2009
„Polemik“? Über die bequemen Vorwürfe der Abstraktion
Vom wahren Willen und seinen Gegnern
„Der lebendige Rudolf Steiner“ – dieses Buch ruft unterschiedlichste Reaktionen hervor, von tiefer Dankbarkeit für das darin Gesagte bis hin zu Totschweigen und offener Ablehnung. Nicht selten macht man der Autorin auch den Vorwurf eines polemischen oder moralisierenden Stils. Der folgende Aufsatz belegt die Haltlosigkeit dieser Vorwürfe und zeigt ihre Ursachen.
Nicht selten wird der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller der Vorwurf gemacht, sie würde polemisch oder moralisierend schreiben.[1] Diese Empfindung kann jedoch nur derjenige haben, der ganz abstrakt anschaut – sowohl ihre Schilderungen, als auch die Realität der Anthroposophie.
Mieke Mosmuller schildert – wie Rudolf Steiner – Realitäten. Sie schildert ohne zu moralisieren, rein, wie es ist. Um dies mitempfinden zu können, muss man den inneren Willen aufbringen, das Erleben der Realität zuzulassen. Es ist viel einfacher, diesen inneren Willen nicht aufzubringen und stattdessen weiterhin abstrakt anzuschauen und aufgrund dieser abstrakten Anschauung die abstrakte Vorstellung zu bilden: „Im Grunde ist alles in Ordnung, die Anthroposophie ist lebendig.“
Wenn man diese Vorstellung hat, möge man auch ehrlich sein und nicht sagen: „Mieke Mosmuller polemisiert bzw. moralisiert“, sondern: „Mieke Mosmuller hat Unrecht.“ Damit ist man bei der Erkenntnisfrage.
Die Wahrheit hat jedoch nichts mit Wunschdenken oder abstrakten Vorstellungen zu tun. Die Frage ist also: Wie kommen Menschen, die die heutige „Anthroposophie“ für lebendig halten, zu ihrem Urteil? Dieses hängt offensichtlich sehr davon ab, was man überhaupt unter Anthroposophie versteht. Und hier liegt der Ursprung der Abstraktion jener „Anthroposophen“, die das, was Mieke Mosmuller konstatiert, zurückweisen:
Man hält die heutige „Anthroposophie“ für lebendig, weil man überhaupt nie erlebt hat, was lebendige Anthroposophie ist. Dann muss man natürlich seine eigenen Vorstellungen an ihre Stelle setzen – und so entsteht jene furchtbare Lüge, die heute das allgemeine Bild der Anthroposophie formt. Worin besteht diese Lüge? Darin, dass man es für Anthroposophie hält, wenn man Vorträge hält, Tagungen organisiert und anderes mehr, das sich dann der anthroposophischen Begrifflichkeit bedient, ohne zu merken, wie man ganz im Abstrakten, Theoretischen, Unwahren verbleibt.
Man hält solchen Aktionismus, solche äußerliche Willensentfaltung für verwirklichte Anthroposophie. Man glaubt, indem man über die Inhalte der Schriften und Vorträge Rudolf Steiners spricht und sie in sich aufnimmt, hätte man sich über das Verstandesdenken erhoben, die Bewusstseinsseele erreicht. Man merkt nicht, dass man überall in Abstraktionen verbleibt – und gerade dies der innere Beweis des beharrenden Verstandesdenkens ist, selbst wenn es „geistigen Inhalt“ aufgenommen hat.
Die reale Anthroposophie ist etwas vollkommen anderes. Sie beginnt mit der realen Verwandlung des Denkens, mit einer realen Übung und Verstärkung des willensdurchdrungenen Denkens, wodurch dieses schließlich innerlich real anschaubar wird.
Wer dies nicht als wirkliche Grundlage der Anthroposophie anerkennen kann, verbleibt in seiner Abstraktion. Er leugnet die Notwendigkeit eines solchen Willenseinsatzes, weil er diesen Willen nicht aufbringen will.
Wer ihre Schilderung ablehnt, bestätigt sie
Es ist bequem zu sagen, Mieke Mosmuller habe Unrecht – die Alternative nämlich wäre: seinem eigenen Un-Willen (oder bestenfalls: nicht vorhandenen Willen) ins Auge zu schauen. Anthroposophie fordert den ganzen Menschen. Sie ist nicht „billig zu haben“ (auch nicht für sogenannte „Berufsanthroposophen“!). Wer sie verwirklichen will, kommt um das Bekenntnis der eigenen Abstraktion nicht herum. Das Wesen der Anthroposophie ist nur da zu finden, wo das Denken ganz und gar verwandelt wurde, zu lebendiger Kraft geworden ist, um jenes Wesen in sich aufzunehmen.
Wer ablehnt, was Mieke Mosmuller schildert, lehnt die Anthroposophie selbst ab. Er will nicht die Anthroposophie, sondern ihre Illusion. Er will nicht lebendige Realität, sondern Abstraktion. Er will nicht die wirkliche Anthroposophie, sondern ihre Mumie. Und genau dadurch bestätigt er das, was Mieke Mosmuller beschreiben muss...
Der Materialismus wird – wie Rudolf Steiner betonte – nicht dadurch unwahr, dass man ihn bekämpft. Er ist wahr, man muss ihn in sich selbst un-wahr machen. Ebensowenig kann man Mieke Mosmuller widerlegen, indem man ihr „Polemik“ vorwirft. Sie hat Recht, denn die Anthroposophie ist sozusagen „materialistisch“, weil sie tot und abstrakt ist. So wie der Materialist auf die Nervenbahnen schaut und glaubt, das Denken an einem Zipfel zu halten, so glaubt der „Anthroposoph“, wenn er auf Rudolf Steiners Vorträge schaut, Seminare und Tagungen hält usw., er halte die Anthroposophie an einem Zipfel. Mieke Mosmuller will darauf hinweisen, dass dies nicht so ist. Wer sie widerlegen will, muss die Grundlagen der Anthroposophie – auf die vor allem sie immer wieder hinweist – in sich selbst innerlich wahrmachen.
Die Zukunft der Anthroposophie hängt davon ab, dass es einige Menschen gibt, die in voller Wirklichkeit das lebendige Denken als geistige Kraft entwickeln. Rudolf Steiner hat auf diese Menschen gehofft, solange er lebte, aber er fand niemanden...
Fußnoten
[1] So auch Stefan Weishaupt in seiner insgesamt recht positiven Rezension in Die Drei, 3/2009.