium von Golgatha und die geistige Kommunion‘, spricht von der „Rettung des menschlichen Ich“ durch die Schaffung des Auferstehungsleibes durch Christus, der den Leib des Jesus von Nazareth „in das Wort verwandelt hat“ (S. 10). Prokofieff führt aus, dass der Weg, „auf freie und bewusste Art zum erkennenden Erleben der Wirklichkeit der Auferstehung“ zu gelangen, in der „inneren Arbeit mit dem Grundsteinspruch“, den Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung 1923 zur Neubegründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft gegeben hat, zu suchen ist. [...]
Die Darstellungen dieser drei Kapitel vermitteln tiefe, die religiöse Empfindung anrührende Einsichten in das christliche Mysterium der Auferstehung. Der Leser folgt ihnen, dankbar für die große Übersicht, gerne. Die wiedergegebenen umfassenden und komplexen okkulten Zusammenhänge eröffnen einen Horizont, in dem das Streben nach einer bewussten Verbindung mit dem Christus‑Impuls Orientierung finden kann.
Doch im Grunde bleibt das Buch in seinem kompendialen und apodiktischen Stil, bei allem Pathos des Mitlebens mit den Inhalten, begrifflich theoretisch; es argumentiert im Kontext der Rudolf‑Steiner‑Gesamtausgabe und versucht darin durch gedankliche Schlussfolgerungen, auch neue okkulte Zusammenhänge zu erarbeiten. Mir fehlt jedoch das Erlebniselement in den erkannten Inhalten. Ich vermisse die inneren Erfahrungen des intellectus intuitivus, der sich in Anschauungen zu öffnen vermag, die konkreten Wahrnehmungen der Inhalte, die, ohne dieses Element, in Begriffsform nur bezeichnet und verkündet werden. [...] Er unterstreicht mit einer durchgängig mahnenden Geste, was ja doch selbstverständlich ist: dass nur ein sinnlichkeitsfreies, leibunabhängiges Denken auf dem (anthroposophischen) Schulungsweg sich geeignet macht, ein sachgemäßes, bewusstes Verhältnis zur geistigen Welt einzugehen.
Doch schließt dies Wahrnehmungen (Offenbarungen) im Raum des intuitiv Gedachten nicht aus, sondern fordert sie, wenn die geistige Wirklichkeit erreicht und erfahren werden soll. Was macht denn die sinnliche Wahrnehmung insbesondere so verdächtig, dass jene ostentative Mahnung nötig erscheint? [...] Als ob sich das Sinnliche nicht geistig berühren ließe... [...]
[Das] ausführliche, letzte Kapitel über ‚Die Kräfte des Phantoms und die Stigmatisation‘ artikuliert vor dem Hintergrund des exklusiven Anspruchs des ‚wahren‘ Christus‑Verständnisses und der rigiden Abweisung alles ‚Sinnlichen‘ eine resolute Polemik gegen die ‚Visionen‘ stigmatisierter Menschen von der Zeitenwende und warnt am Ende in einem kompromisslosen Ton vor diesen ‚Abwegen‘. Ihre Schilderungen seien äußerlich, zu sinnlich, zu leibhaftig und katholisch; sie entsprängen einem somnambulen, leibgebundenen Bewusstseinszustand und seien daher ungeeignet für die rein geistige, freie und bewusste Beziehung zu Christus. Die Polemik mündet schließlich in dem radikalen Verdikt Prokofieffs: dass das „tief unchristliche Element eines solchen Zugangs [in „Ferngesichten“] auch zu den Ereignissen der Zeitenwende“ (S. 183) „in Wirklichkeit nicht zu Ihm [Christus] hin, sondern von ihm fort“ (S. 193) führten.
Diese Exkommunizierung ausgewiesener Christen und pietätlose Missachtung der leidvollen Lebensgeschichten stigmatisierter Menschen (deren karmische Gründe in früheren Erdenleben man doch bedenken könnte) erschrecken mich! Wie kommt es zu dieser Anathematisierung? Warum warnt Prokofieff so heftig vor den beiden stigmatisierten Persönlichkeiten früherer Jahrhunderte, die er ausdrücklich nennt, vor Anna Katharina Emmerich (1778‑1824) und Therese Neumann (1898‑1962), die doch in der anthroposophischen Bewegung keine Rolle spielen und von daher auch keine ‚Gefahr‘ bedeuten? [...] Wer behauptet denn die Gleichstellung der Schauungen einer Anna Katharina Emmerich mit den geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiners, vor der Prokofieff warnen zu müssen glaubt? [...] Bedeuten Unterschiede in den Darstellungen, die anderthalb Jahrhunderte auseinanderliegen, zudem durch einen einschneidenden Epochenwechsel (Ende des Kali Yuga) getrennt, und die sich auf verschiedenen Erkenntnisebenen bewegen, denn gleich Widersprüche? Was ist das für ein ungeschichtliches und unmethodisches Denken?
Wenn Prokofieff mit der Sicherheit seiner anthroposophischen Nomenklatura erklärt: „Mit der Anthroposophie und ihren geistigen Forschungen hat das alles nichts zu tun“ (S. 174), dann fragt sich der Leser: Wen meint er denn damit, wo doch Anna Katharina Emmerich die Anthroposophie nicht kennen beziehungsweise mit ihr in einen Widerspruch treten konnte? [...]
Der Beobachter der gegenwärtigen anthroposophischen Szene durchschaut aber rasch den Hintergrund der Polemik gegen die offensichtlich nur vorgeschobenen ‚Gegner‘: die eigentliche Zielrichtung des Angriffs, der die Anthroposophie zu verteidigen vorgibt, geht auf die Persönlichkeit Judith von Halles, Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die mit einer Reihe von ‚Beiträgen zum Verständnis des Christus‑Ereignisses‘ auf der Grundlage konkreter Erfahrungen, die sich ihr nach ihrer Stigmatisation (Ostern 2004) ergeben haben, und der geisteswissenschaftlichen Durchdringung derselben auf dem Boden der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgetreten ist. Dass Prokofieff uneingestandenermaßen in erster Linie mit Judith von Halle abrechnet, wird daraus deutlich, dass er mit seiner Kritik die geistigen Grundlagen der Anthroposophie auf dem Erkenntnisweg zu Christus schützen will, was nur ihr gegenüber Sinn macht, weil nur sie aus und mit diesen Grundlagen arbeitet. Das Buch Prokofieffs nennt sie und ihre Forschungen aber mit keinem Wort – obwohl es in der Sache auf sie abzielt. So ist es ein unehrliches Buch! [...]
Die vorgeschobene Kritik zieht in keiner Weise. Die Art der Darstellung Judith von Halles, die eigene Erfahrungen und geisteswissenschaftliches Denken auf dem Boden des anthroposophischen Schulungsweges verbindet und die Judith von Halle selbst in methodischen Vor‑ und Nachbemerkungen ihrer ‚Beiträge‘ über diese beiden Erkenntnisebenen unmissverständlich deutlich macht, spricht von einer gänzlich anderen, vollbewussten Erkenntnisweise. [...]
Warum opponiert Prokofieff mit der wiederholten Ausschließung: „Nicht mit physischen Sinnen“, wo doch der Auferstehungsleib eine Verwandlung, eine Verklärung des physischen Leibes anlegt? [...] Die ‚Gesichte‘ stigmatisierter Menschen scheinen ‚sinnlich‘ – sind sie deshalb Ausgeburten des physischen Leibes? Welchen Einfluss hat der Auferstehungsleib auf die ‚Sinnlichkeit‘ des Leibes? [...] Prokofieff, hier Vertreter des östlichen Christentums, sieht in den offenen, blutenden Wundmalen als bleibenden Stigmata des Leidens eine ‚katholische‘ Indoktrination (S. 218f.), die er ablehnen muss; aber das Blut, das aus den Wunden Christi strömt, ist die Ausgangssubstanz der ganzen Gralsgeschichte – sollte das nur von symbolischer Bedeutung sein?
Was wissen wir denn von den außerordentlichen Schicksalen der (bleibend) stigmatisierten Menschen, von ihren Erlebnissen und Tätigkeiten (Übungen) in früheren Erdenleben mit dieser Konsequenz der Stigmatisation und den ‚Gesichten‘ hinsichtlich der Ereignisse zur Zeitenwende? Und was berechtigt uns, diese zu ignorieren oder gar abzuweisen – statt zuzuhören, was sie sagen, wenn sie in bestimmten geschichtlichen Momenten und Gemeinschaften auftreten? [...]
Das verdrängte wahrhaftige Empfinden
In Zimmermanns Aufsatz fällt als erstes die Formulierung auf, dass „notgedrungen jeder sein durch Erziehung und religiöse Bedürfnisse geprägtes Christusbild in die anthroposophische Bemühung hineinträgt.“ Die wahrhaft anthroposophische Bemühung beginnt erst dort, wo man all diese Bilder und sonstigen Prägungen ablegen kann! Dass dies fast überhaupt nicht geschieht, macht die Tragik der heutigen „Anthroposophie“ aus.
Vieles von dieser Tragik zeigt auch der folgende Absatz: „Es stellt für den Leser eine hohe Anforderung dar, all diese gewaltigen Dimensionen von Gipfel zu Gipfel mitzuverfolgen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren oder aber alles ins Prosaische herunterzuziehen. Der große Respekt des Verfassers selbst, der gegenüber der Thematik durchwegs zu spüren ist, kann dabei eine Hilfe sein.“
Was bei Rudolf Steiner tatsächlich gewaltige Dimensionen sind, wird hier zu (sicher im besten Willen) bemühten Phrasen, angewandt auf die abstrakten Zusammenstellungen von Prokofieff, die selbst ganz real Opfer beider Tendenzen sind: Sie verlieren die Bodenhaftung und sie fallen ins Prosaische ab. Das Gewaltige dessen, worüber da gesprochen wird, ist nur noch Schein – es ist schein-heilig, weil es in Prokofieffs Zusammenstellungen ganz abstrakt wird. Natürlich versucht man, im eigenen Gefühl gegenüber diesen Worten Rudolf Steiners über das Christus-Wesen eine heilige Scheu zu empfinden – und läuft Gefahr, dann auch die eigene Schein-Heiligkeit nicht mehr zu bemerken. Angesichts der Abstraktion muss man vielmehr die wahrhaftige Empfindung wirklich erleben können, die einem sagt: „Das ist eine Abstraktion. Hier kannst Du keine heilige Scheu empfinden!“ – Als ob der „große Respekt“ Prokofieffs, der „gegenüber der Thematik durchwegs zu spüren ist“, einem eine Hilfe sein könnte! Gegenüber diesem heiligen Thema wäre wohl mehr notwendig, als „großer Respekt“ – aber auch diese Worte zeigen im Grunde die Hilflosigkeit des Gefühls, wenn es sich den Ausführungen Prokofieffs nähert und verzweifelt versucht, die „richtige Stimmung“ hervorzurufen.
Bei der Besprechung des Anhangs über die Frage der Stigmatisation stellt Zimmermann richtig fest, dass Prokofieff, „sich wiederum eng an Rudolf Steiners Werk orientierend“ zeigt, dass Stigmata mit dem Phantom oder dem christlichen Einweihungsweg nichts zu tun haben und sinnliche Schilderungen der Zeitenwende einem leibgebundenen Bewusstsein entstammen und den Blick auf den gegenwärtigen Christus, der geistig real gefunden werden muss, verstellen. Jedoch bleibt Zimmermann auch hier dem Vorgehen Prokofieffs gegenüber blind, indem er wie dieser Franziskus, Katharina von Emmerich und Theresa von Konnersreuth in eine Reihe stellt – und weder auf die grandiose Entwürdigung des Franziskus eingeht, noch auf Prokofieffs Grundirrtum, man könne Franziskus und den christlichen Schulungsweg überhaupt in einen Zusammenhang bringen und daraus irgendwelche „Beweise“ konstruieren (siehe meine ausführliche Kritik).
Nur leise deutet sich das richtige Empfinden an, indem Zimmermann zugibt, der Leser könne den Eindruck haben, Franziskus und die beiden Frauen „seien doch zu einseitig beschrieben“, aber er weist dies gleich ab, indem er sagt, es gehe Prokofieff einzig darum, „auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus einem Verkennen von Rudolf Steiners Werk erwachsen“. Nun – gerade Prokofieff verkennt dieses Werk völlig, indem er Versatzstücke von Steiner-Zitaten zu einem „Beweis“ hinbiegt, der schon deshalb nichts beweisen kann, weil er rein äußerlich geführt ist und ganz und gar aus falschem Verständnis, Entwürdigungen heiligster Tatsachen und Verdrehungen aufgebaut ist.
Wenn Zimmermann zum Schluss fragt, „ob es wohl möglich ist, über so eine zentrale Frage in eine offene geistige Auseinandersetzung zu kommen, in kompromissloser Erkenntnissuche bei gleichzeitigem Respekt und seelischer Toleranz dem Mitstreiter gegenüber.“, stellt sich die ganze Frage nach dem Wesen von Erkenntnis. Was ist denn „geistige Auseinandersetzung“? Eine Auseinandersetzung in dieser Weise und mit diesen Methoden, mit dieser Abstraktion auch, hat eigentlich nur mit Geistlosigkeit zu tun – welche „Ansichten“ auch immer vertreten werden. Und was für „Mitstreiter“ sind wohl gemeint? Jene, die Judith von Halle „verteidigen“? Die große Unwahrhaftigkeit Prokofieffs macht Zimmermann jedenfalls voll mit, indem auch er sie (um die es eigentlich geht) mit keinem Wort erwähnt...
Komplexität und Autoritätsglaube
Zu dem Aufsatz von Dietrich Rapp ist noch wesentlich mehr zu sagen, denn er deckt die Unwahrhaftigkeit Prokofieffs zwar ganz klar auf, jedoch nur, um dann Judith von Halle wieder ganz auf den Boden der Geisteswissenschaft „herüber-zu-argumentieren“. Man steht also wiederum vor der vollständigen Erkenntnisfrage. Die Steiner-Zitate, die Prokofieff gleich zu Beginn anführt, zeigen, dass Stigmatisation und Schulungsweg nichts miteinander zu tun haben, aber die Schilderungen Judith von Halles unterscheiden sich dennoch von denen einer Katharina von Emmerich, zumal sie die Anthroposophie untrennbar mit in ihre Schilderungen hineinzieht – Dietrich Rapp weist richtig darauf hin, dass Prokofieffs gesamte Ausführungen allein schon dadurch im luftleeren Raum schweben.
Kurz sei darauf eingegangen, dass Rapp erwähnt, wie Prokofieff die „innere Arbeit am Grundsteinspruch“ als den Weg zu einem bewussten und „erkennenden Erleben der Wirklichkeit der Auferstehung“ sieht. Dies ist natürlich eng mit der dogmatischen Behauptung einer noch immer „lebendigen Weihnachtstagung“ verbunden. Dadurch, dass man den Grundsteinspruch immer wieder mystifiziert und sämtliche in ihm verborgenen Wahrheiten auszuloten scheint, hat man sich noch keinen einzigen Schritt in die geistigen Welten erhoben – sondern nur immer tiefer in die Illusion einer „würdigen Nachfolge“ verstrickt.
Man sollte stattdessen, wie Rudolf Steiner betont, mit dem Erleben des Geistes wirklich Ernst machen. Dieser Geist kann im gesamten Werk Rudolf Steiners gefunden werden – und dennoch muss man selbst mit dem Erleben des Geistes ernst machen. In Prokofieffs Zusammenstellungen ist wirklicher Geist nicht zu finden, „profunde Kenntnisse von Rudolf Steiners Werk“ sehr wohl, intellektuelle Zusammenstellungen größter Komplexität sehr wohl, wahrhaftiger Geist aber nirgendwo.
Dietrich Rapp unterstützt die autoritätsgläubige Haltung noch, wenn er schreibt: „Die Darstellungen dieser drei Kapitel vermitteln tiefe, die religiöse Empfindung anrührende Einsichten in das christliche Mysterium der Auferstehung. Der Leser folgt ihnen, dankbar für die große Übersicht, gerne. Die wiedergegebenen umfassenden und komplexen okkulten Zusammenhänge eröffnen einen Horizont, in dem das Streben nach einer bewussten Verbindung mit dem Christus‑Impuls Orientierung finden kann.“ – Der Leser sollte dieser abstrakten Übersicht gar nicht dankbar folgen! Und wessen Streben nach Christus in dieser „umfassenden Wiedergabe komplexer okkulter Zusammenhänge“ Orientierung findet, dessen Streben ist im Grunde schon fehlgeleitet und irregeführt worden – nämlich in die Abstraktion hinein, dorthin, wo der lebendige Christus niemals zu finden sein wird.
Rapp beschreibt das richtige Empfinden, wenn er sagt: „Doch im Grunde bleibt das Buch in seinem kompendialen und apodiktischen Stil, bei allem Pathos des [angeblichen!] Mitlebens mit den Inhalten, begrifflich theoretisch; es argumentiert im Kontext der Rudolf‑Steiner‑Gesamtausgabe und versucht darin durch gedankliche Schlussfolgerungen, auch neue okkulte Zusammenhänge zu erarbeiten.“
Unverständnis des Geistigen und suggestive Behauptungen
Nun folgt aber die Wende in Rapps Ausführungen – die Verteidigung von Judith von Halles Schauungen. Erstaunlich genug ist, dass er selbst zugibt, dass es „ja doch selbstverständlich“ ist, dass „nur ein sinnlichkeitsfreies, leibunabhängiges Denken auf dem (anthroposophischen) Schulungsweg sich geeignet macht, ein sachgemäßes, bewusstes Verhältnis zur geistigen Welt einzugehen.“ und dann sagt, dass dieses zu „Wahrnehmungen (Offenbarungen) im Raum des intuitiv Gedachten“ kommen muss, „wenn die geistige Wirklichkeit erreicht und erfahren werden soll“. Unmittelbar darauf fährt er jedoch plötzlich fort: „Was macht denn die sinnliche Wahrnehmung insbesondere so verdächtig [...] Als ob sich das Sinnliche nicht geistig berühren ließe...“
Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen: Rapp sagt richtig: Nur das sinnlichkeitsfreie und leibfreie Denken kann zur Erfahrung der geistigen Wirklichkeit kommen! Und unmittelbar danach: Auch das Sinnliche lässt sich geistig berühren! Dies ist eben nicht der Fall, kann nicht der Fall sein. Das Geistige kann nur das Geistige berühren und erkennen. Es kann auch nur das Geistige im Sinnlichen erkennen, nicht das Sinnliche selbst. Dass Rudolf Steiner das Antlitz des Menschheitsrepräsentanten gestalten konnte, verdankte er seiner rein geistigen, intuitiven Begegnung mit dem Christus-Wesen – und dieses rein geistige, nicht-sinnliche, aber sehr wohl das Geistig-Physische mit einschließende Erleben vermochte er dann in die sinnlich-materielle Substanz des Holzes hineinzugestalten. Mit diesem reinen Geist-Erleben haben die von vornherein sinnlichen Schauungen Judith von Halles nichts gemein.
Prokofieffs Satz, diese „Gesichte“ führen „in Wirklichkeit nicht zu Ihm [Christus] hin, sondern von ihm fort“, bezeichnet Rapp dann als erschreckende „Exkommunizierung ausgewiesener Christen und pietätlose Missachtung der leidvollen Lebensgeschichten stigmatisierter Menschen“. Doch worum geht es? Es geht um die Wirklichkeit des lebendigen, seit Seiner „Himmelfahrt“ nur im rein Geistigen zu findenden Christus. Judith von Halle erlebt die Ereignisse der Zeitenwende mit – mit welcher Objektivität auch immer –, aber Christus ist nicht mehr sterbend, leidend, auferstehend, er ist heute der Auferstandene. Es führt heute wahrhaftig von Ihm weg, wenn man beschreibt, wie er gekreuzigt wurde, wie die Kreuzesnägel hergestellt wurden... Und es führt von Ihm weg, wenn man beschreibt, wie er selbst ein Lamm geschächtet habe (was Er nicht tat!), wie Elohim angeblich das Ätherische von Hautfetzen des Christus aufsammeln und was für furchtbare, sinnlich pervertierte, völlig falsche Schauungen noch geschildert werden! Das alles ist tief unwahr – man kann sich fragen, woher diese Bilder und Erlebnisse kommen, aber sie sind nicht die Wahrheit und sie führen überall in die Irre, niemals zu Christus.
Rapps Begriff „Exkommunizierung“ geht völlig fehl, denn hier geht es nicht um konfessionelle oder andere Vereinigungen, aus denen jemand ausgeschlossen werden kann, es geht um die Frage, wo der lebendige Christus zu finden ist. Die Wahrheit des Satzes „...führt nicht zu Ihm“ erweist sich nicht dadurch, dass Prokofieff ihn ausspricht, sondern durch die Wirklichkeit selbst.
Ehrfurcht und Liebe muss man gegenüber der Wahrheit haben, gegenüber dem Leiden geht es nicht um „Pietät“, sondern um Mitleid. Wenn Judith von Halle an ihren Stigmata leidet, kann man Mitleid mit ihr haben; man muss aber auch Mitleid mit den Irrtümern haben, in die sie verstrickt ist und die sie für Wahrheit hält, weil die Stigmatisation und die drastischen, unmittelbaren Schauungen die Wahrheit zu verbürgen scheinen. Die Leiden eines Stigmatisierten verbürgen jedoch nie die Wahrheit seiner Erlebnisse, ebenso wenig wie die Leiden eines Besessenen, mit dem man ebenso Mitleid haben muss.
Die unklaren Gedanken im Aufsatz von Rapp setzen sich fort, wenn er schreibt: „Bedeuten Unterschiede in den Darstellungen, die anderthalb Jahrhunderte auseinanderliegen, zudem durch einen einschneidenden Epochenwechsel (Ende des Kali Yuga) getrennt, und die sich auf verschiedenen Erkenntnisebenen bewegen, denn gleich Widersprüche? Was ist das für ein ungeschichtliches und unmethodisches Denken?“ Rapp behauptet also, es sei richtiger, in den Schauungen von Katharina von Emmerich und den Schilderungen Rudolf Steiners keine Widersprüche zu sehen. Das aber hieße, Rudolf Steiner würde „eigentlich“ das Gleiche beschreiben, nur dank des zuende gegangenen Kali Yuga nun – ja, was: reiner ... wahrer? Rudolf Steiner betont jedenfalls, dass in jenen Schauungen vieles ganz richtig sei, dass sie sich aber nie zur Wahrheit und zur lebendigen Erkenntnis erheben. Und allein darum geht es: Um die wirkliche Begegnung mit dem Christuswesen im Unterschied zu allen Schauungen, die eine Wirklichkeit nur vorgaukeln und bei denen man nie wissen kann, was unter Umständen „richtig“ ist, was halbrichtig ist und was eine Illusion oder gar furchtbare Lüge ist.
Rapp kann dann zunächst nichts weiter tun, als Judith von Halle als „Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ auszuweisen, die mit einer Reihe von ‚Beiträgen zum Verständnis des Christus‑Ereignisses‘ auf der Grundlage konkreter Erfahrungen, die sich ihr nach ihrer Stigmatisation (Ostern 2004) ergeben haben, und der geisteswissenschaftlichen Durchdringung derselben auf dem Boden der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgetreten ist.“ Das alles sind reine Worte, rein äußere Fakten, die den Eindruck erwecken sollen, dass Judith von Halle auf dem Boden der Anthroposophie steht. Rapp deckt die Unwahrhaftigkeit Prokofieffs auf, der „mit seiner Kritik die geistigen Grundlagen der Anthroposophie auf dem Erkenntnisweg zu Christus schützen will, was nur ihr [Judith von Halle, die er nicht erwähnt!] gegenüber Sinn macht, weil nur sie aus und mit diesen Grundlagen arbeitet.“ – aber in diesen letzten Worten steckt dann unvermittelt die unwahre Behauptung Rapps.
Gesteigerte Irreführung
Die alles entscheidende Frage ist eben, aus welcher Quelle die „Erkenntnisse“ Judith von Halles stammen – Rapp gibt in einem Nebensatz die Antwort als reine Behauptung! Rapp behauptet eine „vollbewusste Erkenntnisweise“ Judith von Halles (im Gegensatz zu Katharina von Emmerich), doch diese Illusion entsteht nur dadurch, weil sie ihre Schauungen mit scheinbar anthroposophischen Ausführungen erläutert und durchdringt. Die Tatsache, dass sie dies tut, ist für Rapp Beweis für „geisteswissenschaftliches Denken“ – und dies ergänzt er durch die nächste Behauptung, sie würde beides „auf dem Boden des anthroposophischen Schulungsweges“ miteinander verbinden.
Was liegt hier vor? Es werden Schauungen mit Hilfe der „Anthroposophie“ interpretiert bzw. „vertieft“ oder scheinen auch Schilderungen Rudolf Steiners ähnlich zu sein bzw. diese sogar zu „vertiefen“ – und schon werden sie zu „geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ erklärt. Dabei weist Rudolf Steiner selbst immer wieder darauf hin, dass geisteswissenschaftliche Erkenntnisse nur auf wirklich leibfreie, sinnlichkeitsfreie Weise erworben werden können und natürlich selbst auch sinnlichkeitsfrei sind. Es gibt keine geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, die auch nur irgendwelche sinnlichen Reminiszenzen aufweisen!
Das heißt aber: Wenn man sinnliche Schauungen und „Anthroposophie“ amalgamiert, entsteht ein furchtbarer Irrtum. Dass Judith von Halle „völlig bewusst“ vorgeht, ist dazu kein Widerspruch: Man kann auch vollbewusst im Irrtum leben – selbst wo es um rein geistige Welten geht, die Judith von Halle überhaupt nicht berührt.
Rapp beteiligt sich dann ganz und gar an der Irreführung, wenn er darauf verweist, dass „doch der Auferstehungsleib eine Verwandlung, eine Verklärung des physischen Leibes anlegt“ und fortfährt: „Die ‚Gesichte‘ stigmatisierter Menschen scheinen ‚sinnlich‘ – sind sie deshalb Ausgeburten des physischen Leibes? Welchen Einfluss hat der Auferstehungsleib auf die ‚Sinnlichkeit‘ des Leibes?“ Darauf ist zu antworten: Scheinen die Schauungen sinnlich oder sind sie sinnlich? Oder ist das Sinnliche vielleicht nur eine (Sinnes-)Täuschung? Man möchte über die Leere der Worte, der suggestiven Argumentation verzweifeln! Sinnliches entsteht auf der Grundlage des physisch-sinnlichen Leibes, anderes ist nicht möglich. Der Auferstehungsleib hat auf die Sinnlichkeit des Leibes sozusagen überhaupt keinen Einfluss, sondern er macht gerade unabhängig von diesem sinnlichen Leib – damit aber auch frei von seiner Sinnlichkeit! Wo die Sinnlichkeit noch vorhanden ist, kann nicht der Auferstehungsleib sein.
Natürlich durchdringt das Geistige das Sinnliche und durchdringt im Erdenleben auch jeder Keim des Auferstehungsleibes den physisch-sinnlichen Körper. Die Frage ist aber: In welchem von beiden (er)lebt man – im sinnlichen oder im geistigen? Davon hängt das Erleben, die Wahrnehmung ab – sie ist entweder sinnlich oder geistig. So ist es auch mit dem Blut des Erlösers: Nicht die materielle, sinnliche Substanz ist entscheidend, sondern die geistige Substanz, die das Wesen dieses Blutes ausmacht. Aber hier war noch mehr: In dem Leib, den der Christus durchdrungen hatte, wurde das Sinnliche selbst bis in die Materie hinein vergeistigt. So beschreibt Rudolf Steiner auch, wie der Leib des Christus Jesus im Grab gleichsam zu Asche zerfiel. – Aber was hier vorliegt, kann niemals mit etwas anderem verglichen werden. Rapp tut dies jedoch, indem er blutende Wundmale von Stigmatisierten und das Blut Christi in einem Satz in Zusammenhang bringt.
In einem letzten Schritt wird die Irreführung dann durch die Karmafrage gesteigert: „Was wissen wir denn von den außerordentlichen Schicksalen der (bleibend) stigmatisierten Menschen, von ihren Erlebnissen und Tätigkeiten (Übungen) in früheren Erdenleben mit dieser Konsequenz der Stigmatisation und den ‚Gesichten‘ hinsichtlich der Ereignisse zur Zeitenwende? Und was berechtigt uns, diese zu ignorieren oder gar abzuweisen – statt zuzuhören, was sie sagen, wenn sie in bestimmten geschichtlichen Momenten und Gemeinschaften auftreten?“
Nun, zum Karma kann man erst einmal nichts sagen, und schon sind einem scheinbar alle Argumente genommen, denn Rapp spricht von „außerordentlichen Schicksalen“, von Übungen in früheren Erdenleben, von der Konsequenz der Stigmatisation und der Schauungen – alle Worte suggerieren, dass es sich hier um (in rechtmäßigem Sinne) weit entwickelte Individualitäten handelt, die – offenbar zum Wohle aller – „in bestimmten geschichtlichen Momenten und Gemeinschaften auftreten“ und deren Schauungen Früchte eines langen vorangegangenen Weges sind! Dies wird als Möglichkeit und eigentlich als Behauptung hingestellt, obwohl Rudolf Steiner alle in dieser Weise auftretenden Schauungen immer als atavistisch und unzeitgemäß bezeichnet hat – und es aus Judith von Halles eigenen Schilderungen klar hervorgeht, dass sie nicht frei lassen, sondern unvermeidlich auftreten! – Allein schon dadurch wird ihr unchristliches Wesen offenbar.
Diese Ausführungen mögen gezeigt haben, was wahre Geistes- und Christus-Sucher berechtigt, die „Gesichte“ von Judith von Halle zu ignorieren und abzuweisen.