2010
Evo Morales, Rudolf Steiner und die brennende soziale Frage
Evo Morales ist ein außergewöhnlicher Präsident. Auf der Klimakonferenz in Kopenhagen hielt er eine außergewöhnliche Rede. Doch ein neues Bewusstsein kann nur wachsen, wenn der Mensch beginnt, sich selbst (und den Anderen) wahrhaft zu erkennen.
Inhalt
Eine außergewöhnliche Rede
Eine außergewöhnliche Politik
Die tiefere Realität der sozialen Frage
Eine außergewöhnliche Rede
Auf der Klimakonferenz in Kopenhagen hielt Boliviens Präsident Evo Morales am 17. Dezember eine bemerkenswerte Rede:
„Unsere Völker erwarten Ergebnisse, die dazu dienen, das Leben, die Menschheit und den Planeten Erde zu retten. [...] Nachdem ich einige Beiträge von Präsidenten aus der ganzen Welt gehört habe, bin ich überrascht. Sie haben nur die Auswirkungen und nicht die Gründe des Klimawandels behandelt. Es tut mir sehr leid sagen zu müssen, dass wir offenbar aus Feigheit nicht die Gründe für die Umweltzerstörung auf dem Planeten Erde berühren möchten. [...]
Selbstverständlich haben wir von Präsident zu Präsident, von Regierung zu Regierung tief greifende Differenzen. Worin aber liegen diese Differenzen? Wir haben zwei verschiedene Lebensweisen. Es stehen zwei verschiedene Lebenskulturen zur Debatte: die Kultur des Lebens und die Kultur des Todes.
Die Kultur des Todes, das ist der Kapitalismus oder wie wir als indigene Völker sagen, die Kultur des Lebens auf Kosten des Anderen; und die Kultur des Lebens aber, das ist der Sozialismus, das gute Leben. Was sind die Unterschiede? Auf der einen Seite steht das Leben auf Kosten anderer, in Ausplünderung der natürlichen Ressourcen, in der Vergewaltigung der Mutter Erde, in der Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen. Währenddessen bedeutet das gute Leben ein Leben in Solidarität, in Gleichheit, in Ergänzung. [...]
Wir fürchten uns bei dieser Art internationaler Veranstaltungen davor, diese Wahrheit auszusprechen. [...] Alle lamentieren über den Klimawandel – aber niemand protestiert gegen den Kapitalismus, gegen den übelsten Feind der Menschheit. [...]
Es tut mir sehr leid, dass, während ich von diesem Pult aus spreche, die Leute hinausgeschickt werden und ich vor leeren Sitzen reden muss. Ich frage mich, was wohl passiert ist, bevor wir hier eingetroffen sind. [...]
Die Erde ist unsere Mutter, die Mutter ist etwas Heiliges, die Mutter bedeutet unser Leben. Die Mutter wird nicht vermietet, wird nicht verkauft, wird nicht vergewaltigt, sie muss respektiert werden. Die Mutter Erde ist unsere Heimstatt. Wenn die Mutter Erde all dies ist, wie kann es dann eine Politik der Zerstörung der Mutter Erde geben, der Vermarktung der Mutter Erde? Wir haben tief greifende Differenzen zum westlichen Modell. Dies steht im Augenblick zur Debatte. [...]
Ich bin hier in Europa und wie Sie wissen leben viele bolivianische Familien, lateinamerikanische Familien, in Europa. Sie sind hierher gekommen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. In Bolivien könnten sie 100 bis 200 US-Dollar im Monat verdienen. Eine Person kommt hierher, um zum Beispiel einen europäischen Großvater zu pflegen oder eine europäische Großmutter und verdient 1000 Euro im Monat. Das sind Asymmetrien, die wir von Kontinent zu Kontinent haben und die wir zu diskutieren gezwungen sind. Wir müssen darüber sprechen, wie ein gewisses Gleichgewicht zu erreichen ist, wie man diese tiefen Asymmetrien von Familie zu Familie, von Land zu Land und besonders von Kontinent zu Kontinent verringern und abbauen kann.
Wenn aber unsere Familien hierher kommen, wenn unsere Schwestern und Brüder kommen, um zu überleben oder um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, dann werden sie ausgewiesen. Sie bekommen dann Dokumente, die vom Europäischen Parlament „Rückkehrpapiere“ genannt werden. Als die Großeltern der Europäer nach Lateinamerika gekommen sind, wurden sie niemals ausgewiesen.
Meine Brüder kommen auch nicht hierher, um Minen oder tausende Hektar Land zu vereinnahmen, um zu Großgrundbesitzern zu werden. [...]
Liebe Präsidentinnen und Präsidenten: Es ist unsere Verpflichtung, die ganze Menschheit zu retten und nicht nur die Hälfte der Menschheit. [...]
Da wir uns hier nicht einigen können und es keine Abkommen gibt, möchte ich Sie darum bitten, von den Vereinten Nationen aus eine Lösungsmöglichkeit zu diskutieren, die nicht von den Staatschefs ausgeht, sondern von den Völkern der Welt: ein weltweites Referendum über den Klimawandel. Lassen Sie uns das Volk befragen, lassen Sie uns hören, was unsere Völker sagen. Was die Völker sagen, das sollte in verbindlicher Weise in allen Ländern der Welt respektiert werden. [...]“
Nach der gescheiterten Konferenz rief Morales am 5. Januar die sozialen Bewegungen zu einer Weltklimakonferenz vom 20. bis 22. April in Bolivien auf. Ob in der Presse davon überhaupt etwas zu lesen sein wird?
Eine außergewöhnliche Politik
Dass die Politik Boliviens unter Präsident Morales außerordentlich erfolgreich ist, wird von verschiedensten Seiten anerkannt – sogar vom Internationalen Währungsfonds! Ich zitiere aus einem Bericht auf Hintergrund.de:
„IWF-Chefökonom Gilbert Terrier fand bei der Präsentation des Berichts ‚Ökonomische Perspektiven der Amerikas 2009‘ erstaunlich freundliche Worte für die Politik von Boliviens ‚Bewegung zum Sozialismus‘ (MAS). ‚Die Akkumulierung von Ersparnissen und Geldreserven erlauben dem Land die Durchführung antizyklischer Maßnahmen‘, zitiert die junge Welt am 11. November 2009 die Analyse des Wirtschaftswissenschaftlers.
Die nationale Währung Boliviano habe durch die Entkoppelung vom US-Dollar vor Abwertung geschützt werden können. Zugleich sei es gelungen die Zinsen auf einem niedrigen Wert zu halten und staatliche Infrastrukturprogramme wie den Bau von Straßen, Schulen und Krankenhäusern voranzutreiben.
Nach seinem Wahlsieg im Dezember 2005 hatte die Regierung Evo Morales die Gas- und Ölindustrie verstaatlicht und neue Verträge mit den Ölgesellschaften ausgehandelt. Die Staatseinnahmen konnten dadurch verdreifacht werden. Die Erlöse wurden umverteilt und zu einem großen Teil in soziale Projekte für Kinder, Alte und Mütter gesteckt.
Laut IWF haben die entsprechenden Sozialprogramme Wirkung gezeigt. ‚Schaue ich mir das Bolivien von vor zehn Jahren an, dann muß ich gestehen, daß mir die Sozialpolitik dieser Regierung äußerst gut gefällt‘, sagte Terrier laut junge Welt. [...]
Boliviens Wirtschafts- und Finanzminister Luís Arce erklärte dagegen, dass die Wirtschaft seines Landes gerade deshalb so krisenfest sei, weil sich die sozialistische Regierung in den vergangenen Jahren eben nicht mehr an die Rezepte des marktradikalen IWF gehalten habe. [...] Seit 2006 hatte die Regierung Morales sämtliche IWF-Finanzierungsprogramme abgebrochen und den Rat seiner Ökonomen ausgeschlagen.
Noch in den 1990er Jahren galt Bolivien als Musterschüler der vom IWF diktierten neoliberalen Wirtschaftspolitik. Eins zu eins wurden dessen Strukturanpassungsmaßnahmen (SAP) umgesetzt, so die junge Welt: ‚drastische Absenkung der Staatsausgaben, Privatisierung von Gas- und Ölbusiness, Bergbau, Renten- und Gesundheitssystemen, von Fluglinien, Telekommunikationsanbietern, Wasser- und Stromversorgung sowie Liberalisierung des Bankensystems.‘
Erst durch den massiven Widerstand sozialer Bewegungen und die Wahl Evo Morales wurde diese Politik beendet und Bolivien wurde vom Armenhaus Lateinamerikas zum Hoffnungsträger der gesamten Region.
‚Dieser Präsident hat das Land in nur drei Jahren komplett verändert. Bolivien war das zweitärmste Land des Kontinents nach Haiti, verfügt aber über riesige Bodenschätze an Erdöl, Gas, über Bergwerke. Die wurden jetzt vom Staat als Dienstleistungsbetriebe übernommen. Seitdem macht Bolivien unglaubliche sozialökonomische Fortschritte‘, sagte der Globalisierungskritiker Jean Ziegler, im Gespräch mit Hintergrund.“
Eine Rede wie die von Präsident Morales ist außergewöhnlich – vor allem, dass ein Präsident so klare Worte spricht, ist außergewöhnlich. Sonst sind derartige Konferenzen der „Staatengemeinschaft“ ja von Egoismen und Abstraktionen geradezu durchtränkt. Wenn man das erlebt, kann einem sehr klar werden, wie ungeheuer notwendig ein anderes Bewusstsein heraufkommen muss!
Morales hat mit seinem einsamen Standpunkt keine Chance – und es wird auch nicht besser, wenn er von Chavez, Castro und anderen sozialistischen Staatschefs unterstützt wird. Das Bewusstsein der vom Kapitalismus und Materialismus geprägten westlichen Welt wird sich nicht ändern – und man wird den erreichten Wohlstand mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Die tiefere Realität der sozialen Frage
Das Bewusstsein derer, die sich „eine andere Welt“ wünschen, ist noch nicht stark genug, um daran etwas zu ändern. „Eine andere Welt ist möglich“ – aber nur dann, wenn sich in den einzelnen Menschen noch viel realer und tiefer ein ganz anderes Bewusstsein entwickelt ... eines, das aus einer realen und tiefen spirituellen Menschenkunde und „Welt-Anschauung“ hervorgehen würde.
In Vorträgen vom Ende des Jahres 1918 schilderte Rudolf Steiner ausführlich, wie der Mensch soziale und antisoziale Impulse in sich trägt – und dass letztere in unserer Zeit sogar immer stärker werden, weil der Mensch sich selbst immer bewusster ergreifen und die „Bewusstsseinsseele“ entwickeln soll. Das Denken ist an sich schon antisozial, weil man von den Gedanken eines Anderen „eingeschläfert“ wird und diesem Prozess das eigene Denken entgegenstellen muss. Das Fühlen führt zunächst zu Empfindungen, die durch Sympathie und Antipathie verfälscht sind. Und das unverwandelte Wollen entspricht dem Grad von Liebe, den man einem Menschen entgegenbringt, die aber in Wirklichkeit zunächst letztlich Selbstliebe ist.
Dann sagt er im Vortrag vom 12.12.1918 (GA 186):
„Nicht darum handelt es sich, Rezepte zu finden, um die antisozialen Triebe zu bekämpfen, sondern darauf kommt es an, die gesellschaftlichen Einrichtungen, die Struktur, die Organisation desjenigen, was außerhalb des menschlichen Individuums liegt, was das menschliche Individuum nicht umfaßt, so zu gestalten, so einzurichten, daß ein Gegengewicht da ist für dasjenige, was im Innern des Menschen als antisozialer Trieb wirkt. Daher ist es so notwendig, daß der Mensch in diesem Zeitraum mit seinem ganzen Wesen ausgegliedert wird von der sozialen Ordnung. Sonst kann das eine und das andere nicht rein sein. [...]
Im griechisch-lateinischen Zeitalter konnte noch das Sklaventum herrschen, da war der eine der Herr, der andere der Sklave, da waren die Menschen eingeteilt. Heute haben wir als Rest gerade dasjenige, was den Proletarier in solche Aufregung versetzt: daß seine Arbeitskraft Ware ist, daß also etwas, was in ihm ist, noch äußerlich organisiert ist. Das muß weg. Und nur dasjenige kann sozial gegliedert werden, was nicht am Menschen hängt: seine Position, der Ort, an den er hingestellt ist; nicht etwas, was in ihm selbst ist. [...]
Und man wird sehen, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum eine Tendenz vorhanden ist, das Soziale gerade außer acht zu lassen, wenn man sich bloß sich selbst überläßt, wenn man nicht aktiv eingreift, wenn man nicht mittut in Seelentätigkeit. Was notwendig ist und was sehr bewußt erworben werden muß, während es früher instinktiv sich im Menschen geltend machte, das ist gerade das Interesse von Mensch zu Mensch. Der Grundnerv allen sozialen Lebens ist das Interesse von Mensch zu Mensch. [...]
Sie haben nicht das rechte Interesse, wenn Sie glauben, Sie können sich für eine Hundertfranken-Note etwas kaufen, und denken nicht daran, daß dies ein soziales Verhältnis bedingt zu soundso vielen Menschen und ihren Arbeitskräften. Erst dann haben Sie das rechte Interesse, wenn Sie jede solche Scheinhandlung, wie das Eintauschen von Waren für eine Hundertfranken-Note, durch die wirkliche Handlung, die mit ihr verbunden ist, ersetzen können in Ihrem Bilde.
Sehen Sie, die bloßen, ich möchte sagen, egoistischen, das Herz erwärmenden Redereien davon, daß wir unsere Mitmenschen lieben und diese Liebe ausführen, wenn wir gerade die allernächste Gelegenheit dazu haben, die machen das soziale Leben nicht aus. Diese Liebe ist zumeist eine furchtbar egoistische Liebe. Gar mancher unterstützt von dem, was er erst, man kann sagen erbeutet, in patriarchalischer Weise seine Mitmenschen, um sich dadurch ein Objekt zu schaffen für seine Selbstliebe, weil er sich da recht innerlich wärmen kann in dem Gedanken: Du tust das, du tust das. Man kommt nicht darauf, wie ein großer Teil der sogenannten Wohltätigkeitsliebe maskierte Selbstliebe ist. [...]
Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. [...] Wie blind heute die Menschen aneinander vorbeigehen, das sieht man dann, wenn diese Menschen in den mannigfaltigsten Gesellschaften und Sozietäten sich vereinigen. Die sind heute oftmals für die Menschen durchaus nicht eine Gelegenheit, Menschenkenntnis sich zu erwerben. Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind.
Gerade das ist notwendig, daß man, ich möchte sagen, in systematischer Weise in Zukunft zu dem Antisozialen das Soziale bringt. Innerlich-seelisch gibt es dafür verschiedene Mittel, unter anderem, wenn wir versuchen, öfter einmal im Leben auf unser eigenes diesmaliges Leben, auf die diesmalige Inkarnation zurückzublicken, wenn wir zu überschauen versuchen dasjenige, was sich abgespielt hat in unserem Leben zwischen uns und anderen Menschen, die in dieses Leben hereingetreten sind. [...] Wenn wir versuchen, Sinn dafür zu entwickeln, wieviel wir zu danken haben der einen oder der anderen Person, versuchen, in dieser Weise uns selber im Spiegel derjenigen zu sehen, die im Laufe der Zeit auf uns gewirkt haben und mit uns zusammen waren, dann löst sich allmählich – wir werden das erfahren können – ein Sinn von uns los, der im folgenden besteht:
Weil wir uns geübt haben, Bilder von in der Vergangenheit mit uns zusammenhängenden Persönlichkeiten zu finden, so löst sich von unserer Seele ein Sinn los, nun auch dem Menschen gegenüber zu einem Bilde zu kommen, dem wir in der Gegenwart gegenübertreten, dem wir dann von Angesicht zu Angesicht in der Gegenwart gegenüberstehen. Und das ist das ungeheuer Wichtige, daß in uns der Trieb erwacht, nicht bloß den Menschen, wenn wir ihm gegenüberstehen, nach Sympathien und Antipathien zu empfinden, nicht bloß in uns den Trieb erwachen zu lassen, irgend etwas am Menschen zu lieben oder zu hassen, sondern ein liebe- und haßfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken. [...]
Das ist aber etwas, was bewußt gepflegt werden muß. Das ist etwas, was auch in die Kinder- und Schulpädagogik einziehen muß: diese Fähigkeit, am Menschen das imaginative Vermögen zu entwickeln.