2010
Neun Antworten zu einigen bemerkenswerten Kommentaren
Eine Antwort in neun Teilen auf aktuelle Kommentare zu meiner Person und den daraus resultierenden Fragen.
Inhalt
Ein Zerrbild entsteht
Das eigene Tun nicht bemerkt?
Die Frage der Moral und der Anthroposophie
Relativismus und Nominalismus
Die Frage des reinen Denkens
Von der Liebe zur Erkenntnis...
... und der wahren Herzenswärme
Über falschen Humor...
...und echte Freude
Ein Zerrbild entsteht
Nachdem ein kurzer Absatz meines Jahresrückblicks, der sich auf Michael Eggert und seinen Webblog bezog, von diesem unmittelbar auch dort ins Netz gestellt worden war, schlossen sich in den folgenden Tagen diverse Kommentare an. Wenn man diese Kommentare einmal zusammenfasst, ergibt sich folgendes:
H.N. ist dogmatisch wie ein mittelalterlicher Inquisitor. Dass er selbst über andere Menschen urteilt, kann er aufgrund seines verknöcherten Denkens nicht sehen. Was er anderen vorwirft, tut er selbst und merkt es nicht, da ihm jegliche Inneneinsicht fehlt. Man kann ihn mit einem jungen Erwachsenen vergleichen, der die Anthroposophie kennenlernt, sich in die Schriften Steiners hineinsteigert und mit zunehmendem Fanatismus Freunde und Bekannte einer Zwangsbekehrung unterwerfen will – bis er erkennt, dass es eigentlich um das herzliche Interesse am und einen herzenswarmen und freilassenden Umgang mit dem Mitmenschen ankommt.
H.N. mokiert sich über Gronbachs „unverwandelte Ansicht über den Sex“ und meckert herum, dass seine Leserbriefe nicht abgedruckt werden – und gehört so zu den Meistern des unfreiwilligen anthroposophischen Humors.
Nach einer einjährigen Ausbildung als Waldorflehrer ist er Waldorf-Wesen-Spezialist und einzig wahrer und wissender Muster-Anthroposoph schon weit vor dem 40. Lebensjahr – ein Wunder, das sicher seine Heilige Mieke Mosmuller bewirkt hat. Vielleicht erträumt sich H.N. eine Anthroposophie mit Gewissensprüfung und Glaubensbekenntnis? Auf den „Egoisten“-Seiten befindet man sich dagegen zum Glück in einem „Spiegelkabinett des höheren Selbst“, hier werde die Bewusstseinsseele veredelt, was automatisch zur Ironie einlade.
Sein Leiden unter „Info3“ ist geradezu bewundernswert, vielleicht sollte man einmal über eine Selbsthilfegruppe für Info3-Leser nachdenken...
Besserwissertum und Missionarstum gehören einem vergangenen Jahrhundert an. Als Autor sollte man nicht belehren, sondern allenfalls kleine Beispiele aus der persönlichen Praxis geben. Denn heute hat jeder alles in sich – man muss nur innehalten und schon ist alles da! Vor allem sollte man sich selbst nicht zu ernst nehmen, denn das verträgt sich mit gesunder Esoterik überhaupt nicht.
Es ist schon interessant, in einer solchen Zusammenfassung einmal zu einem Bild zu kommen, das gewisse Menschen sich von einem machen. Natürlich ist es zugleich sehr, sehr erschütternd – und zwar vor allem, weil auch all diese Mosaiksteine wieder so viel über die Menschen, die sie beitragen, aussagen – und über ihr Bild von der Anthroposophie... Und so wäre zu all diesen Bemerkungen wieder so vieles zu sagen!
Das eigene Tun nicht bemerkt?
Aufschlussreich ist schon die erste Aussage: Ich würde das, was ich anderen vorwerfe, selbst tun – und es nicht einmal merken. Hier stellt sich die Frage, was denn das sei? Aus dem Zusammenhang geht nur hervor, dass es das „Urteilen über andere Menschen“ sei. Nun stellt sich aber unmittelbar die Frage: Was werfe ich anderen denn vor? Man hat offenbar die sehr starke Wahrnehmung, ich würde (natürlich dogmatisch!) über andere Menschen urteilen. Dazu später, aber – was werfe ich anderen denn vor?
Kann es sein, dass man von meinem „dogmatischen Urteilen“ so „abgestoßen“ wird, dass man geradezu reflexartig den Schluss zieht: „Der ist ja auch nicht besser!“...? Von da aus wäre es nur noch ein kleiner Sprung zu dem Gedanken: „Er merkt ja überhaupt nicht, dass er das, was er anderen vorwirft, selbst macht.“ – Aber was werfe ich anderen denn vor?
Man mag zu den Urteilen in meinen Aufsätzen stehen, wie man will, aber es scheint, dass man meine konkreten Aussagen oft gar nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn prüfen will. Stattdessen scheint es oft schon eine Art Reflex zu geben, der dann die eigene Urteilsmaschinerie in Gang setzt: Dogmatismus, Fanatismus, Deutungshoheit, ewig-gestrig, lächerlich...
Worauf es aber ankäme, wäre nun irgendein echter Gedanke, der irgendeines dieser Worte begründen und mit Inhalt füllen könnte. Natürlich kann man jedem Menschen oder Aufsatz oder einzelnem Urteil sogleich entgegenschleudern: „Dogmatisch. Fanatisch. Ewig-gestrig.“ – natürlich mit einer ordentlichen Portion herablassender Amüsiertheit –, aber man äußert damit nichts als Phrasen. Nicht ein einziger Gedanke aus meinen Aufsätzen wird aufgegriffen, um ihn (und das wäre doch wirklich einmal öffentlichkeitswirksam!) zu widerlegen.
Stattdessen werden, wo man überhaupt einmal andeutungsweise „inhaltlich“ wird, weitere Totschlagworte angeführt, die ebenfalls keinen einzigen echten Gedanken enthalten. So meint man z.B., ich würde mich über Gronbachs unverwandelte Ansichten über den Sex „mokieren“ oder „darüber beklagen“, dass das „Goetheanum“ in der Debatte um Judith von Halle meine Leserbriefe nicht abgedruckt hat. Es reicht meinen Kommentatoren also, überall das Negativ-Subjektive hineinzudeuten – wie es z.B. auch Zander mit Rudolf Steiner gemacht hat. Natürlich – wenn man aus dem eigenen Pauschalurteil heraus nur noch die Vorstellung „verknöcherter Inquisitor“ hat, greift die eigene Deutungshoheit (!) automatisch zu den entsprechenden Erklärungsmustern. Natürlich bleibt dem (zum Glück!) machtlosen Inquisitor nichts anderes übrig, als sich zu mokieren und sich zu beklagen. Nur hat all dies allein etwas mit dem Kommentator und seiner Vorstellungswelt zu tun.
Alles, was ich in den beiden genannten Zusammenhängen tat, war, nachzuweisen, dass Gronbachs Ansichten über den Sex keine einzige echte innere Verwandlung zugrunde liegt – und dass die „Goetheanum“-Debatte um Judith von Halle den entscheidenden Fragen immer wieder erfolgreich ausgewichen ist.
Wenn man sich über meine Aufsätze und sogar meine Person äußert, sollte man sich doch in erster Linie zu den Gedanken äußern, die ich formuliere – und man sollte es ebenfalls mit Gedanken tun, nicht mit Worten, die überhaupt keinen Gedanken enthalten.
Die Frage der Moral und der Anthroposophie
Das ist es genau, warum ich von „sinnlosen Blog-Diskussionen“ spreche. Und es ist ja noch schlimmer: Sie sind nicht nur sinn- und gedankenlos, sie sind un-moralisch. Man verliert in ihnen geradezu sogar jene Moral, die man im normalen Leben zumindest als Keim und zarte Stimme noch hat(te). Da benennt man im Blog einen anderen Menschen mal schnell völlig entwertend mit dem Vornamen in Diminutivform (-chen), da macht man sich Gedanken über die Ursachen seiner treffsicher interpretierten Seelenverfassung („liegt es an der verstrahlten Luft in Berlin?“)... Das heißt: Ohne irgendeinen Gedanken, der auf die vom Anderen geäußerten Gedanken eingeht, macht man diesen Anderen zur absoluten Karikatur, zu einer mehr-als-lächerlichen Witzfigur. Und man selbst spricht dann sogar noch von der Herzenswärme, auf die es ankomme...
Ich selbst nehme in meinen Aufsätzen zu vielen Dingen Stellung – ich tue dies aber immer anhand von Äußerungen und Gedanken anderer, zu denen ich Stellung nehme. Ich versuche, jeden meiner Gedanken – und jedes meiner Urteile, die aus diesen schließlich hervorgehen – so nachvollziehbar wie möglich zu begründen. Ich mache niemals jemanden lächerlich oder zu einer Karikatur, ich erhebe mich niemals in ironischer, belächelnder oder ähnlicher Weise über einen anderen Menschen – weder mündlich, noch schriftlich, noch innerlich. Selbst mein Aufsatz „Wie werde ich ein zweiter Gronbach?“ wollte in Form einer Glosse wiederum nur in besonderer Deutlichkeit auf die Art seiner Gedankenbildung und ihre Wirkungen aufmerksam machen.
Worum es mir in allen Aufsätzen allein geht, ist die Frage nach dem Wesen der Anthroposophie – das werden selbst jene Kommentatoren erkennen, die in mir den „verknöcherten Inquisitor“ sehen wollen. Antworten auf diese Frage sehe ich nicht allzu viele. Genauer gesagt: Begründete Antworten. Denn natürlich ist gleichsam jede beliebige Aussage eines Menschen, der sich selbst als „Anthroposoph“ ansieht, gewissermaßen eine versuchte Antwort.
Heutzutage ist es leicht, gewissermaßen zu sagen: „Es ist alles Anthroposophie.“ Schwerer dagegen ist es, den Standpunkt zu vertreten, dass z.B. Sebastian Gronbach oder auch Judith von Halle etwas völlig anderes vertreten als Anthroposophie. Jemanden „ausschließen“ ist „out“. Und selbst, wenn auch viele Blog-Kommentatoren zu erkennen geben, dass sie ebenfalls auf diesem Standpunkt stehen, dass Gronbach oder von Halle keine Anthroposophen sind – und z.B. Felix Hau ganz klar gesagt habe, dass er allenfalls einige Teile der Anthroposophie in seine Weltanschauung aufgenommen habe –, ist offenbar diese ganze Frage viel weniger wesentlich, als dass „H.N. eben ein ewig-gestriger Dogmatiker ist“ (womit er natürlich unmittelbar ausgeschlossen ist!).
Das zeigt mir nur, dass man sich von der Frage, was Anthroposophie eigentlich ist, längst völlig verabschiedet hat – oder dass man diese Frage vielleicht sogar im Grunde niemals ernsthaft hatte. Wenn es so einfach ist, wie Michael Eggert (oder Sebastian Gronbach) behaupten – man muss nur ein wenig innehalten, und schon „hat man es“ –, ja dann würde sich natürlich alles erübrigen. Dann bräuchte man kein Studium, keine Meditation, keinen inneren Schulungsweg, kein Studium, keine Meditation... Dann hätte es auch keinen Steiner gebraucht. Dann hätte sich vielleicht auch dieser sein Leben, in dem er an fast jedem Tag einen Vortrag mit immer wieder gewaltigen Inhalten gegeben hatte, „sparen können“!
Relativismus und Nominalismus
Heutzutage kann offenbar jeder wunderbar leicht selbst entscheiden, was er „übernimmt“ oder „sich herausgreift“, denn es ist ja ohnehin nicht mehr die Zeit der großen Entwürfe, der umfassenden Erkenntnis – sondern allenfalls der „kleinen Beispiele aus der persönlichen Praxis“ (Eggert)... Man muss nicht mehr das Wesen der Anthroposophie verstehen – oder aber: man hat es ja immer schon verstanden. Und selbst wenn man nur das „für sich Passende“ herausgreift, ist man selbstredend noch immer ein „Anthroposoph“ – zumindest, wenn man sich so nennen will. Die Deutungshoheit über die Frage, ob man ein Anthroposoph ist, hat man selbst – nicht etwa die Anthroposophie...
Auf diese Weise verbreitet sich ein nominalistisches Verständnis von Anthroposophie. Sie ist jeweils das, was „ich“ darunter verstehe. Sie ist zunächst nur ein Wort – und erst mein Verständnis (d.h. meine Interpretation) macht sie zu etwas Realem, bzw. es ist genau mein Verständnis, was richtig ist. Ganz ähnlich wie ein Löwe die Summe alles dessen ist, was ich unmittelbar-sinnlich zusammentragen kann. Man kann diese sehr subjektive Sicht haben, sie ist offenbar sogar ziemlich verbreitet. Ich spreche aber von einer anderen Anthroposophie, nämlich der wirklichen. Sie wird nicht durch das definiert, was der eine oder andere darunter versteht, auch kein dogmatischer Inquisitor, sondern es handelt sich um die Wissenschaft und Wirklichkeit des Geistes, der umfassenden Welt des Geistes oder auch der geistigen Welt.
Zu dieser Wissenschaft und Wirklichkeit gilt es, sich zu erheben, wenn man „Anthroposoph“ werden will. Um nichts anderes geht es.
Man kann nicht ein paar „Inhalte“ oder auch ein paar Versatzstücke aus dem Schulungsweg nehmen, damit herumhantieren und das dann als „Anthroposophie“ oder sich als „Anthroposoph“ bezeichnen. Die Inhalte allein führen sehr schnell zu einem Dogmatismus, in dem man alles schon „zu haben“ glaubt, obwohl man selbst noch überhaupt nichts hat. Und fast alle Elemente des Schulungsweges finden sich auch in anderen spirituellen Strömungen. Worum es aber geht, ist die differenzierte Geist-Erkenntnis, die allein die Anthroposophie geben kann. Überall, wo die Geisteswelt entweder überhaupt nicht oder nicht in ihrer wirklichen Differenziertheit erlebt und erkannt wird, handelt es sich eben noch nicht um Anthroposophie.
Es würde niemand von sich behaupten, ein wahrer Musiker zu sein oder mit der wahren Musik auch nur in eine echte Berührung gekommen zu sein, der niemals selbst ein Instrument in die Hand genommen und nach viel Übung auch wirklich gespielt hat – sondern allenfalls mal zur Entspannung eine CD in den Player schiebt. Dieselbe Erkenntnis in Bezug auf die Anthroposophie scheint nicht so einfach zu erringen zu sein! Allerdings wird heute auch schon alles Mögliche zu „Musik“ erklärt, und auch dieser Begriff hüllt sich schon immer mehr in Nebel bzw. wird von der rein persönlichen, subjektiven, sinnlich-nominalistischen „Deutungshoheit“ vereinnahmt.
Die Frage des reinen Denkens
Und so droht das Verständnis vom Geistigen – von den Wegen, die begangen werden müssen, um überhaupt ein erstes reales Verständnis vom Geistigen zu gewinnen – immer mehr verloren zu gehen. Diejenigen, die auf das wirkliche Geistige deuten, werden wohl immer mehr als die verknöcherten Ewig-Gestrigen belächelt und verspottet werden, während die Surrogate des Geistigen immer häufiger, bunter (letztlich auch immer schriller und armseliger) werden werden. Man wird sich letztlich überhaupt nicht mehr verständigen werden können – denn diejenigen, die die anderen als „verknöcherte Inquisitoren“ bezeichnen, werden ja immer mehr glauben, dass „alles schon da ist“.
Den anderen, die auf den „wirklichen Geist“ hinweisen, wird man wahlweise vorwerfen, dass sie die inquisitorische Deutungshoheit beanspruchen (und zum Glück heutzutage nur keine Macht mehr haben) – oder aber, dass sie die Geist-Erkenntnis ja selbst auch noch nicht verwirklicht haben und von daher unglaubwürdig sind. Wo darin allerdings die Logik liegt, vermag ich nicht zu sehen. Man kann die „Deutungshoheit“ selbstverständlich abstreiten – dieser Begriff ist ja auch ein völliger Unsinn, es geht allein um das echte Suchen des Geistes. Und dass man selbst das Ziel noch nicht verwirklicht hat, macht einen noch nicht unglaubwürdig – es geht allein um die Frage, wie klar man es als solches sieht.
Wenn ich sage, dass ich das reine Denken, welches das Nadelöhr und Durchgangstor zur geistigen Welt ist, noch nicht verwirklicht habe, dann spreche ich von diesem reinen Denken trotzdem nicht bloß theoretisch. Dass ich es noch nicht verwirklicht habe, kann ich gerade deshalb sagen, weil ich das Wesen dieses Nadelöhrs immer klarer sehe und verstehe. Wer dieses Wesen allerdings nicht einmal sehen bzw. dessen Bedeutung nicht einmal anerkennen will, der weiß wirklich nicht, wovon er spricht – und er nimmt dann Worte wie „Deutungshoheit“ etc. in den Mund, ohne sich mit der eigentlichen Frage auseinandergesetzt zu haben bzw. -setzen zu können.
Was in jedem Falle eine Tatsache ist, ist, dass niemand das reine Denken erringen kann, der nicht die Wahrheit als solche sucht – der also bei der Frage, ob etwas wahr ist oder nicht, seine eigenen Sympathien und Antipathien ganz zum Schweigen bringen kann. Und so ist es auch in dieser Hinsicht völlig sinnlos und von allem Eigentlichen abführend, jemanden als „verknöcherten Inquisitor“ darzustellen, denn es geht immer um die Frage: Ist ein Gedanke wahr oder nicht? Kann ich den Gedanken des Anderen überhaupt einmal nachdenken? Oder gelingt mir das nicht einmal, habe ich vielleicht sogar nicht einmal die Lust dazu? Wenn es aber doch wirklich gelingt: Kann ich ihn dann von innen heraus verstehen? Und wenn ich erlebe, dass er nicht wahr ist: Kann ich selbst einen klaren Gedanken entwickeln, der wahr ist und die Unwahrheit des anderen Gedanken klar erlebbar macht?
Erst auf dieser Ebene ist dann noch etwas anderes bedeutsam: Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass es nicht nur wichtig ist, was jemand sagt, sondern auch wer es sagt. Etwas kann in diesem Sinne entweder eine echte Wahrheit sein – oder eine Phrase, die dadurch sogar zur Lüge wird. Es kommt ganz darauf an, inwieweit dasjenige, was ausgesprochen wird, wirklich erlebt, durchlebt wurde. – Wenn man allerdings nicht einmal bereit oder fähig ist, einen Gedanken innerlich so mitzudenken, dass man dessen Wahrheit als solche entweder bejahen kann oder ganz klar die Unwahrheit darin erleben kann, dann wird man auch in Bezug auf diese zweite Frage nur Vorurteil über Vorurteil erliegen.
Schon auf der ersten Ebene – der Frage, ob ein Gedanke als solcher wahr ist –, kann man an der Unwahrheit von Gedanken leiden. Man wird dies um so tiefer tun können, je tiefer die Verwandlung der eigenen Seele fortgeschritten ist. Dennoch ist das, was der Einzelne in dieser Weise erlebt, etwas sehr Persönliches. Es geht im Grunde nicht darum, was der Einzelne beim Nachdenken einer Unwahrheit erlebt, sondern was mit dieser Unwahrheit gewissermaßen der Wahrheit an sich angetan wird – denn diese miterlebte Tatsache bringt dann ja auch der einzelnen Seele ein Erlebnis des Leidens.
Wenn ein Blog-Teilnehmer schreibt, er könne „HN nachfühlen, was er beim Lesen dieser [Info3-]Ausgabe durchgemacht hat“ und er tue sich „das ganz sicher nicht an“, so ist das ganz in diesem Sinne gemeint. Wenn aber darauf ein Anderer schreibt: „meine Güte ... welches Leid, welche Schmerzen muss er auf sich genommen haben“, so zeigt dieser Kommentator, wie wenig er auf diese objektive Ebene eingehen will. Ich habe in keiner Zeile meines Aufsatzes über jene Info3-Ausgabe von irgendwelchem „Leid“ geschrieben, was ich durchgemacht hätte, sondern nur – ausführlich – von dem, was dieses Heft für Unwahrheiten enthält bzw. inwiefern gerade dieses Heft völlig offensichtlich macht, wie Info3 mit der wirklichen Anthroposophie nichts zu tun haben kann. Wenn man selbst nicht daran zu leiden vermag, dann sind alle Hinweise vergeblich – und sie sind auch nur für jene Menschen gedacht, die auf diese Unwahrheiten und Widersprüche überhaupt aufmerksam werden wollen, weil ihnen die wirkliche Anthroposophie und die Frage nach ihrem Wesen wichtig ist.
Von der Liebe zur Erkenntnis...
Wenn wir nun am Ende noch einmal auf die Frage kommen, wie es um die „Herzenswärme“ steht, wäre wiederum so vieles zu sagen...
Dass es seltsam ist, wenn gerade jene Menschen auf diese Herzenswärme verweisen, die einen in ihren Kommentaren sogar als Person geradezu vernichten (weil die Kommentare einen zur Unperson machen), habe ich schon erwähnt. Ebenso, dass es mir in allen Aufsätzen nie auch nur ansatzweise um etwas Derartiges geht. In meinen Aufsätzen geht es immer um Erkenntnisfragen, letztlich immer um die Frage nach der Anthroposophie selbst. Dass ich in den Gedanken, Äußerungen und der Methode gewisser Menschen einen grundlegenden Widerspruch zur Anthroposophie sehen muss – womit ich auch nicht allein stehe –, berührt zunächst nicht mein Verhältnis von Mensch zu Mensch. Ich will damit sagen: Abgesehen von den – gleichwohl wesentlichen – Erkenntnisfragen, um die es geht, bilde ich mir keinerlei menschliches Urteil über diesen anderen Menschen. Das einzige Urteil, um das es geht, betrifft die Frage, ob bestimmte Gedanken und Methoden einen Widerspruch, eine Gefahr für oder Gegenkraft zur Anthroposophie bilden oder nicht. Persönliche Sympathien oder Antipathien spielen dabei überhaupt keine Rolle – und sie spielen auch nicht mit hinein!
Ja, in der Anthroposophie geht es auch um Herzenswärme. Schaut man aber z.B. auf „Die Philosophie der Freiheit“, so ist die wahre Liebe erst eine Frucht wahrer Erkenntnis, ist vorher gar nicht möglich.
Die Herzenswärme hat auch verschiedene Ebenen. In meinen Aufsätzen geht es um Erkenntnis. Man kann die Wahrheit nicht mit Herzenswärme finden, sondern nur mit wirklicher Erkenntnis. Dieser Satz kann so gesagt hundertfach missverstanden werden. Natürlich führt gerade Herzenswärme zu gewissen Erkenntnissen. Doch die Liebe gilt immer dem, was erkannt werden will. Ich kann die Wahrheit nicht erkennen, wenn ich etwas anderes mehr liebe als sie. Ich kann das Wesen der Anthroposophie nicht erkennen, wenn es mir nicht ganz und gar um dieses Wesen geht. Man kann nicht hoffen, sich dieser Frage zu nähern, wenn man sich Sorgen machen muss, ob die eigenen Erkenntnisse vielleicht jemanden „verletzen“ könnten, der sich „Anthroposoph“ nennen möchte – oder wenn man gar dem Dogma anhängt, dass jeder, der sich selbst so nennt, es automatisch schon ist.
Es gibt also eine Ebene, auf der es um Erkenntnis geht – und auf der die Liebe zur Wahrheit und zur Erkenntnis selbst die höchste sein muss, wenn man diese Erkenntnis wirklich (ohne Täuschungen) erreichen will. Genau dies kann einem dann den Vorwurf des „Inquisitorischen“ einbringen, denn man verträgt es heute nicht mehr, dass jemand „kategorische Aussagen“ macht. Man will, dass heute jeder seine „eigene“ Wahrheit haben darf, dass man alles „so stehen lässt“ usw. – der Relativismus greift um sich, und diese Einstellungen, die heute zu neuen (absoluten) Dogmen werden, sind ebenfalls eine Folge dieses Relativismus, der die bedingungslose höchste Liebe zur Wahrheit gar nicht mehr kennt oder wirklich begreifen könnte.
Aus Angst vor dem Dogma stellt man ein unerkanntes neues auf – weil man der Kraft der Erkenntnisfähigkeit selbst nicht mehr vertraut, ja sie gar nicht mehr kennt. Würde man sie noch erleben, dann würde man wissen, dass man jedes Dogma entlarven kann bzw. die Wahrheit oder Unwahrheit jedes Gedanken selbst prüfen kann. Man wird selbst nicht alles erkennen können – aber man kann jeden Gedanken prüfen, soweit man es vermag. Die Angst vor dem Dogmatismus ist sinnlos, wenn man sein Denken selbst in die Hand nehmen würde. Der Vorwurf des Dogmatismus aber ist immer mehr nur ein billiges Argument, das von der eigenen Unfähigkeit (bzw. dem Unwillen) ablenkt, die Gedanken eines anderen wirklich zu prüfen und ggf. ihre Unwahrheit klar aufzuzeigen. Und das neue Dogma des „Jeder hat seine eigene Wahrheit, alles ist irgendwo wahr“ lenkt dann sogar von der Notwendigkeit der Prüfung überhaupt ab...
... und der wahren Herzenswärme
Die wahre Herzenswärme hat ihr Feld dagegen im Bereich des menschlichen Handelns, im unmittelbaren menschlichen Umgang miteinander, im Wirken in der Welt. Auch hier geht es manchmal um Erkenntnisfragen, wo man die Wahrheit verteidigen muss und wo sich dann herausstellt, wer dies ohne persönliche Sympathien und Antipathien zu tun vermag. Aber es gibt so vieles, was nicht unmittelbar die Erkenntnis betrifft, sondern eben dieses menschliche Miteinander. Hier kann sich die Herzenswärme in ihrer ganzen wunderbaren Art zeigen, kann sich üben, kann sich vertiefen – und ganz sicher wird man in dem Streben nach einer Verwirklichung einer solchen Wärme auch oft genug das persönliche Scheitern erleben.
Wenn man mich mit einem jungen Studenten vergleicht, der die Anthroposophie gerade kennengelernt hat und nun fanatisch die Schriften Steiners aufsaugt und sein Umfeld zwangs-missionieren will, zeigt dies einmal mehr die Verwechslung der Ebenen. Denn die Erkenntnis selbst darf und soll so klar wie nur möglich sein. Sie selbst zwingt nicht – und auch ein Aussprechen von Erkenntnissen auf einer Webseite tut dies nicht. Ich bin noch keinem Menschen begegnet, der von einer Webseite „zwangs-missioniert“ wurde! Persönlich dränge ich meine Erkenntnisse niemandem auf, von irgendeiner Missionierung ganz zu schweigen.
Das menschliche Miteinander an sich, das eben ein Feld der Herzenswärme sein sollte, ist für jeden Menschen ein Heiligtum – daher werde ich mich auch hier dazu nicht äußern.
Das Internet kann nicht unmittelbar ein Bereich der Herzenswärme sein, weil es nicht der Ort der menschlichen Begegnung, des unmittelbaren Miteinanders ist. Es kann aber ein Ort sein, wo man in Form von Gedanken formulierte Erkenntnisse findet. Diese Gedanken können aus der Liebe zur Wahrheit hervorgehen – oder aus Vorurteilen. Kommentare können ebenfalls aus einer Liebe zur Wahrheit hervorgehen – oder aus Sympathien und Antipathien für bestimmte Gedanken, bis hin zum Lächerlichmachen einer Person. Insofern ist auch das Internet ein Ort, an dem sich indirekt die Realität von Herzenswärme erweisen kann oder nicht. Und so schrieb auch ein Blogger: „Hier bei den Egoisten liegt der Schwerpunkt der Schreibenden, aus dem heraus agiert wird, anscheinend nicht in der Herzgegend, sonst würden die Kommentare zu Niederhausen anders aussehen.“ Wo man sich abfällig über einen anderen Menschen äußert, geht es weder um Erkenntnis, noch um Herzenswärme.
Ich bleibe aber bei der Behauptung, dass echte, dauerhafte, „belastbare“ Herzenswärme ebenfalls nur aus einem in meditativer Übung immer mehr sich verwirklichenden reinen Denken hervorgehen kann. Denn diese echte Herzenswärme kann nur als ein ganz neuer Keim aus geistiger Verwandlung heraus entstehen. Solange die „Herzenswärme“ noch seelisch bleibt, bleibt sie auch anfällig gegenüber den Schwankungen des Seelischen. Ein Widerspruch zu den eigenen Urteilen, eine kleine Resonanz mit den eigenen Vorurteilen reicht schon aus, um sofort eine große Antipathie heraufzurufen und jemanden als „Inquisitor mit verknöchertem Denken“ zu verdammen... Die wahre Herzenswärme hat all dies nicht nötig, sie kann selbst Anfeindungen ertragen, ohne ihrerseits in einen solchen antipathisch-seelischen Bereich hinabzusinken.
Über falschen Humor...
Dieser ganze Aufsatz entstand, weil Michael Eggert auf seinem Webblog „Egoisten“ auf meinen Jahresrückblick aufmerksam machte, woran sich die diversen Kommentare anschlossen. Merkwürdig ist, dass Eggert selbst auf meinen Aufsatz und dessen Gedanken ebenfalls überhaupt nicht einging – außer wiederum mit einem fertigen Urteil („selbsterwählter Inquisitor“, der verdammt und verdummt). – Kein Kommentar zu der Frage, wie furchtbar seine entstellende Steiner-Kollage ist. Kein Kommentar zu der Frage, wie Eggert derartige wiederkehrende Ironie mit einem ernsten Streben nach Anthroposophie vereinen zu können meint.
Ich schrieb, man könne den Eindruck haben, dass Eggert seine besten Impulse immer weiter verliert – und zitierte folgenden Satz von ihm: „Der spirituelle Höhepunkt des Jahres steht vor der Tür, und das nicht erst seit 2000 Jahren, und erst recht nicht erst seit Steiner. Nein, die Menschheit treibt das seit der letzten Eiszeit, mindestens.“
Eggert kommentierte dann, dieser Satz beziehe sich auf neuere Forschungen u.a. in Stonehenge – worauf eine weitere Kommentatorin sofort anschloss, das könne ich ja nicht wissen, da ich mich mit Kultur ja nur in meiner einjährigen Waldorfausbildung befasst hätte! So viel als weiteres Beispiel zur Frage der Herzenswärme... Was aber weder diese Kommentatorin, noch offenbar Eggert verstanden haben, ist die Tatsache, dass ich natürlich nicht die Tatsache angezweifelt habe, dass die Zeit der Wintersonnenwende schon lange vor der Zeitenwende gefeiert wurde (worauf Steiner selbst ja auch oft hingewiesen hat). Wie sollte diese Erkenntnisfrage auch mit den von mir gemeinten „besten Impulsen“ zu tun haben? Nein, was ich meinte, war Eggerts Wortwahl: Wenn es ihm mit diesem spirituellen Höhepunkt des Jahres wirklich ernst wäre, wie kann man dann zu solchen Worten kommen? „Die Menschheit treibt das seit der letzten Eiszeit...“
Eggert war also in seinem ursprünglichen Hinweis auf meine Kritik gar nicht eingegangen – und in seinem späteren Kommentar zeigt er sogar, dass er vieles davon offenbar gar nicht erfasst! Das ist leider ein unfreiwilliger Beweis für die Notwendigkeit meiner Fragen, die ja nicht nur an ihn gerichtet sind, sondern an eine größere Allgemeinheit.
Das zeigt sich auch an einem Kommentar von Herrmann Finkelsteen:
„Ich bin stolz darauf [...] dieser Bewegung anzugehören, wo es Egoisten, Wilberianer und bluttriefende Heilige und Erleuchtete gibt. Das ist der Unterschied Herr Niederhausen und das sollten Sie sich mit Edding hinter die Ohren schreiben: Hier auf den Egoseiten gibt es keine Gefolgschaften oder Seilschaften, nicht einmal Gemeinschaft. Nein hier befindet man sich in einem Spiegelkabinett der höheren Selbst. Hier wird die Bewustseinsseele veredelt( was menschenkundlich automatisch zur Ironie einlädt), nehemen auch Sie daran teil Herr Niederhausen. [...]“
Ironie hat mit der Bewusstseinsseele nicht das Geringste zu tun – sondern sie kann nur da auftreten, wo die Anlage zur Bewusstseinsseele gerade nicht veredelt, d.h. verwirklicht wird und sich zum Geiste erhebt, sondern im Bannkreis des alles ertötenden Intellekts verbleibt. Denn es ist der Intellekt, der sich über das Andere derart erheben kann, dass er es durch Ironie oder andere Mittel seinem Wesen entfremdet. Insofern befindet man sich auf den „Egoseiten“ tatsächlich in einem Spiegelkabinett des höheren Selbst – man glaubt vielleicht, es überall zu sehen, es ist aber nirgends...
Und zur Frage des Humors im allgemeinen ist zu sagen: Jeder, der mich persönlich etwas näher kennt, kennt auch meinen ausgeprägten Humor. Auch der Humor hat seinen Bereich im menschlichen Leben. Wo es um hohe und höchste Wahrheiten geht, gehört er nicht hin, denn hier würde er den rechtmäßigen und notwendigen Ernst verdrängen, der walten muss, wenn die Wahrheit erkannt werden will – oder auch wenn sie in Gefahr ist, sei es durch Halbwahrheiten, durch Vorurteile, Lügen, Illusionen ... oder Humor am falschen Platze. Wer den Humor also dorthin drängen will, wo es um höhere Wahrheiten geht, die die Seele veredeln sollen – um heilige Wahrheiten, deren Heiligkeit er aber gar nicht mehr empfinden kann –, der ist wiederum ein Gegner dieser Wahrheiten. Und wer mich angesichts des Ernstes in meinen Aufsätzen als „Meister des unfreiwilligen anthroposophischen Humors“ (Eggert) bezeichnet, beweist damit wiederum nur, dass es sich leider tatsächlich um eine sehr ernste Frage handelt...
...und echte Freude
Ein weiterer Vorwurf gegen den Ernst ist dann der Vorwurf des „Bierernstes“, der jedem Sucher die Anthroposophie verleiden würde. Dieser Vorwurf verwechselt völlig Ursache und Wirkung. Wahre Sucher werden selbst wissen, wo Ernst notwendig ist – und sie werden ihn selbst haben. Der Ernst in meinen Aufsätzen richtet sich gegen Gedanken usw., die ich als Widerspruch zur Anthroposophie ansehen muss – Gedanken, die sehr weite Verbreitung finden, wodurch es eben zu einer ernsten Frage wird. Würde sich diese ernste Frage nicht stellen, dann gäbe es den Ernst in meinen Aufsätzen nicht – denn dann gäbe es diese Aufsätze nicht, ganz einfach.
In den Kommentaren ist die Rede davon, dass Spiritualität Freude machen soll. Nun – die Anthroposophie ist die goldene Mitte zwischen einer bequemen Flower-Power-Mentalität (bzw. „gut ist, was Spaß macht“) und einer todernsten Trauer-Frömmigkeit. Der Quell ihrer Freude ist die Vertiefung und Verwirklichung der Menschlichkeit selbst. Wenn aber das Wesen des Menschen nicht ein so großes, umfassendes Geheimnis wäre, hätte es nicht des Lebenswerkes Rudolf Steiners bedurft. Man muss also auch dieses Geheimnis ernst genug nehmen, wenn man sich ihm überhaupt nähern will. Wenn man Rudolf Steiners Hinweise auf die Größe dieses Geheimnisses ernst genug nimmt, wird man sich auch in der richtigen Weise auf den Weg machen können und zu dem wahren Ernst (der mit Ehrfurcht zu tun hat) immer mehr fähig werden. Und aus diesem wahren, reinen Ernst geht auch die wahre, reine und höchste Freude hervor, die eine immer treuere Begleiterin auf dem Weg der inneren Entwicklung sein wird.
Man soll also das eine nicht mit dem anderen verwechseln – und schon gar nicht beides gegeneinander ausspielen, denn dies führt nur zu heilloser Verwirrung... Die Freude ist außerdem überall zu finden – schon in jedem wahren Gedanken, in jeder gefundenen Erkenntnis. Wenn einem nur der notwendige Ernst unangenehm ins Auge sticht, dann weiß man weder vom einen, noch vom anderen wirklich etwas.
Die Anthroposophie ist überall und immer wieder – beginnend beim „Studium“ – ein Quell der Freude. Aber gerade weil sie das unsagbar große Geheimnis des Menschenwesens umfasst, sind die Impulse, die ihr Wesen so ungeheuer verfälschen, verschleiern, beschneiden usw., derart ernst zu nehmen. Denn, wenn dieses Geheimnis verloren geht, verliert der Mensch endgültig sich selbst. Was es aber bedeutet, das Wesen des Menschen zu finden – das kann man nicht groß genug denken...