2009
Mieke Mosmuller – eine Apologie
Ein grundlegender Aufsatz über eine Rezension in zwei Versionen und über Fehlurteile gegenüber Mieke Mosmuller und die Anthroposophie im Allgemeinen.
Inhalt
Einleitung
Die erste Version: Ein großes „Zwar“ | Und das Aber? | Wo steht/stand der Rezensent?
Die zweite Version und das Wörtchen „nie“ | Der Vorwurf der Unterstellung
Der Hauptvorwurf des Unsozialen... | ...und seine zweifelhaften Ursprünge
Von wirklichem Mitleben im Denken
Die Diskursgesellschaft als Tod der Anthroposophie
Einleitung
„Der lebendige Rudolf Steiner. Eine Apologie“ – geschrieben von einer wahrhaftigen Anthroposophin – ist das nicht ein Buch, das auf viel Interesse, für viel Gesprächsstoff sorgen müsste? Ja, es müsste. Aber – nein, es tut es nicht.
Nachdem der „Europäer“ in seiner Ausgabe Oktober 2008 meine Buchbesprechung veröffentlicht hatte und dann auch in der „Gegenwart“ eine kürzere Fassung erscheinen durfte, blieb es still. Keine Gespräche, keine Diskussionen, sondern Totenstille. Eine solche Totenstille, wie sie zu der „Mumie“ passt, als die Mieke Mosmuller die heutige Anthroposophie bezeichnet.
„Das Goetheanum“ antwortete auf zwei Mails im Juli 2008 überhaupt nicht, nachdem in den Vormonaten drei andere Aufsätze von mir zu kritischen Themen (Judith von Halle, anthroposophischer Journalismus, infoseiten Anthroposophie) abgelehnt worden waren.
„Die Drei“ lehnte meine Buchbesprechung als „distanzlos“ ab. Herr Stockmar schrieb mir damals kurz angebunden: „Diese Besprechung möchten wir nicht bringen. Sie charakterisiert nicht etwas, sondern urteilt vor allem in einer für uns nicht nachvollziehbaren Weise. Ihr Gegenstand scheint distanzlos zur Bestätigung der eigenen Auffassung zu dienen.“
Ich antwortete ihm damals:
Danke für Ihre Antwort. Allerdings wundert mich Ihre scheinbare Sicherheit im Herausfinden von Urteilen – und dann noch im Zuordnen der Urteile zu Autorin bzw. Rezensent – und sogar die Datierung solcher Urteile. Mein eigenes Urteil war vor dem Lesen dieses außergewöhnlichen Buches in jedem Fall noch ein anderes als nachher. Überdies habe ich mein eigenes Urteil zurückgehalten und eigentlich ganz die Signatur des besprochenen Buches wiedergegeben. (Man hat ja sogar Rudolf Steiner vorgeworfen, er hätte andere Autoren distanzlos wiedergegeben – und so galt er manchem als Haeckelianer, als Nietzsche-Anhänger usw.). Die Lage der Anthroposophie, die Mieke Mosmuller in ihrem Buch zeichnet, ist erschütternd. Man kann ihr in diesem Urteil folgen. Wenn man es nicht tut, pflegt man eben andere Urteile. Jemandem jedoch Distanzlosigkeit und gar die Instrumentalisierung eines Buches zur Bestätigung der eigenen Auffassung vorzuwerfen, ist erst recht ein schwerwiegendes (von Ihnen in einem einzigen Satz formuliertes) Urteil und zeugt nicht gerade von Vorurteilslosigkeit. Was die angeblich mangelnde Nachvollziehbarkeit angeht, habe ich mir nichts vorzuwerfen, außer vielleicht die Schwierigkeit, innerhalb von zwei Seiten einiges Wesentlichste aus einem Buch von 240 Seiten wiederzugeben.
Fortan wurde „Der lebendige Rudolf Steiner“ also totgeschwiegen. Nicht ein Mensch fand sich, der das „heiße Eisen“ anpacken und eine Besprechung für das Goetheanum schreiben wollte (es sei denn, es wurden auch andere Beiträge abgelehnt). Dann aber erschien in „Die Drei“ im März 2009 doch noch eine weitere Besprechung.
Die erste Version: Ein großes „Zwar“
Sehr vielsagend und aufschlussreich ist es, dass sich die jetzt zugängliche Online-Version von der Druckversion gravierend unterscheidet. Offenbar muss zwischen der ersten und zweiten Version einiges geschehen sein...
„Von der Schwierigkeit, für jemanden zu sprechen, der nicht mehr spricht“, so heißt der Beitrag von Stefan Weishaupt. Der Autor hält sich genau an die Regeln einer Buchbesprechung: Er bleibt distanziert. Dies macht es einer Redaktion leicht, auch einen kontroversen Beitrag zu bringen oder ein „schwieriges Buch“ besprechen zu lassen. (Ob dies noch irgendetwas mit Anthroposophie zu tun hat, habe ich in ebenjenem Beitrag über „anthroposophischen Journalismus“ scharf angezweifelt – bzw. habe es zu widerlegen versucht).
Sehr neutral werden auf diese Weise in aller Kürze die Inhalte von Mieke Mosmullers Buch wiedergegeben. Die Tatsache, dass sie im Grunde die gesamte heutige Anthroposophie als „tot“ und als „Mumie“ bezeichnet, weil heute der Kern des anthroposophischen Schulungsweges – die Entwicklung und Anschauung des reinen, lebendigen Denkens – nirgendwo ernst genommen und verwirklicht wird, liest sich in der Rezension z.B. so:
„Wo es um das innere Verhältnis zu Rudolf Steiner und um das innere Verhältnis zur Anthroposophie geht, formuliert die Autorin Standpunkte, die sie in Gegensatz bringen zu manchem, was gegenwärtig auf anthroposophischem Felde in Erscheinung tritt [erste Version: zu dem, was heute vielfach anerkannte, institutionalisierte Praxis ist]. Diese Standpunkte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und rufen dadurch sicher bei nicht wenigen Lesern reflexhaft gegenteilige Standpunkte hervor. [...]
Die Anthroposophische Gesellschaft als exoterische Form der Anthroposophie betrachtet Frau Mosmuller als etwas, das in einer innerlich berechtigten Weise seit Rudolf Steiners Tod nicht mehr existiere. Die gegenwärtige Gesellschaft bezeichnet sie als Leichnam. Folglich erscheint ihr die gegenwärtige Praxis, insofern sie von Vertretern der Anthroposophischen Gesellschaft zu deren Erhalt und Förderung ausgeht, als ein Akt der Mumifizierung, nicht als Erscheinungsform einer immer wieder neu zu vergegenwärtigenden Anthroposophie, die sich in diesem Vergegenwärtigen verbunden wissen darf mit der Geistwirksamkeit der ewigen Individualität Rudolf Steiners.“
Nachdem Weishaupt in aller Kürze wiedergegeben hat, was Mieke Mosmuller als „innere Gegnerschaft“ der Anthroposophie bezeichnet, setzt er in der ersten Fassung fort:
„Nun kann man aber, bei allem apologetischen Charakter, in welchem diese Ausführungen niedergeschrieben sind, nicht in Abrede stellen, dass die geschilderten Phänomene beobachtet werden können. Inwieweit sie als Mangel oder gar Katastrophe empfunden werden können, ist allerdings bereits eine Frage, zu deren wirklicher Lösung eine Apologie mit ihrem urteilenden, polemischen und moralisch appellativen Charakter kaum vorzudringen vermag. Sicher ist die Anthroposophie als Ergebnis fortwährender und in keinem Moment wiederholbarer Geistesgegenwart nur dort lebendig, wo die inneren Voraussetzungen dafür von jedem Einzelnen, der guten Willens ist, geschaffen werden können. Sicher ist mit jeder Form der Veräußerlichung in Gestalt von Institutionen, Ämtern und Bauwerken eine gewaltige Möglichkeit gegeben, sich über die Wirklichkeit geistigen Lebens zu täuschen. Sicher kann die Anthroposophie in ihrem Wesen und Gehalt nicht dadurch besser verstanden werden, dass man auf andere Menschen hinweist, die ähnliche Inhalte vorbringen. Sicher fuhren feuilletonistische Bemühungen in dieser Richtung oftmals zu einer orientierungslosen Pseudomodernität. Sicher ist die sogenannte anthroposophische Szene ein Tummelplatz der Eitelkeiten, deren Stimme im Gewand der Phrase „Authentizität“ Eingang in den medialen Diskursbrei findet. Freilich gerät auch der diplomatische Dialog mit einer exoterischen Beurteilung der Anthroposophie im Handumdrehen auf sumpfigem Grund zu Halbwahrheit und Lüge. Sicher ergeben sich aus derartigen Praktiken tatsächliche Oppositionen, welche zu Recht als Gegnerschaft bezeichnet werden können.“
Dieser Absatz ist insofern höchst interessant, weil er einerseits all die schlimmsten Auswüchse der heutigen Anthroposophie in ihrer Existenz bestätigt – und andererseits zugleich das Anliegen von Mieke Mosmuller entwürdigt und den Stil ihres Buches im Grunde für wertlos erklärt, indem er ihrer Apologie einen polemischen, moralisierenden Charakter unterstellt und dies mit einem sehr negativen Urteil behaftet.
Hier stellen sich eigentlich viele Fragen gleichzeitig: Was für eine Apologie hatte die Autorin denn wirklich im Sinn? Was heißt überhaupt „polemisieren“ oder „moralisieren“? Ist dies in jedem Fall negativ? Tut die Autorin dies überhaupt? Hat eine Apologie wirklich immer „diesen Charakter“? Kann eine Apologie der „eigentlichen“ Absicht wirklich nicht gerecht werden?
Wenn man diesen Absatz liest, kommt man entweder zu dem Schluss, dass die Autorin etwas verrückt oder zum Schreiben recht unfähig sein müsse – oder dass die in diesem Absatz gefällten Urteile ein schönes Beispiel für das Sprichwort sind: „Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul“...
Weishaupt gibt zu, dass die geschilderten Phänomene beobachtet werden können – und zählt sie dann sogar selbst auf! –, jedoch nur um sogleich die Frage aufzuwerfen, ob und inwieweit all diese Phänomene überhaupt als Mangel oder gar Katastrophe zu empfinden sind. Und im selben Atemzug stellt er auch schon fest: Eine polemische Apologie könne darauf jedenfalls keine Antwort geben (könne zu deren Lösung „kaum vordringen“!). Wer ist es hier eigentlich, der polemisch bzw. moralisierend urteilt? Wer ist es denn, der hier moralisierend und apologetisch (!) mit einem siebenmal sich wiederholenden „sicher“ bzw. „freilich“ Phänomene zwar zugibt, sie aber zugleich – in einem zunächst nicht ausgesprochenen „Aber“ – zu relativieren?
Bei alledem muss man sich doch auch einmal die grundsätzliche Frage stellen, wie Mieke Mosmuller zu ihrem scharfen Urteil kommt. Gesetzt den Fall, dass sie Recht hat, dass also all das, was sie in ihrem Buch schreibt und beschreibt, wahr ist, so würde sich auch ihr ganzer Stil aus dem inneren Zusammenhang heraus von selbst erklären. So weit aber wagt ihr offenbar niemand zu folgen – und deshalb braucht es gegen ihre Apologie eine Gegen-Apologie: „Die Dinge liegen überhaupt nicht so schlimm!“, „Diese Frau übertreibt maßlos!“, „Mit einer solchen Polemik ist man doch von vornherein blind!“ und was dann in der Regel der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Urteile mehr sind.
Die Frage ist also: Hat Mieke Mosmuller Recht oder nicht? Und ich sehe eigentlich bei niemandem den Willen, überhaupt auch nur diese Frage einmal in ihrem ganzen Ernst vor der Seele stehen bleiben zu lassen. Die reflexartigen Reaktionen und „gegenteiligen Standpunkte“, die Weishaupt sogar erwähnt, findet man letztlich auch in seiner Gegen-Apologie... Oder doch nicht?
Und das Aber?
Wie geht es in Weishaupts Rezension weiter? Worin besteht das große „Aber“? Dies ist recht seltsam, denn er fährt fort:
„Andererseits wird es der Autorin des Buches durchaus bewusst sein, dass die wohl bekannteste Apologie der Geistesgeschichte, die Apologie des Sokrates, das Todesurteil, das über den Weisen verhängt war, nicht abzuwenden vermochte. [...] Denn nicht darum handelt es sich, ob eine Erkenntnis gefunden werden kann oder nicht, sondern ob sie gefunden werden will. Vor diesem Dilemma steht jede Erkenntnis, die moralische Verbindlichkeit einfordert.“
Mit etwas einfacheren Worten: Das Beispiel Sokrates zeigt, dass jede Apologie überflüssig, weil vergeblich ist – denn wenn eine Erkenntnis nicht gewollt wird, hilft auch Moralisieren nichts...
Auch hier eröffnen sich wieder mehrere Fragen und Widersprüche: Hätte Sokrates sich etwa gar nicht verteidigen sollen? Warum wird bei Sokrates positiv von „moralischer Verbindlichkeit“ gesprochen, bei Mieke Mosmuller dagegen negativ von „moralisierender Polemik“? Für wen schreibt die Autorin denn ihre Apologie – und gegen wen? Ist es nicht eine völlig andere Situation: Sokrates, der seine eigene Apologie hält – und Rudolf Steiners Anthroposophie, über 80 Jahre nach dem Tod des Meisters? Sokrates versucht seinen künftigen Mördern vor Augen zu halten, was sie vor ihrer Tat bedenken sollten – Mieke Mosmuller schreibt im Angesicht einer bereits seit über 80 Jahren angegriffenen und getöteten Anthroposophie ... und angesichts immer unglaublicherer Angriffe und immer größeren Schlafens! Eine Apologie hilft nichts? Nun, auch Rudolf Steiner stand einmal vor der existentiellen Frage, ob er verstummen müsse...
Fest steht, dass man ein wahres Urteil nicht „bewirken“ kann – man kann nur darauf hinweisen. Und so hat Weishaupt hier völlig recht: Wenn eine Erkenntnis nicht gefunden werden will, dann bleibt die edelste Apologie vergeblich... Was er aber scheinbar nicht beachtet, ist, dass Mieke Mosmuller für jene Menschen schreibt, die sich durch ihre Worte berühren lassen und an ihnen tatsächlich zur Erkenntnis kommen... Und von jenen Menschen gibt es hoffentlich auch einige.
Es scheint aber, dass Weishaupt sich von diesem Anliegen der Autorin durchaus hat berühren lassen bzw. dass er ihr Anliegen in gewissem Maße teilt, denn er setzt seine Worte von dem „Dilemma jeder Erkenntnis, die moralische Verbindlichkeit einfordert“ positiv fort:
„Dazu kann das Buch von Mieke Mosmuller Anstoß geben und insofern möchte man ihm eine weite Verbreitung und eine nicht allzu empfindliche und zu dogmatische Leserschaft wünschen.“ Er fügt hinzu, dasselbe ließe sich von Steiners Büchern sagen, und schreibt dann: „Nur insofern das eigene Verhältnis zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner dadurch befeuert wird, ist das Buch von Frau Mosmuller von Wert. Dann nur kann man die dort mit Ernst aufgeworfenen Probleme als Bestandteil und Element des eigenen Erkenntnislebens betrachten. Einem nur äußerlich beschreibenden Erkennen werden diese Probleme nur in Gestalt eines mehr oder minder deutlichen Irrtums oder einer mehr oder minder partiellen Richtigkeit entgegen treten. Dass das Buch von Mieke Mosmuller auch aus dieser äußerlichen Haltung gelesen werden kann, hat durchaus mit dem moralisch appellativen Duktus zu tun, in dem es durchweg geschrieben ist. [...] Es wäre aber schade, wenn die Grundintention, die in diesem Buch konsequent verfolgt wird, wegen einer moralisierenden Art nicht ausreichend zum Bewusstsein käme.“
Zuletzt deutet der Rezensent an, wie die Schüler des Sokrates in seinem Hinweis Trost fanden, sein gleich sterbender Leib sei nicht er, und schließt mit den Worten:
„Nur, was sie im Angedenken an seine Worte zu denken vermochten, spendete ihnen Trost. Es ist sicher an der Zeit, dass das Denken so stark werde, dass es zu schauen vermöchte und der darin zu erlebende Trost zu ebensolcher Gewissheit sich wandle wie sie das sinnlich Angeschaute gewährt.“
Wo steht/stand der Rezensent?
Verwirrt fragt man sich nach dieser Rezension, wo der Rezensent selbst innerlich nun wirklich steht (bzw. stand). Offenbar teilt er ihr Anliegen, soweit er es verstanden hat, sehr weitgehend – und lehnt zugleich die Form, den Stil völlig ab, sei es aus eigener Antipathie dagegen oder aus der scheinbar „objektivierten“ Ansicht, der „Stil“ sei für das Anliegen unpassend, weil andere Leser abschreckend... Letztlich ist seine Rezension ja teilweise selbst eine Apologie des Buches: Er fällt das Urteil „falsche Form“, um trotz dieser Form dem Inhalt eine möglichst „nicht allzu empfindliche und zu dogmatische Leserschaft“ zu wünschen! Es ist, als ob er bei der Leserschaft angesichts seines eigenen vorweggeschickten harten Urteils nun mildernde Umstände erbittet! Die Autorin hat zwar den Ton verfehlt, aber das Anliegen ist doch wertvoll...
Wenn dies so wäre, dann wäre das gesamte Buch verfehlt. Denn wenn jedermann – etwa der Rezensent, aber natürlich auch viele, viele andere Anthroposophen außer ihm – das Anliegen verstehen, kennen, teilen ... wozu dann ein solches Buch, noch dazu mit einer verfehlten Form? Nein – auch hier sagt das Urteil des Rezensenten wieder mehr über ihn als über das Buch. Denn selbst noch der fromme Wunsch auf „möglichst nicht allzu empfindliche und dogmatische Leser“ offenbart doch einmal mehr die wahre Lage der heutigen „Anthroposophie“!
Wer es wirklich wagte, dieser Lage einmal schonungslos (sich selbst nicht schonend) ins Auge zu blicken, würde erkennen, dass man angesichts dieser Lage keine vorsichtigen, keine diplomatischen, keine „erbauliche“ oder andere Sprache wählen kann, wenn es einem um die Wahrheit geht. Und er würde zugleich erkennen, dass die Polemik nicht verfehlt ist, sondern sich gegen eine reale innere Gegnerschaft richtet – dass die Sprache auf der anderen Seite nicht moralisierend ist, sondern tatsächlich die besten moralischen Kräfte im eigenen Inneren aufruft ... wenn sie sich aufrufen lassen.
Das Grundphänomen bei allen Vorwürfen, Mieke Mosmuller sei polemisch (dies mit negativer Bedeutung) und moralisierend, ist doch, dass einem die heutige „Anthroposophie“ wichtiger ist als das Wesen von Anthroposophia. Dazu sollte man sich dann einmal bekennen und nicht immer behaupten, man würde heute die wahre Anthroposophie pflegen. Man sollte sich mit vollem Ernst bekennen, dass man es seit Rudolf Steiners Tod und bis heute nicht geschafft hat, die Anthroposophie lebendig zu machen. Wenn man das, was man heute als „Anthroposophie“ pflegt, auch nur ansatzweise für das hält, was Rudolf Steiner in die Welt bringen wollte, dann hat man ein sehr niedriges Urteil von dem Wesen dieser Anthroposophie und von diesem Meister des Abendlandes (es ist Mieke Mosmuller, die ihn so nennt!)...
Was die Anthroposophie sein könnte, deutet sich doch an in all den Büchern, die diese Anthroposophin schreibt – nicht zuletzt in diesem wunderbaren Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ selber, aber auch in all ihren Romanen (!) und vielleicht am bewegendsten in ihrem Buch „Der Heilige Gral“. Aber keines ihrer Bücher wird in der „anthroposophischen Bewegung“ auch nur ansatzweise besprochen – und wo etwa über „Der lebendige Rudolf Steiner“ gesprochen wird, ist die Abwehr groß... Was offenbart dies?
Die zweite Version und das Wörtchen „nie“
In der Online-Version fällt das ganze letzte Drittel weg – der gesamte Text vom eingangs geschilderten langen Absatz (über die „innere Gegnerschaft“) bis zum Schluss. Stattdessen enthält diese neue, längere Version eine völlig neue zweite Hälfte. Geblieben ist die knappe inhaltliche Wiedergabe. Die zweite Hälfte besteht nun aus Ausführungen, die belegen sollen, dass Mieke Mosmuller kein Verständnis für jene Anthroposophen aufbringe, die sie als „innere Gegnerschaft“ bezeichnet – und damit das hingebungsvolle Interesse für Alles, wie es für Rudolf Steiner so kennzeichnend gewesen sei und wie es für das „Erkennen im sozialen Zusammenhang“ notwendig sei, doch sehr verfehle.
Auf diesen Gedankengang werde ich später eingehen. Zunächst soll betrachtet werden, was zu dieser völligen Änderung des Textes geführt hat. Offenbar waren es Stellungnahmen, die sich für Renatus Ziegler und Michael Muschalle einsetzten bzw. vielleicht auch von diesen selbst.
Zunächst gebe ich wieder, was Mieke Mosmuller schreibt (S. 197ff):
Die erste Art innerer Gegnerschaft richtet sich gegen das Wesen der Umwandlung der Erkenntnis von einer Verstandes-Erkenntnis in eine Geist-Erkenntnis.
Ich kann nicht beurteilen, ob die Männer, die diese Gegnerschaft vertreten, sich ihres eigenen Standpunktes (Gegnerschaft zur Anthroposophie) bewusst sind, oder ob sie sich unbewusst inspirieren lassen. Wenigstens zwei Bücher beinhalten diese Anti-Philosophie der Freiheit: ‚Intuition und Ich-Erfahrung‘ von Renatus Ziegler und ‚Beobachtung des Denkens‘ von Michael Muschalle. Beide untersuchen die rätselhafte Stelle in der ‚Philosophie der Freiheit‘:
‚Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten, sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozess gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen.‘
[...] Es ist merkwürdig, zu sehen, wie diese Philosophen sich in das Wörtchen ‚nie‘ verirren und es plötzlich absolut ernst nehmen. Nehmen sie die übrige Anthroposophie auch wörtlich und für immer unabänderlich?
Die Philosophie der Freiheit spielt sich völlig im Verstandesdenken ab. Rudolf Steiner hat sich absichtlich darauf beschränkt, das sagt er ja selbst. Im Denken, wie es der Verstand vermag, verläuft alles nacheinander in der Zeit, nicht zugleich. [...]
Dennoch gibt es hier kein ‚nie‘. Es ist dieselbe starke Negation, die wir auch beim Bild der verschleierten Isis finden: ‚Kein Sterblicher hat je mein Antlitz gesehen‘. Novalis wusste, was zu tun ist: ‚Dann müssen wir Unsterbliche werden!‘ Und genau dies müssen wir ebenfalls tun, um das Wörtchen ‚nie‘ zu überwinden.
Wusste Rudolf Steiner damals schon, dass es einmal möglich werden würde, das Denken aktuell zu beobachten? Oder hat auch er bis zum Lebensalter der Bewusstseinsseele warten müssen, bevor er dazu imstande war? Sicher ist, dass er die Isis entschleiert hat, denn in seinen späteren Werken spricht er klar von der Möglichkeit des Beobachtens des aktuellen Denkens (siehe das Zitat auf S. 171).
Und die Wirkung der ‚Philosophie der Freiheit‘ ist gerade, dass man nachher die Fähigkeit hat, das aktuelle Denken zu denken. Derjenige, der in der richtigen Weise tätig die Philosophie der Freiheit verwirklicht, kann nachher das aktuelle Denken schauen. Das ist gerade der Kern der Anthroposophie: die Entwicklung des schauenden Bewusstseins. Die Philosophie der Freiheit, als Tätigkeit, übersteigt sich selbst, weil sie zum Denken mit dem Ätherleib hinaufhebt, und dort ist Isis entschleiert, dort schaut sich das reine Denken selbst unmittelbar an.
Durch das Verewigen der Unmöglichkeit, das gegenwärtige Denken zu beobachten, wird die lebendige Anthroposophie unmöglich gemacht. Wer diesen Männern des Verstandes vertraut, wird selbst in der Entwicklung erstarren.
In der ersten Version der Rezension von Weishaupt heißt es dazu:
Daneben gebe es eine Praxis, welche die Autorin als innere Gegnerschaft der Anthroposophie bezeichnet. Bei der Schlüsselstellung, welche Die Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners für eine gegründete Geist‑Erkenntnis nach Ansicht der Autorin einnimmt, wundert es nicht, wenn sie die Ausführungen von Michael Muschalle und Renatus Ziegler zur Frage der Gleichzeitigkeit von Denken und Beobachten des Denkens scharf kritisiert und deren Gedanken dazu zurückweist, insofern das kontemplative Durchdenken dieses Werkes zur Gleichzeitigkeit von Kontemplation und Aktion im Denken führe.
In der zweiten Version lautet die Stelle dann wie folgt:
Die Ausführungen von Michael Muschalle und Renatus Ziegler zur Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Denken und Beobachten des Denkens, ein Problem, dem in Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit zentrale Bedeutung zukommt, beurteilt die Autorin im Sinne einer Gegnerschaft. Den genannten Autoren unterstellt sie, sie schlössen diese Möglichkeit aus und verhinderten dadurch den Blick auf die Möglichkeit einer am Studium des Werkes sich bildenden Fähigkeit einer Gleichzeitigkeit von Aktion und Kontemplation im Denken.
Und fast am Ende dieser zweiten Version setzt sich der Gedanke dann fort:
[...] zeigt sich, dass eine eigentliche Kritik als Untersuchung des Kritisierten nicht zu finden ist. Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn Frau Mosmuller aus den Untersuchungen von Renatus Ziegler und Michael Muschalle zur Frage der Beobachtung des Denkens ein behauptetes Resultat isoliert und dieses für eine Gegnerschaft instrumentalisiert. Bei Ziegler und Muschalle handelt es sich um das Ergebnis einer Untersuchung, nicht um Spekulation oder Behauptung. Der Gang dieser Untersuchungen kann mit dem Denken nachvollzogen werden. Unterschlägt man aber, wie Frau Mosmuller, den Weg, den das Denken zu einer bestimmten Erkenntnis gehen muss, so bleiben die Gründe für die Ablehnung verborgen. Ja, es kann nicht einmal deutlich werden, ob Ziegler und Muschalle wirklich meinen, was Mosmuller unterstellt.
Der Vorwurf der Unterstellung
Dies ist nun wirklich ein harter Vorwurf, der seinerseits zu prüfen ist. Was will Weishaupt hier zum Ausdruck bringen? Zunächst wird nicht recht klar, was er mit „behauptetes Resultat“ meint. Da er betont, dass es bei Ziegler und Muschalle um Untersuchungsergebnisse und nicht um Behauptungen gehe, meint er offenbar, Mieke Mosmuller isoliere aus deren Texten ein „behauptetes Resultat“, das in Wirklichkeit gar kein Resultat ihrer Untersuchung sei. Dementsprechend heißt es im letzten Satz, sie würde den beiden etwas unterstellen. Der weitere Vorwurf an sie lautet, sie unterschlage den eigenen Weg ihrer Erkenntnis, so dass die Gründe ihrer Ablehnung (offenbar jener Untersuchungsergebnisse) verborgen blieben.
Nun liegt jedoch gleich ein doppelter Widerspruch in Weishaupts Behauptungen. Zunächst: Wie kann jemand ein Resultat „isolieren“, was so gar nicht besteht? Und zweitens: Warum muss auf die Nachvollziehbarkeit der Untersuchungen von Muschalle und Ziegler verwiesen werden, wenn Frau Mosmuller nur ein (von ihr) behauptetes Resultat instrumentalisiert haben soll, das von den beiden gar nicht gemeint gewesen wäre?
Aber betrachten wir selbst, was die beiden Männer sagen. Michael Muschalle schreibt in seinem Aufsatz „Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung“:
Wenn ich Steiners Aussagen aus dem dritten Kapitel ernst nehme, wonach die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens niemals möglich ist, dann kann das Erleben des gegenwärtigen Denkens – an dessen Möglichkeit ich keinen Augenblick zweifle – nicht seine aktuelle Beobachtung sein.
Und Renatus Ziegler schreibt in seinem Buch „Intuition und Ich-Erfahrung“ auf S. 74:
Die Nicht-Beobachtbarkeit des gegenwärtigen reinen Denkens ist kein vorläufiger Zustand, der im Laufe der individuellen Denkentwicklung überwunden werden könnte oder sollte. [...] Beobachtung des eigenen Denkens und individuelles tätiges Denken schließen sich per definitionem kategorisch aus. Damit ist jedoch eine Erfahrung der Tätigkeit des reinen Denkens innerhalb des aktuellen Denkvorgangs, neben der ohnehin aktuellen Inhaltserfahrung, nicht ausgeschlossen.
Genau dies ist der Kern dessen, was Mieke Mosmuller beiden vorwirft und wogegen sie sich wendet! Muschalle und Ziegler verneinen, dass das gegenwärtige Denken sich selbst anschauen kann. Sie retten sich mit den Begriffen des „Erlebens“ und „Erfahrens“, was sehr wohl durch Übung gegenwärtig möglich werde – aber sie verneinen die aktuelle Beobachtung, das sich selbst gegenwärtig anschauende Denken.
Damit ist also der Vorwurf, Mieke Mosmuller würde ein nur „behauptetes“ Resultat für ihre Kritik heranziehen, widerlegt. Sie betont ja selbst, dass das Verstandesdenken immer nur zu dem Untersuchungsergebnis kommen kann, dass das gegenwärtige Denken sich nicht selbst beobachten könne – und ihr Vorwurf ist nun eben gerade, dass diese beiden Männer (trotz aller Genauigkeit und Detailschärfe ihrer gedanklichen Untersuchungen) letztlich doch auf der Verstandesebene bleiben.
Eine ganz andere Frage ist die nach ihrem eigenen Gedankengang. Man wird verstehen können, dass sich das schauende Bewusstsein, von dem Mieke Mosmuller spricht, sich nicht in einem „Gedankengang“ begründen lässt. Sie verweist jedoch auf eindeutige spätere Aussagen Rudolf Steiners, von denen sie eine in ihrem Buch zitiert, und – sie hat selbst mit „Der Heilige Gral“ ein ganzes Buch geschrieben, in dessen Hauptteil sie dieses schauende Bewusstsein, das auf einem völlig verwandelten Denken beruht, sehr detailliert beschreibt.
Wiederum stellt sich die Frage: Warum nimmt man das, was diese Anthroposophin schreibt, nicht einmal ernst? Warum stellt sich stets wieder so schnell der Reflex ein, das Gesagte abzuwehren und ihr selbst „Polemik“, „Zuspitzung“ und sogar „falsche Behauptungen“ vorzuwerfen!? Warum kann man ihre Apologie – man könnte im Grunde auch sagen Apokalypse (nämlich Offenbarung) – des wahren Wesens der Anthroposophie so wenig verstehen, so wenig ertragen?
Der Hauptvorwurf des Unsozialen...
Und damit kommen wir zu dem Hauptteil der zweiten Version der hier untersuchten Rezension. Vorgeworfen wird Mieke Mosmuller in dieser neuen zweiten Hälfte nun, dass ihr das hingebungsvolle Interesse für Anderes fehle: Ein „Charakterzug“ ihres Buches bestünde darin, dass sie „die von ihr gestellten Anforderungen selbst nur bedingt einlöst“. Denn, so Weishaupt, wenn man Geist-Erkenntnis als individuelle freie Tat ernst nimmt, ergäben sich sogleich Fragen für den sozialen Zusammenhang:
Führen Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit individueller Äußerungen geistigen Strebens zur Diskrepanz? Wie steht es mit dem sich Einleben in und Verstehen anders gearteten menschlichen Strebens? Wie sinnvoll ist es, mit Blick auf das Denken und Handeln anderer von Gegnerschaft zu sprechen? Schlägt eine solche Form der Wahrhaftigkeit nicht allzu leicht um in ihr Gegenteil, insofern die Betonung des Individuellen sich über Gebühr auf die Wahrnehmung des eigenen Standpunktes und dessen Verschiedenheit von anderen richtet? Werden Erkenntnisse nicht immer auch im Dialog mit und aus dem Verstehen des Denkens anderer gefunden?
Und Weishaupt beantwortet diese (für ihn recht rhetorischen) Fragen wie folgt:
Diese Wirklichkeit der erkennenden Tätigkeit des Einzelnen im sozialen Zusammenhang hat in den Erörterungen Mieke Mosmullers kaum Gewicht. [...] Rudolf Steiner konnte das Wesen anderer Menschen auf so kraftvolle und authentische Weise zum Ausdruck bringen, dass er die noch unausgesprochenen, verborgenen und zukünftigen Impulse im Seelenleben der anderen aufzuspüren und zur Erscheinung zu bringen verstand. Dabei sah er ganz davon ab, ob und inwieweit sein eigenes Denken sich damit in Übereinstimmung befand. [...] Liest man Mein Lebensgang Rudolf Steiners, so kann es zutiefst berühren, mit welcher innigen Dankbarkeit er der Begegnungen gedenkt, die das Schicksal ihm zuteil werden ließ, unabhängig davon, ob er in diesen Begegnungen eine Übereinstimmung mit seiner eigenen Geistesrichtung fand. [...]
Erst durch das volle sich Einlassen auf das im Denken sich äußernde Wesen eines anderen Menschen entsteht wirkliche soziale Kraft. [...] Schließlich entfaltet sich, was sich aus Rudolf Steiners Erkenntnisringen für seine Philosophie der Freiheit ergeben hatte, 21 Jahre später in seinen Mysteriendramen zu einem szenischen Lebensbild, durch welches das individuelle Erkenntnisleben von Menschen in seiner sozialen Dramatik zur Darstellung gelangt. Das Auffinden von Wahrheit ist nicht länger ein nur solistischer, sondern ein vielstimmiger Prozess. [...]
Es stellt sich die Frage, ob die Autorin ihrem zweifellos wichtigen Anliegen nicht einen größeren Dienst erwiesen hätte, wenn sie darauf verzichtet hätte, es in Form einer Apologie vorzubringen. [...]
Dann folgt der Hinweis auf die Apologie des Sokrates und schließlich der scharfe Vorwurf, die behauptete „Unterstellung“ in bezug auf Muschalle und Ziegler...
...und seine zweifelhaften Ursprünge
Betrachtet man zunächst Weishaupts Antworten auf seine eigenen rhetorischen Fragen, so leuchtet ein Zweifaches auf: Rudolf Steiners wunderbare Fähigkeit, sich in das Denken anderer Menschen hineinzuleben – und das in den Mysteriendramen so wunderbar geschilderte Ideal einer Gemeinschaft von Menschen, die in aller Gegensätzlichkeit doch ein gemeinsames Streben immer mehr vereint.
Nun muss man als erstes bemerken, dass es bei diesen beiden Aspekten um zwei ganz verschiedene Stufen eines Ideals geht. Zum einen haben wir Rudolf Steiner, der sich in das Denken jedes Menschen hineinleben konnte – zum anderen haben wir diese sehr zukünftige, werdende Gemeinschaft aus dem Mysteriendrama. Man muss hierbei empfinden können, wie weit beides auseinanderliegt. Ja, Rudolf Steiner hat es geschafft, unzählige Menschen um sich zu versammeln und in gewisser Weise auch zu vereinen – aber er blieb dennoch zeitlebens allein, von ganz wenigen treuen Gefährten vielleicht abgesehen, und man findet seine Einsamkeit, seine Enttäuschung dann auch oftmals sehr klar ausgesprochen, und das obwohl er jeden Menschen doch immer frei ließ. Auch dies ist etwas, worauf Mieke Mosmuller hinweist.
Was die Menschen um Rudolf Steiner vereinte, war vor allem das, was er selbst als Anthroposophie zu bringen vermochte – es waren weniger die Fähigkeiten der einzelnen Beteiligten. Vereinigend war die Sonne der Anthroposophie, letztlich jedoch Rudolf Steiner selbst. Denn als er starb, sehen wir sofort den Zerfall, den Streit – auch die Sonne der Anthroposophie war untergegangen...
Ein Weiteres, was beachtet werden muss, ist die Tatsache, dass der Alle verstehende, sich in jedes Denken hineinlebende, gegenüber jeder Begegnung dankbare Rudolf Steiner eben jener Mensch war, der die Anthroposophie begründete. Das All-Umfassende seines Denkens – was sich auch im Hinblick auf das ganz verschiedene Denken der ihn umgebenden Menschen zeigte – war sozusagen eine Voraussetzung dafür, dass die Anthroposophie im Laufe seines Lebensganges nach und nach geboren werden konnte! – Heute kommt es auch auf das Verständnis des anderen Menschen, des anderen Denkens an, aber ebenso und mehr noch auf das Verständnis für das damals geborene Wesen der Anthroposophia, denn sie ist erst der Quell für alles Verständnis!
Dies ist das Hauptanliegen von Mieke Mosmuller: Verständnis für das Wesen der Anthroposophia und für die Grundlagen ihrer Wiedergeburt im individuellen Menschen zu wecken. Es ist jedoch ein Grundirrtum zu glauben, diese Anthroposophin könnte und würde sich nicht in das Denken jedes anderen Menschen hineinleben. Diesem Irrtum kann leicht derjenige verfallen, der nur das Ergebnis dieses Hineinlebens wahrnimmt und darin dann (und dies ist dann sein Urteil) bloße „unsoziale Polemik“ sieht. Genau dies ist das Problem des nicht verwandelten Denkens: Es sieht nur Resultate und beurteilt sie nach seinen Methoden ... und glaubt an seine objektive Erkenntnis.
Auf diese Weise wird dann „Polemik“ (selbst schon ein mit Urteilen behafteter Begriff!) zum automatischen Beweis für ein falsches oder zumindest unangemessenes Urteil. „Mieke Mosmuller ist polemisch? Nun, dann kann es mit ihren Wahrheiten nicht weit her sein. Rudolf Steiner hat sich schließlich in jeden Menschen hineingelebt und das Ideal ist doch die Erkenntnisgemeinschaft und ihre starke soziale Kraft!“
Wer so starr denkt, ohne sich einzugestehen, dass er in wirklicher Starrheit ganz verschiedene Ideale zusammenwirft, um sie hier und jetzt „wie Rudolf Steiner“ zu „verwirklichen“, der lebt tatsächlich in einer völligen Illusion. Verstandes- und Wunschdenken gehen hier ihre unheilige Allianz ein.
Von wirklichem Mitleben im Denken
Wenn man bereit wäre, vorurteilsfrei zu erleben, was die Wirklichkeit ist und was nicht, würde man mitempfinden können, wie Mieke Mosmuller zu einem tiefen Mitleben mit den Gedanken anderer Menschen nicht nur fähig ist, sondern dies auch verwirklicht. Dies zeigt sich (wenn man dies empfinden kann) bereits an ihren wunderbaren Romanen, dann am Beispiel großer geschichtlicher Gestalten in ihrem Buch „Der Heilige Gral“, dann in anderer Weise an ihrem Buch, das sich mit Judith von Halle auseinandersetzt. Ja, auch dort zeigt es sich – denn auch das, was sich letztlich in diesem Buch als Urteil entfaltet, hat sich diese Autorin nicht einfach gemacht und schon gar nicht bereits als Vorurteil mit sich herumgetragen. Wenn man liest, wie sie schreibt, dass sie gehofft hatte, in Judith von Halle tatsächlich einem Träger des Auferstehungsleibes zu begegnen, wenn man liest, dass sie mit beiden – mit Rudolf Steiner und Judith von Halle – kräftig mitgedacht hat und letztlich dann zu jenen Ergebnissen kam, die dann ihr Buch bilden ... dann kann einem ansatzweise deutlich werden, wie stark dieses Mitdenken, Mitleben mit den Gedanken anderer sein muss.
Und dies trifft dann ebenso auf die Gedanken und das Denken jener Menschen zu, deren Denken sie in ihrem Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ als innere Gegnerschaft bezeichnen muss. Es ist eben auch hier nicht so, dass nach der schnellen, oberflächlichen Anschauung und dem Vergleich mit eigenen Vorstellungen bzw. Erkenntnissen ein Urteil gebildet wird, sondern wiederum das Urteil sich erst durch das wirkliche Miterleben der Gedanken des anderen Menschen sich bildet.
Es ist leicht (und leichtfertig), darauf zu verweisen, dass Rudolf Steiner es darüber hinaus nun sogar noch vermochte, „die noch unausgesprochenen, verborgenen und zukünftigen Impulse im Seelenleben der anderen aufzuspüren und zur Erscheinung zu bringen“. Welche Maßstäbe möchte man denn an einen anderen Menschen (hier Mieke Mosmuller) noch anlegen, bevor man den ersten kleinen Maßstab einmal an sich selbst anlegt!? Nun kann natürlich sofort der Einwand kommen: „Aber wir sind doch sozial miteinander – diese Frau polemisiert gegen alles und jeden!“ Damit aber hätte man nur gezeigt, dass man ihr Anliegen noch immer nicht empfinden könnte. Denn zuerst muss die Anthroposophie verwirklicht werden, dann kann man darangehen, ein wirkliches soziales Miteinander zu realisieren.
Was heute scheinbar sozial wirkt, ist nur die selbstzufriedene Verwaltung des anthroposophischen Leichnams. Wenn dies die Vorboten für die „soziale Gemeinschaft“ der Zukunft sein sollen, dann steht die Welt wirklich vor dem Untergang. Denn wenn man auch nur einen Funken Selbsterkenntnis wagt, sieht man doch unmittelbar den fast unverwandelten, ja oft sogar gesteigerten Egoismus allerorten! Wer jahrelang miteinander zusammenarbeitet, mag sich vielleicht gut „verstehen“, aber alles andere treibt doch immer mehr in die Vereinzelung. Sieht man dies nicht oder will man es nicht sehen? Und wo der Egoismus eingedämmt ist, findet man – ich karikiere etwas – brave, blutleere „Anthroposophen“, die es nicht einmal wagen, den Anderen auf ein Haar auf seinem Anzug aufmerksam zu machen...
Rudolf Steiner konnte z.B. Haeckel weiterdenken, konnte sich in Nietzsche hineindenken usw. – aber auch nur, weil diese Menschen bereits kräftige Denker waren! In was soll man sich hineindenken, wenn die Menschen gar nicht mehr denken? Auch vor diesem Problem stand Rudolf Steiner schon, denn wie oft betonte er verzweifelt, dass seine Schilderungen mit dem gesunden Menschenverstand nachvollzogen werden könnten, wenn man es denn einmal aktiv täte! Und dann gab es die vielen, vielen Denker in der Menschheitsgeschichte und in der Gegenwart, die er eben nicht weiterdenken konnte oder wollte, wo er aber dennoch zeigen konnte bzw. musste, wo sie „vom Gesichtspunkte der Wahrhaftigkeit“ standen – und in nicht wenigen Fällen musste er in scharfen Worten die geistfernen Standpunkte seiner Zeitgenossen umreißen. Und dann gab es noch jenen Steiner, der auch die innere Trägheit oder sogar Gegnerschaft in der „Gesellschaft“ scharf zur Sprache bringen musste...
Wenn Weishaupt eingangs also Rudolf Steiner aus dem Dokument von Barr zitiert: „Der okkulte Standpunkt verlangt: ‚Keine unnötige Polemik‘ und ‚Vermeide, wo du es kannst, dich zu verteidigen.‘“, so muss man darauf aufmerksam machen, dass es einen tiefen Unterschied gibt zwischen einem Sich-Verteidigen und dem Verteidigen eines Anderen bzw. der Wahrheit selbst. Es gibt ein wunderbares Zitat von Rudolf Steiner, in dem all das zuvor Angedeutete zum Ausdruck kommt:
„Und wer sagt, wir polemisierten zuviel, wenn wir die Wahrheit richtig bezeichnen, der hat keinen Sinn für Wahrheit und liebt die Lüge. ... Gefühlt muss werden das ganze Gewicht dieser Worte: die Wahrheit lieben und nicht die Lüge lieben um der Konvention willen, um des angenehmen gesellschaftlichen Lebens willen. Denn nachsichtig sein mit der Lüge, ist gerade so viel schon, wie die Lüge lieben. ... Und weiterkommen wird die Welt nur durch diesen Enthusiasmus für die Wahrheit.“ (22.11.1920, GA 197).
Die Diskursgesellschaft als Tod der Anthroposophie
Mieke Mosmuller also vorzuwerfen, sie befinde sich durch ihren Stil „weit weg“ von ihrem Vorbild Rudolf Steiner, ist außerordentlich bequem, aber tief unwahr. Und weil wir bei weitem noch nicht so weit sind, dass wir uns konkret an den „Mysteriendramen“ orientieren könnten, läuft im Moment noch alles Betonen des „Sozialen“ vor dem wirklichen Ernstnehmen der anthroposophischen Grundlagen auf die weitere Zerstörung der Anthroposophie hinaus.
Heute haben wir dieses Nicht-Ernstnehmen und Nicht-einmal-Erkennen jener Grundlagen, auf die Mieke Mosmuller hinweisen will – und heute haben wir dieses „Soziale“, das die Dinge völlig umdreht. Denn was ist die heutige Lage? Jeder „kann“ mit jedem oder „tut“ zumindest so oder „bemüht“ sich zumindest – und dadurch ist eben jeder Anthroposoph. Man will ja keinen ausschließen – das war einmal in dunklen Zeiten. Heute ist „das Goetheanum“ nach wie vor die anthroposophische Wochenschrift mit echter anthroposophischer Substanz. In enger Zusammenarbeit mit Info3 werden die „infoseiten anthroposophie“ produziert, damit die Anthroposophie ihrer Weltverantwortung gerecht wird. Info3 und dort allen voran Sebastian Gronbach ist selbstverständlich auch Anthroposoph – und Ken Wilber wird es vielleicht noch. Judith von Halle ist Anthroposophin, auch wenn es dazu (ebenso wie zu Gronbach) manchmal ein paar Diskussionen gibt – aber natürlich immer unter Wahrung aller Formen.
Unter diesen Bedingungen haben wir nichts anderes als eine Diskursgesellschaft. Habermas lässt grüßen. Und da es den herrschaftsfreien Diskurs nicht gibt, gewinnt doch immer der Stärkste – und das ist entweder ein Funktionär oder der Kollektivismus. Denn sobald jemand Kritik übt, etwa: „Sebastian Gronbach ist doch kein Anthroposoph!?“, finden sich gleich zehn andere, die ihn heftig verteidigen, vielleicht sogar auf Du und Du mit ihm sind, oder zumindest sagen: „Das könnt ihr doch nicht machen! Jeder, der sich selbst Anthroposoph nennt, gehört dazu...“
Wer also geht in dieser „modernen“, „toleranten“, allen Gedanken das gleiche Recht zumessenden Gesellschaft unter? Die jeweilige Minderheit. Und wenn es die Wahrheit ist? Gab es nicht mal den Hinweis Rudolf Steiners, dass die Wahrheit nicht demokratisch gefunden werden kann? „Nun“, kommt gleich der Einwand, „wir stimmen ja auch nicht ab, die Erkenntnis bildet sich bei uns sozial...“ Was das „soziale Urteil“ angeht, wird man bei Rudolf Steiner selbstverständlich finden, dass ein Einzelner dieses nicht finden kann – aber das „soziale Urteil“ ist etwas ganz anderes, etwas, wo es z.B. um den richtigen Preis von Waren geht. Erkenntnis ist zunächst immer individuell. Man kann sich dann in der Wahrheit finden – wenn alle Beteiligten in richtiger Weise nach der Wahrheit streben. Wenn...
Interessant ist, dass in dieser scheinbar sozialen Gesellschaft, die das „lebendige Mitdenken“ fordert, wenn es der eigenen Polemik dienlich ist, die eigenen Ansichten und Urteile gleichsam festgemauert sind. Denn was trat mir entgegen, als ich mit „Der lebendige Rudolf Steiner“ tief mitgedacht und mitempfunden hatte? Meine Buchbesprechung wurde in wenigen kurzen Sätzen als „distanzlos“ zurückgewiesen! Und was geschah mit meinem Aufsatz über „anthroposophischen Journalismus“, in dem ich wiederum betonte, dass der Anthroposoph mit seinem „Gegenstand“ tief verbunden sein müsse und darum das „journalistisch“ üblicherweise zu trennende „Fakten“ und „Meinung“ eben hier überhaupt keine geeigneten Kategorien darstellen würden? Auch er wurde nicht einmal als möglicher Standpunkt, als „Diskussionsbeitrag“ genommen, sondern ebenfalls zurückgewiesen!
Heute geht die Minderheit unter – und mit ihr die Wahrheit. Denn die Wahrheit ist, dass die Anthroposophie heute nicht lebendig ist. Dass Sebastian Gronbach kein Anthroposoph ist. Dass man diese und andere Wahrheiten heute nicht zur Kenntnis nehmen will (das von Weishaupt erwähnte Dilemma). Die Wahrheit ist, dass Mieke Mosmuller verkannt wird, weil in der „anthroposophischen Bewegung“ die Illusionen wichtiger sind als das Eingeständnis des eigenen bisherigen Versagens – und als das Erkennen und Anerkennen der lebendigen Anthroposophie dort, wo sie wirklich, wirkend zu finden ist. Es ist so furchtbar leicht, gegen diese eine, einzelne wahre Anthroposophin zu polemisieren und zu moralisieren oder sie totzuschweigen – und ihr vorzuwerfen, ihre Apologie wäre polemisch, ihr fortwährender Aufruf wäre moralisierend, ihr Ruf wäre zu störend...
Wo bleibt der Funken Selbsterkenntnis, der Funken Wahrheitsliebe, Liebe zur wahren Anthroposophia?