2009-05-31_Klasse voller Engel
Auszüge aus "Eine Klasse voller Engel"
Mieke Mosmuller: Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst. Occident, 2009 (395 S., 20€). >> Buchbesprechung.
90 Jahre nach Begründung der Waldorfpädagogik erscheint ein Buch, das in der Lage wäre, die Waldorfpädagogik zu ihrer wahren Blüte zu führen – weil es aus ihrer Quelle heraus geschrieben ist. Das folgende sind zwei Auszüge (Hervorhebungen H.N.):
„Die Liebe, die die Erziehung zum Kunstwerk machen soll...“ (S. 259ff)
Die Kunst des Erziehens eines kleinen Kindes lässt sich zusammenfassen in der Fähigkeit, dass der Erzieher durch alles Verzogensein, alles äußere Verhalten, alle Ungezogenheit hindurch auf diese Unschuld des kleinen Kindes zu blicken vermag. Das Kind kann noch gar nicht verdorben sein – wir sind es. Und wenn wir es zustande bringen, alles unwichtige, nur oberflächliche Getue der kleinen Kinder und der Eltern wie einen Schleier hinunterzuziehen, so finden wir das Kind wieder, das in dem göttlichen Urteil lebt: die Welt ist moralisch.
Wenn die Kinder noch so klein sind, dass sie nur spielen und noch nicht weiter zu lernen brauchen, ist dies noch verhältnismäßig leicht. Dann aber geht das Kind zur Grundschule, und der Lehrer wird mit einer großen Gruppe von Kindern konfrontiert, die die Merkmale der heutigen Welt tragen. [...]
Es muss also ein Übergang gefunden werden, eine Brücke, die den Erzieher mit dem eigentlichen Kinde verbinden kann, jenseits aller Zusätze, die die Welt dem Kind angetan hat.
Das Kind findet eine Welt vor, die es in allen ihren Qualitäten gesucht hat, weil es sich aus voller Liebe zur Welt inkarniert hat. Es trachtet auch danach, sich mit dem Fernseher und dem Computer auseinanderzusetzen: auch dazu ist es jetzt auf die Erde gekommen. Es sucht den Luxus, den die Welt dem Menschen unserer Kultur geben kann. Es sucht den Sport, die Fußball-Weltmeisterschaft, es sucht die Möglichkeit, weite Reisen zu machen... Aber es sucht auch, durch all dies hindurch sich zur Erscheinung zu bringen, das sucht es ja am allermeisten.
Und weil der Erzieher für diese Aufgabe unentbehrlich ist, weil der Waldorflehrer hierzu eine viel größere Fähigkeit haben sollte, deshalb wird jedes Kind eine tiefe Hinneigung zum Erzieher, zum Klassenlehrer haben. Dessen muss sich der Lehrer wohlbewusst sein und sich tief mit dieser Empfindung durchdringen. Nicht weil er selbst so großartig ist, ist das Kind dem Lehrer hingegeben, sondern weil es ihn braucht.
Das Kind braucht einen Lehrer, der ihm hilft, sich selbst allmählich zur Erscheinung zu bringen.
Ist man tief von diesem Gefühl durchdrungen, hat man schon eine Brücke gebaut. Dann muss die Brücke noch benutzt werden. Wenn der Lehrer nicht nervös ist, nicht fortwährend innerlich mit seinem eigenen Tun beschäftigt, nicht soviel Angst hat, die Kinder könnten ihn ‚überwältigen‘, dann kann er offen sein für die Bewegungen, die die Kinder ihm entgegenbringen.
Alle Kinder sehnen sich ja nach einer Beziehung zu ihrem Lehrer, und diese muss auch jedem Kind gegeben werden. Wenn ein Kind, nachdem der Unterricht vorbei ist, dem Lehrer noch etwas erzählen will, wie scheinbar unwichtig auch immer, und der Lehrer ist mit seinen Gedanken und Gefühlen schon nicht mehr ganz dabei, so verdirbt er sich etwas sehr Wichtiges. Das Kind möchte sich ihm zeigen, vielleicht erzählt es etwas, was gar nicht in die Waldorf-Idee ‚passt‘. Unbefangen und aufmerksam muss dann zugehört werden; nicht in einer Pose, aus einer Überzeugung, dass man es tun sollte, sondern nur aus herzlichem Interesse für das Leben und Sein des Kindes. Das erzeugt keineswegs die oft gefürchtete Schwärmerei. Die meisten Kinder sind gar nicht so, und ein Kind, das zur Schwärmerei veranlagt ist, wird sowieso schwärmen. Dennoch wird aus Furcht vor so etwas das Suchen einer echten Beziehung vermieden – und der Lehrer steht wie ein Ding vor der Klasse, es geht nichts von ihm aus und es kommt nichts auf ihn zu...
Die Liebe, die die Erziehung zum Kunstwerk machen soll, lebt sich in alltäglichen Kleinigkeiten dar, wird da entzündet und wächst zu einer Fähigkeit, die Wunder wirken kann. Zu einer solchen Liebe sollte der Klassenlehrer sich emporarbeiten.
Wer selbst Kinder hat, weiß, wie tief die Liebe geht. Wie man sich immer wieder darauf freut, das Kind wiederzusehen, zu hören, was es erlebt hat, wie es erlebt hat; bei Schwierigkeiten behilflich zu sein, das Beste hervorzuholen... Bei den eigenen Kindern sind es ja die Blutsbande, die eine Art natürliche Fürsorge erzeugen.
Der Klassenlehrer muss dies nachahmen, ohne die Blutsbande als Hilfe zu haben. Das Wohl seiner Kinder muss ihm ebenso wichtig sein. Wirklich wichtig, nicht gespielt. Erziehen ist keine Rolle, die man gut oder schlecht spielen kann. Es ist etwas Existentielles, das sich überall äußern will, das durch und durch authentisch, wahrhaftig ist.
Was, wenn man einer Klasse voller ungezogener Kinder gegenübersteht? Dann macht man es nicht richtig, hat man die Brücke nicht gebaut, scheut man sich, sie zu betreten. Kinder sind Kinder, ob sie mit sechs schon ins Kino gehen, oder ob sie mit der Mutter Sauerteigbrot backen; ob sie Coca Cola und Mars genießen oder Kräuterkuchen mit warmer Milch. Ob sie nach Mexiko in den Urlaub fahren oder zu Hause bleiben. Kinder sind Kinder, und es ist nur eine ganz dünne Schale, die von der Welt um ihr wahres Wesen gelegt wird. Das Kind hat gar kein Interesse daran, sich in dieser Schale zu verbergen, man braucht es nur leise zu einer Beziehung zu verlocken und es ist da, in seiner ganzen kindlichen Fülle.
Dann werden die Kinder den Lehrer nicht enttäuschen wollen. Mit dieser Kraft muss dann bedächtig umgegangen werden. Denn wenn der Lehrer von seinen Kindern Leistungen fordert, denen sie nicht gerecht werden können, müssen sie ihn schon enttäuschen, und die zuvor hergestellte Beziehung wird gefährdet. Wenn man also weiß, man verlangt etwas, was die Kinder nicht tun werden oder können, so halte man ein, verlange es nicht! [...]
Ohne Fehler zu machen, wird kein Mensch erziehen können. Durch die Liebe werden die Fehler immer wieder ausgeglichen, die Folgen geheilt. Und sie ist nicht schwierig, diese Liebe. Denn das Kind liebt den Erzieher wie nichts in der Welt...
„Sie erwarten feuriges Engagement von uns“ (S. 267ff)
Damit finden wir den Übergang zur schwierigen Pubertät, in der die Rebellion Hauptthema zu sein scheint.
Lehrer, die die Repression kennen, unterdrücken diese Rebellion leicht. Sie scheinen die besten Lehrer zu sein, ihre Strenge gibt Ordnung, und dem Unterricht wird brav gefolgt... Andere Lehrer werden von der Menge an Anti-Gefühlen bei den Jugendlichen überrumpelt. Sie lassen sich besiegen, und jede Unterrichtsstunde ist ein qualvoller Kampf. [...]
Dann gibt es Situationen, in denen der Lehrer es zustande bringt, ein Interesse zu wecken. Das kann an seinem Fach liegen, an seiner Vortragskunst oder sogar an seiner ‚Beziehungskunst‘. Dies beruht jedoch alles auf der persönlichen Anlage des Lehrers.
Es ist aber auch möglich – und das kann jeder erlernen –, die Jugendlichen in ihrem sich entwickelnden Sein so zu verstehen, dass sie ihren Aufruhr vergessen, dass sie fasziniert werden. Sie geben sich hin, weil es endlich einen Erwachsenen gibt, der ihnen gibt, wonach sie sich so sehr sehnen...
Wenn der Lehrer nicht nervös ist, nicht furchtsam, keine Angst vor der gewaltigen ‚Astralität‘ einer Klasse von Jugendlichen hat, dann kann er sie endlich ‚zu sich zu-lassen', in sich aufnehmen.
Was werden wir eigentlich gewahr, wenn wir einem Jugendlichen gegenüberstehen – mit seinem uninteressierten Antlitz, seiner gelangweilten Miene, seiner verärgerten Geste? Oder mit seiner Schüchternheit, seinem Nicht-Wissen-wie-sich-zu-verhalten?
Wenn wir einmal nicht auf seine direkte Äußerung eingehen, sondern ihm eigentlich eine Art Parzival-Frage entgegenbringen – schweigend –, die ungefähr lautet: ‚Was quält euch so? Woran leidet ihr eigentlich?‘ – dann bekommen wir die Antwort: ‚Die Welt ist doch wahr???‘
Nicht, weil wir diese Antwort von Rudolf Steiner kennen, hören wir sie. Sie erklingt wirklich, nur ist sie selbst zur Frage geworden. Das ist die Tragik der Jugendlichen. Sie sind eigentlich ganz von der Empfindung durchdrungen, dass die Welt wahr ist, dass das, was sich darbietet – was immer es auch sei – die Wahrheit erkennen lässt.
Es ist nur Schein, dass sie revoltieren, dass sie alles anzweifeln, dass sie sich herablassend gegenüber uns und der Welt verhalten. Die Tragik ist, dass ihr tief empfundenes Wissen um die Wahrheit zur Frage geworden ist. Und warum wurde es zur Frage? Weil wir, die Erwachsenen, die ‚Vorbilder‘, die großen Zweifler sind! Wir leben nicht die Überzeugung der Wahrheit vor, wir leben den Zweifel vor – und wir wissen es nicht einmal.
Aber wir sind doch Anthroposophen? Haben doch gelernt, dass der Mensch sich in die wahre Wirklichkeit einlebt, indem er Wahrnehmung und Denken zusammenklingen lässt? Wir sind doch davon überzeugt, dass Wahrheit existiert, dass wir in einer wahren Welt leben? Dass wir das Weltgeschehen an einem Zipfel halten, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustande kommen soll?
Da aber liegt gerade der Irrtum, der immer übersehen wird, der sogar nicht gesehen werden will. Denn der Erwachsene hält das Weltgeschehen gar nicht an einem Zipfel, er steht völlig außerhalb des Weltgeschehens, berührt es nicht im geringsten. Warum nicht? Weil er nie dabei ist. Er ist faul, passiv, lässt das Weltgeschehen einfach geschehen und denkt nicht daran, sich so aufzuraffen, dass er aufsteht und endlich einmal anfängt mitzutun. [...]
Der Mensch hat also keinen Zipfel in seiner Hand, denn er ist nicht dabei und es kommt also ‚nichts‘ zustande.
Dieses ‚Nicht-dabei-sein‘ ist das Urprinzip des Zweifels. Wer etwas vollbewusst mitmacht, wird nicht zweifeln. Nur wer alles geschehen lässt, ist durch und durch ein Zweifler, auch wenn er noch so feste Dogmen in sich trägt. Auch diese hat er sich während des ‚Nicht-dabei-seins‘ erworben, sonst wären es keine Dogmen geworden, sondern wäre es die lebendige, werdende Wahrheit selbst.
Die Jugendlichen haben allesamt einen riesigen Vorwurf, und sie machen diesen völlig zu Recht: ‚Wenn die Welt wahr ist, warum seid ihr denn Zweifler? Wie sollen wir euch achten, ihr wisst ja selbst gar nicht, was Wahrheit ist.‘
Es kann sich uns so darstellen, dass wir die Überzeugung gewinnen, es seien die Jugendlichen selbst, die alles in Frage stellen. Sie lieben die Hard-Rock-Musik und wollen bei einer Chorübung nicht mitsingen; sie gehen wöchentlich ins Kino und weigern sich, bei der Eurythmie mitzumachen. Sie hängen einfach in ihren Stühlen, verärgert, während ich mir Mühe gebe, die französische Revolution anschaulich zu schildern – oder sie machen mir sogar das Sprechen unmöglich. Sie sind egoistisch, in sich selbst verschlossen, mit einer Rüstung von Antipathie um sich herum.
Nein, das alles ist nur Schein. Sie kommen unmittelbar auf uns zu, wenn wir nicht mehr Zweifler sind, wenn wir ihre Grundempfindung ‚Die Welt ist wahr‘ bestätigen können.
Sie erwarten feuriges Engagement von uns, sowohl in unserem Unterricht, als auch in unserem Interesse für das, was sie treibt. Man vertiefe sich einmal mit voller Anteilnahme in das, was für so einen Jungen diese Rockmusik eigentlich bedeutet – und er wird von sich aus auch bereit sein, im Chor mitzusingen. Wir können die Jugendlichen nicht von ihren Süchten erlösen, das geht nun einmal nicht. Durch unser volles Engagement für alles in der Welt bestätigen wir jedoch diese tief innerliche Empfindung: dass die Welt doch wahr ist...? [...]
‚Das schönste Geschenk in der Seele ist die Sehnsucht‘, sagte Novalis. In der Pubertät wird die Seele ‚geboren‘, und der Jugendliche lebt aus der Sehnsucht, für die Sehnsucht. Die Seele sehnt sich nach ihrer schönsten, besten Fähigkeit: der Liebe. Sie will sich über das Alltagsleben erheben, deshalb sucht der Jugendliche die Erotik, Sexualität; sucht er die Ekstase durch Drogen zu erreichen, ein tiefes Körperempfinden durch starke Rhythmen, eine auffallende Frisur, Tätowierungen, Piercings. Durch Piercings fühlt er sich stärker mit dem Leib verbunden und kann außerdem die Leute ein wenig schockieren...
Der Erwachsene steht alledem ziemlich hilflos gegenüber. Der Jugendliche hätte dies alles jedoch gar nicht nötig, wenn er seine Sehnsucht in einer wahrhaftigen Weise befriedigen könnte: in der realen, herzhaften Beziehung, Begegnung.