2010
Noch einiges (nicht nur) zum Egoisten-Blog
Eine Antwort auf den offenen Brief von Ingrid Haselberger auf „Egoisten.de“.
Liebe Ingrid,
vielen Dank für Ihren offenen Brief und Ihr zustimmendes Verständnis zu einzelnen wichtigen Abschnitten meiner Antwort auf die Kommentare der vergangenen Tage.
Selbstverständlich müssen Sie meine Urteile über den Egoisten-Blog – „fehlende tiefere Spiritualität“, das Vorherrschen des „bloßen Intellekts“ und die „unheilige Allianz mit Ironie und ertötendem falschem Humor“ – nicht teilen. Und ich verstehe Ihre Freude über diese Plattform sehr gut.
Sicher werden Sie – selbst wenn es niemand sonst wäre – auch verstehen, dass ich nach eben jenen Kommentaren der vergangenen Tage, die sich so zahlreich mit meiner Person und ihrer angeblichen Seelenkonfiguration beschäftigten, weiterhin und erst recht nicht vorhabe, mich an dieser Plattform zu beteiligen. Sie werden auch verstehen, dass ich meine Urteile gerade in diesen Kommentaren auf das Schlimmste bestätigt sehen muss.
Ihre Offenheit und Herzlichkeit schätze ich sehr. Auf Ihren Gedanken, man müsse mit den an Anthroposophie interessierten Menschen arbeiten, die da sind, möchte ich allerdings wiederum antworten:
Die Menschen scheinen in der Regel doch immer ihren Standpunkt und auch ihre eigene Vorstellung von Anthroposophie zu behalten – und behalten zu wollen. Dann aber geht es eben nicht um die Wahrheit. Und solange das so ist, kann man im Grunde nichts anderes tun, als immer neu darauf hinzuweisen, wo diese Wahrheit zu finden ist und welchen Weg man dafür zunächst betreten muss – den Weg der Liebe zur Wahrheit. Wo ist denn von dieser Liebe irgendetwas zu sehen, wenn von vielen Gedanken eines Menschen, der gerade auf die Wichtigkeit dieser Frage hinweist, kein einziger aufgegriffen wird, sondern stattdessen Urteile über Urteile zu seiner Person gefällt werden? Dies zeigt doch nur, wie ehern dieses „Gesetz“ ist, dass man lieber in seiner ganzen Subjektivität verharrt und dem anderen Unrecht zufügt, als einen einzigen Gedanken nachzudenken und seine Wahrheit zu prüfen?!
Ich sehe in etwas derartigem keinerlei wahres Interesse für die Anthroposophie – es ist immer nur ein Interesse für Vorstellungen von etwas, was man bereits gut zu verstehen glaubt, und daneben ein Interesse am eigenen Urteilenkönnen, eine Art Freude an teilweise schlimmsten „Urteilen“ über angebliche Inquisitoren usw.
Niemals allerdings würde ich irgendeinen Menschen mit dem inneren Urteil „hoffnungslos“ belegen. Wenn ich nicht ganz und gar die Hoffnung hätte, dass jeder Mensch die Wahrheit eines jeden Gedanken – bis hin zu den höchsten – einsehen und die Wahrheit als solche immer mehr lieben lernen könnte, würde ich erstens überhaupt nichts schreiben ... und zweitens selber die Anthroposophie nicht lieben, denn sie birgt doch das Geheimnis des Menschen.
Auf der anderen Seite sind meine Aufsätze immer auch ein Versuch zu einem Miteinander – allerdings nicht zu einem beliebigen Miteinander, sondern zu einem solchen auf einem Erkenntnisweg. Wer die in diesen Aufsätzen formulierten Gedanken aber nicht aufgreifen kann, mit dem ist für mich ein Miteinander auf dem Erkenntnisweg zunächst offenbar nicht möglich – denn dieser Mensch sieht offenbar selbst (auch) keine Möglichkeit zu einem solchen Miteinander.
Ich kann die Egoisten-Plattform als etwas, das manchen Menschen ein Bedürfnis ist und sie durch den einen oder anderen Austausch innerlich vielleicht sogar weiterbringt, voll und ganz bejahen, weil ich die Freiheit und die innere Entwicklung jedes einzelnen Menschen bejahe. Das ändert aber nichts an meinem Urteil über die Qualität und das Verhältnis dieser Plattform zu dem, was ich als das Wesen der Anthroposophie empfinde.
Zur „Herzenswärme“ haben Sie wohl recht: Schicksalsereignisse können manches bewirken, was sonst nur auf einem inneren Schulungsweg erreicht wird. Dennoch meinte ich eine solche Herzenswärme, die mit dem anthroposophischen Weg in Zusammenhang steht, und wollte hier ausdrücken, dass der Entwicklung und Vertiefung der wahren Herzenswärme die Entwicklung und Vertiefung wahrer Erkenntnis immer vorausgehen wird. Ja, Steiner spricht auch von einem „Gefühlsweg“. Ich glaube aber nicht, dass irgendjemand in diesem Blog diesen Weg geht, so wie Steiner ihn angedeutet hat – die Hingabe an gewisse Gefühle, die sich schließlich „in eine Erkenntnis, in eine bildhafte Anschauung“ verwandeln. (Zumal Steiner hinzufügte: „Einsamkeit, Zurückgezogenheit von dem Leben der Gegenwart ist dabei fast unerläßlich.“).
Ich bin auf die Herzenswärme ja überhaupt nur eingegangen, weil man sie mir gewissermaßen kategorisch abgesprochen hat – und das in einer Weise, die mir bewies, wie vollkommen das, wovon man sprach – und ich rede noch gar nicht von der geistigen Herzenswärme, die ich meine – einem selbst fehlte.
Worum es mir allerdings „hier im Internet“ geht, sind eben Erkenntnisfragen. Die Herzensliebe zur Wahrheit würde für einen Austausch darüber schon ausreichen. Es muss keine „Herzenswärme“ von Mensch zu Mensch hin und her gehen, zumal die Begegnung nun einmal nicht unmittelbar-persönlich sein kann. Eine reale Herzenskälte, wie sie sich in den Kommentaren zeigte, macht jedoch auch jede Erkenntnis unmöglich (abgesehen von jeder Begegnung bzw. jedem Miteinander). Ich muss sagen, dass ich wirkliche Dankbarkeit dafür empfand, dass angesichts aller vorangegangenen Kommentare ein Blog-Teilnehmer die Frage der „Herzgegend“ dann auch thematisierte...
Ja, die „Schwierigkeiten“, die ich mit dem Egoisten-Blog habe, wenn man es so formulieren will, bestehen tatsächlich in der Tatsache, dass es ein Blog ist, in den immer wieder der „Alltag“ hereinschlägt. Hier schließt sich der Kreis, denn meine Zweifel an der Möglichkeit eines wirklichen Miteinander auf einem wirklichen Erkenntnisweg formulierte ich oben in dem Satz:
Die Menschen scheinen in der Regel doch immer ihren Standpunkt und auch ihre eigene Vorstellung von Anthroposophie zu behalten. Solange also der „Alltag“ (der Hang zur Ironie, zum halben Ernst – denn es soll ja „Spaß“ machen – usw.) auch weiterhin einschlägt bzw. man sich von diesem nicht lösen kann, so lange wird man sich der Anthroposophie nicht nähern können. Man bleibt sicher nicht am selben Ort, man geht hin und her, fühlt sich vielleicht von Kommentaren und Hinweisen anderer bereichert usw. – aber die Schwelle, von der ich spreche, bleibt. Man wird aus dem „Alltag“ heraus der Anthroposophie nicht nahe kommen können – sondern nur, wenn man sich ganz und gar aus diesem „Alltag“ (s.o.) herausreißen kann.
Sie selbst deuten dies an, indem Sie ebenfalls von einer „Schwelle“ sprechen, an der man seine „Alltagsschuhe“ auszieht, bevor man das erste Wort schreibt. Nun – es kann sich ja jeder fortwährend darum bemühen. Der „Egoisten“-Blog bietet ja auch dazu die Möglichkeit. Und das sehr deutliche und auch bleibende Bemühen mancher Blog-Teilnehmer in dieser Frage zeigt, dass eben diese einzelnen Menschen etwas von dieser Notwendigkeit ganz deutlich empfinden. Es bleibt allerdings generell die Schwierigkeit, dass die hier gemeinten „Alltagsschuhe“ mit dem eigenen Wesen zunächst so verwachsen sind, dass es eben schon eines inneren Übungsweges bedarf, um sie auch nur für Momente ausziehen zu können!
Wenn der Austausch in einem Blog von den Beteiligten als sinnvoll und bereichernd empfunden wird, ist es doch wunderbar. Das Problem des Spagats zwischen „offen für alle“ und „ernst(zu)nehmend“ wird man gerade im Internet immer haben. Damit bleibt aber das Problem, dass man über vieles reden kann (und auch reden muss, weil sich alle ständig beteiligen), dass man aber dem Eigentlichen höchstens selten einmal auch nur nahe kommt... Aus eben diesem Grund hatte ich so etwas wie einen Blog für meine private Webseite nie in Erwägung gezogen. Mit mir selbst kann jeder jederzeit in Verbindung treten, wenn er das möchte. Mit anderen eben in einem Blog, wie die „Egoisten“-Seite ihn ja bietet. Und dort könnte man sich dann ja auch über die Gedanken meiner Aufsätze austauschen – aber daran scheint keinerlei Interesse zu bestehen, bzw. wie dieses „Interesse“ dann doch „besteht“, haben wir in den vergangenen Tagen miterleben dürfen.
Den Hinweis Rudolf Steiners, nach dem Sie fragen – dass es vor allem wichtig ist, wer etwas sagt und welches Leben ein Gedanke enthält –, finden Sie tiefgehend u.a. in GA 183. Ich habe die wichtigsten Passagen dieses Vortrages jetzt auf meine Webseite gestellt – er enthält, wie ich beim Suchen nun fand, überhaupt sehr viel, was auch die hier bewegten Fragen betrifft und beleuchtet.
Nun grüße ich Sie herzlich und wünsche Ihnen in Ihrem eigenen Bemühen alles Gute!
Holger