2010
Die psychosoziale Katastrophe und ihre Untergründe
Ein Blick auf die tägliche Leugnung von Seele und Geist und deren Wirklichkeit.
Inhalt
Der Hilferuf leitender Ärzte
Die Wirklichkeit von Leib, Seele und Geist
Die Kränkung und Ausrottung der Seele
Der blinde Fleck und modernes „Opium für das Volk“
Die Frage an das menschliche Bewusstsein
Von der Würde des Geistes
Der Hilferuf leitender Ärzte
Vor wenigen Tagen wurde im Internet ein Aufruf „Zur psychosozialen Lagen in Deutschland“ veröffentlicht, über den auch FOCUS berichtete. Leitende Ärzte psychosomatischer Kliniken und viele weitere unterzeichnende Ärzte und Psychologen rufen zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion auf. In dem Aufruf heißt es:
Wir möchten unsere tiefe Erschütterung über die psychosoziale Lage unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen. In unseren Tätigkeitsfeldern erfahren wir die persönlichen Schicksale der Menschen, die hinter den Statistiken stehen.
Seelische Erkrankungen und psychosoziale Probleme sind häufig und nehmen in allen Industrienationen ständig zu. Circa 30% der Bevölkerung leiden innerhalb eines Jahres an einer diagnostizierbaren psychischen Störung. Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen. [...]
In allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten und in allen Nationen zunehmenden Wohlstands nehmen seelische Erkrankungen zu und besitzen ein besorgniserregendes Ausmaß. [...] Trotz der kontinuierlichen Zunahme an psychosozialen medizinischen Versorgungsangeboten ist die Versorgung auch in Deutschland angesichts der Dynamik und des Ausmaßes der seelischen Erkrankungen nur in Ansätzen möglich.
Die Ursache dieser Problemlage besteht nach unseren Beobachtungen in zwei gesellschaftlichen Entwicklungen:
1. Die psychosoziale Belastung des Einzelnen durch individuellen und gesellschaftlichen Stress, wie z.B. Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzungen, berufliche und persönliche Überforderungen, Konsumverführungen, usw. nimmt stetig zu.
2. Durch familiäre Zerfallsprozesse, berufliche Mobilität, virtuelle Beziehungen, häufige Trennungen und Scheidungen kommt es zu einer Reduzierung tragfähiger sozialer Beziehungen und dies sowohl qualitativer als auch quantitativer Art. [...]
Angesichts der vorherrschenden gesellschaftlichen Orientierung an materiellen und äußeren Werten werden die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte und der Sinnverbundenheit dramatisch unterschätzt.
Wir benötigen einen gesellschaftlichen Dialog über die Bedeutung des Subjektiven, des Seelischen, des Geistig-Spirituellen, des sozialen Miteinanders und unseres Umgangs mit Problemen und Störungen in diesem Feld. [...]
Die Wirklichkeit von Leib, Seele und Geist
Die Tatsache, dass innerhalb eines Jahres jeder dritte Mensch an diagnostizierbaren psychischen Symptomen leidet, ist wahrlich erschütternd. Schon Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, prophezeite in deutlichen Worten, dass diese seelischen Störungen und Erkrankungen immer weiter zunehmen werden.
In einem Vortrag vom Januar 1912 („Nervosität und Ichheit“) wies er auch auf Hintergründe und Möglichkeiten der Stärkung hin. Eine bahnbrechende Entdeckung des Geistesforschers Rudolf Steiner war es, dass die Denk- und die Lebenskräfte eng miteinander zusammenhängen bzw. die gleiche Grundlage haben. Steiner unterscheidet jedoch das automatisch ablaufende „Denken“ von einem wahrhaft innerlich ergriffenen, selbst gewollten und getanen Denken. In jenem Vortrag nun schildert er, wie das, was der Mensch ohne seelische Beteiligung tut bzw. denkt, unmittelbar die Lebenskräfte schwächt. Diese Erkenntnis ist vollkommen einzusehen, wenn man wie Rudolf Steiner exakt Leib, Seele und Geist unterscheidet und in Bezug auf den Leib nochmals das Physisch-Materielle und den Zusammenhang der Lebensprozesse.
Der Zusammenhang dieser „Glieder“ beweist sich selbst, indem einfache Übungen, durch die der Mensch sich von innen ergreift, ganz eindeutig stärkend und gesundend wirken – auf unterschiedlicher Ebene. Bis in eine unmittelbare Stärkung des Ich hinein wirkt die Übung, sein Urteil zurückzuhalten bzw. nur dort zu urteilen, wo es in keinster Weise um persönliche „Befindlichkeiten“, sondern um die Sache an sich, um die Wahrheit geht. Eine ähnliche Übung ist, sich zu jeder Sache das Für und Wider – beides – vor Augen zu stellen und dann um so bewusster zu einer gewollten Entscheidung zu kommen. Durch solche Übungen lernt der Mensch, sich selbst innerlich zu ergreifen – nicht seelisch, wo Anti- und Sympathisches, also das „Allzu-Persönliche“ mitspricht, sondern immer mehr rein geistig, in einem „zweiten“ oder „neuen“ Menschen, in Wirklichkeit aber seinem wahren Wesen.
An diesem Punkte erst zeigt sich, was Seele und Geist sind. Der Hinweis auf die „seelen-feindlichen“ äußeren heutigen Verhältnisse und die Bedeutung des „Subjektiven“ verdunkelt diesen Unterschied noch. Es gibt nicht nur ein Außen und ein Innen – es gibt auch in dem „Innen“ wiederum etwas, was als innerster Seelenkern (Ich) erst zu suchen und zu finden wäre, wodurch alles Andere sich auch hier noch als im wahrsten Sinne „äußerlich“ erweist. Heute sind die Menschen Spielball ihrer Affekte, Emotionen und aufkommenden und vergehenden (Ge-)Lüste, Gedanken und Impulse. Der innerste Wesenskern des Menschen, wenn er erwacht bzw. sich erweckt, wird auf all dies als etwas schauen, was ihm widerspricht – auch wenn es gerade in diesem Widerspruch der Anstoß für jenes Erwachen sein kann.
Gefühle, Emotionen, Gedanken und Bestrebungen, die sich auf das Äußere richten, müssen auf Dauer unbefriedigt lassen und die innere Unbefriedigtheit vergrößern (wie glücklich man erst wird, wenn man seinen großen Reichtum weggegeben hat, zeigt das Beispiel von Karl Rabeder). Das Gleiche gilt aber auch für alles, was dem eigenen Egoismus dient. Dass Egoismus und Selbstbezogenheit auf Dauer nie essentiell befriedigen, zeigt sehr viel vom Wesen des Menschen – es zeigt, dass sein wahres Wesen zwar absolut individuell und einzigartig, aber nicht egoistisch ist. Die mit dem Egoismus zusammenhängenden Seelenregungen hindern den Menschen gerade daran, zu seinem wahren und auch einzigartigen Wesen zu kommen. Im Zustand dieser Seelenregungen sind die Menschen einander gerade gruppenhaft gleich, nicht individuell, Opfer allgemein-menschlicher (in höherem Sinne aber gerade noch nicht menschlicher) Triebe und anderer unbewusster Impulse.
Heute muss der Mensch unter der äußeren Realität leiden, weil sie in stärkstem Maße unmenschlich geworden ist – das betrifft sowohl die Lebenskräfte, als auch die Bedürfnisse der (subjektiven) Seele, als auch das wahre Wesen des Menschen als geistige, ewige Individualität. Die heutige Realität verstößt einfach fortwährend gegen ganz reale Gesetzmäßigkeiten des Lebens, des Seelischen und des Geistigen.
Nehmen wir die einfache Erkenntnis, dass die heutige Realität zumeist das Gegenteil dessen ist, was wir als das Wahre, das Schöne oder das Gute bezeichnen können. Dies sind nicht veraltete philosophische Ideen, es sind Realitäten! Man kann sich doch fragen, woher hat der Mensch solche Ideen, ja Ideale? Er hat sie, weil es Realitäten sind und weil diese zutiefst mit seinem eigenen Wesen zu tun haben. Das Wahre oder das Schöne ist eine absolute Realität – ebenso wie heute die Abwesenheit des Wahren real ist, wenn die Realität von Lügen und Phrasen bestimmt ist. Wir erleben doch die Phrase und die Lüge, wir erleben täglich ihre (krankmachende!) reale Wirkung – warum nur tun wir uns so schwer, in der Wahrheit etwas genauso Reales, ja noch viel Realeres zu sehen? Die Lüge oder auch nur die Phrase können die Seele doch nur deshalb krank machen, weil sie die Abwesenheit von etwas sind, was das wahre Lebenselement der Seele ist!
Die Seele braucht das Wahre, das Schöne und das Gute ebensosehr wie der Körper die Luft zum Atmen, sonst wird sie krank. Dass wir in alledem etwas weniger Reales erblicken, als es die Luft ist, liegt nur daran, dass wir die Seele selbst nicht mehr als real ansehen. Der Mensch muss sich wahrhaft finden, um zu erleben, wie sehr er mit diesen Realitäten verbunden ist. Er findet seine eigene Realität erst dann, wenn er diese Ideale als Realitäten findet und umgekehrt.
Doch schauen wir einmal auf die heutigen äußeren Verhältnisse.
Die Kränkung und Ausrottung der Seele
Die Arbeitswelt macht den Menschen krank, weil sie ihn kränkt – und zwar in seinem wahren Wesen. Die ganzen Forderungen nach Flexibilität, der Umgang mit „Arbeitslosen“, aber auch mit „Arbeitnehmern“ ist nur die Spitze des Eisberges, der das ganze Problem nur immer sichtbarer bzw. erlebbarer werden lässt.
Der Mensch wird heute seelisch ausgebeutet, indem er Arbeiten verrichten muss, die zu seinen eigenen tieferen Impulsen keinen Bezug haben, so dass er sich im Grunde fortwährend verleugnen muss. Er wird zugleich materiell ausgebeutet, indem er das, was er oft so seelenlos tun muss, nicht einmal in dem Maße „bezahlt“ bekommt, wie er zur Leistung und zum Erlös beiträgt.
Doch heute wird nicht nur die physische Arbeitskraft des Menschen ausgebeutet und auf seine Seele keinerlei Rücksicht genommen, nein – die Missachtung und Kränkung der Seele selbst ist ein ungeheures Geschäft geworden. Denn was ist zum Beispiel der „Spielzeug-Markt“ anderes? Produziert man den seelenloses Plastikgerät, Monster, Kampfflugzeuge, Roboter und Barbiepuppen, weil dies die Seele der Kinder nährt und wachsen lässt? Nein, weil man damit Geld verdient – Profit macht mit der Zerstörung der Seelen.
Und mit dem Argument, „die Kinder wollen doch genau das“, und mit dem ganzen Gebiet der Werbung ist man genau bei jener Zweiheit der Seele, die es aufzudecken gilt. Werbung schafft Bedürfnisse, aber sie arbeitet auch mit den Bedürfnissen der Menschen. Die sexualisierte Welt arbeitet mit dem Bedürfnis nach Liebe, aber auch mit dem Sexualtrieb des Menschen – und sie schafft Bedürfnisse, indem sie sie um des Profits willen verstärkt und kultiviert. Sie suggeriert, dass es heute notwendig ist, ein „reges und erfolgreiches Sexualleben“ zu haben, und sie arbeitet mit der Illusion (um nicht zu sagen Lüge), dass man mit Produkt X den Traumpartner gewinnen kann... So wird der Blick des Menschen ganz nach außen gerichtet, ja konditioniert, das Erleben der inneren Zusammenhänge und „Mechanismen“ geht ganz verloren.
Indem sie sich auf (nicht „an“!) die Kinder richtet, offenbart die Werbung vollständig ihr perfides Wesen. Kinder können noch gar nicht über die Zusammenhänge urteilen (Erwachsene meist auch nicht, aber sie wären dazu prinzipiell in der Lage). Sie nehmen die Erwachsenen beim Wort, auch die Werbung. Was als „toll“ hingestellt wird, ist toll, es gewinnt in der kindlichen Seele eine unmittelbare Eigendynamik. Dazu kommt die objektiv faszinierende Wirkung der Technik oder des Fremdartigen. Und nicht zuletzt sprechen seelenlose Kampffiguren auch den Machttrieb an. Für diesen sind gerade Kinder nochmals besonders anfällig, weil sie sich ja sehr oft als „schwach“ erleben müssen.
Kinder haben kaum eine innere Instanz, sich gegen die hier wirkenden, ohnehin ganz undurchschauten Mechanismen zu wehren – jedenfalls dann nicht, wenn ein zartes urgesundes Empfinden erst einmal korrumpiert ist, und genau darauf zielt die Werbung ja ab! Sobald ein solches „Spielzeug“ toll gefunden wird, halten die ganzen Mechanismen, die es wie ein Trojanisches Pferd in seinem seelenlosen Plastikbauch bereithält, in der schutzlosen Seele Einzug: Die Zerstörung der zarten Empfindung für wahrhaft Schönes und auch Lebendiges, die Zerstörung der Empfindung, dass „Kämpfen“ auch in der eigenen Seele etwas tötet usw.
Das Gleiche betrifft die Medienwelt, die sich und ihre Wirkungen über die Kinderseelen ergießt. Triviale Eindrücke prasseln auf das Kind nieder. In Trickfilmen werden Verletzungen und gegenseitige Schädigungen als „lustig“ dargestellt, und in nahezu allen „Kindersendungen“ geht es direkt oder indirekt auch um Verfrühung: Je früher die Kinder ihre Intellektualität ausbilden, aber auch an ihrer „Performance“ arbeiten usw., desto besser. All dies nehmen Kinder in sich auf, sie können sich nicht dagegen wehren. Und der berühmte Gruppendruck tut dann sein übriges. Heißt es zunächst noch: „Der hat aber...“, heißt es schon bald: „Alle außer mir dürfen aber schon...“. Und wie wollen dann Eltern noch diesem Druck standhalten, schaffen sie es doch nicht einmal in ihrer eigenen Welt!
Bei alledem habe ich noch überhaupt nicht von Computerspielen und Gewalt-Videos gesprochen! Auch diese sind nur die zwangsläufigen Ausläufer einer Kultur, die insgesamt vollständig auf die Tötung der Seele ausgerichtet ist. Und man glaube nicht, dass sei die hauchdünne Spitze eines Eisberges. In Videotheken scheint die überwiegende Zahl der Neuerscheinungen Horror und Gewalt zu verherrlichen, in vielen Schulen sind sexuelle und andere Gewalt verherrlichende Rap-Songs eine grassierende Seuche.
Wie soll eine Gesellschaft, in der schon die Kinder so aufwachsen, all dies überleben? Man denke doch nur einmal noch zwanzig Jahre weiter. Unsere Eltern (oder Großeltern) hatten noch kaum wirkliches Fernsehen, vielleicht zwei Programme. Wir (oder unsere Eltern) wurden bereits medial überflutet, dazu kam die Explosion des Spielzeugmarktes. Unsere Kinder (oder wir) wuchsen und wachsen mit Monsterfiguren, Gogos, Pokémon, Hannah Montana und Millionen anderer Seelengifte auf – und in zehn bis zwanzig Jahren werden sie selbst Kinder erziehen. Was an urteilender, ästhetischer und moralischer Vernunft wird dann überhaupt noch übrig sein? Gerade die rasante Zunahme seelischer Erkrankungen zeigt doch, wie wenig die Menschen alledem noch von innen heraus entgegenzusetzen haben! Ohne eine reiche, warme, tiefe Innerlichkeit wird man aber Kinder nicht erziehen können...
Die Fähigkeit, Innerlichkeit weiterzugeben und zu innerem Wachstum zu erziehen, nimmt rasant ab, und alles, was die Reste verbleibender oder aufkeimen wollender Innerlichkeit unmittelbar wieder aussaugt, nimmt rasant zu. Wie könnte man daran etwas ändern? Nur durch kraftvolle Einsicht in diese Zusammenhänge und eine ebenso entschlossene Änderung der Verhältnisse!
Noch immer hat der Mensch Sehnsucht nach Wirklichkeit – nach seiner eigenen Wirklichkeit. Doch er weiß nicht mehr, wo er diese suchen soll. Man spürt seine Seele nicht mehr, man spürt nur das dumpfe Leiden der Seele, dessen Ursache man nicht kennt. Was der Geist ist, erlebt man schon gar nicht mehr (von der katholischen Kirche wurde er schon im Konzil von 869 „abgeschafft“). Und zuletzt schwindet auch das Leibeserleben.
Man schafft sich ein neues Leben in der virtuellen Welt – dort wo alles noch möglich und auch einfach ist –, und man verliert die Wirklichkeit. Auf der einen Seite Computerspiele, Chatten, Facebook, Handy – auf der anderen Seite neue Sinnesreize, Sexpraktiken (und -partner), S-Bahn-Surfen, Drogen usw. – Der Mensch tut alles, um sich zu fühlen, um überhaupt etwas zu fühlen – aber er hat keine Ruhe mehr. Er giert nach Empfindungen, Eindrücken, Kontakten, Anerkennung usw., weil er in sich nichts mehr findet und auch nichts mehr hat. Er lebt nicht von innen nach außen, er saugt von außen nach innen und hat dadurch das Gefühl, noch zu leben. Um so schwächer aber wird die Seele, wie auch körperlich ein Muskel, den man nicht betätigt, schwindet bis zum völligen Verlust...
Der Mensch verliert sich selbst – und zugleich den Mitmenschen. Der Amokläufer ist nur das erschreckenste Symptom einer Gesellschaft, die von dem völligen Verlust der Empathie gekennzeichnet ist. Wie soll man sich in Andere hineinfühlen, wenn man sich selbst nicht mehr in dem erlebt, was Menschsein bedeutet, zumindest seelisch? Aber auch: Wie soll und kann man vor einer Welt Achtung empfinden, die einen zum seelischen Wrack werden lässt?
Der blinde Fleck und modernes „Opium für das Volk“
Das heutige Arbeitsleben treibt den Menschen in die völlige Polarisierung von Arbeit und Freizeit. In der Arbeit findet man immer weniger irgendetwas, was mit einem selbst zu tun hätte. In der Freizeit lebt man sich selbst vollkommen aus, und auch dies immer mehr nur bezogen auf das Körperliche (Entspannung, Erleben, Sensation, Genuss). So wächst der krasse Egoismus nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Freizeit. Man sehnt sich nach Beziehung, nach Liebe – aber man ist immer weniger in der Lage, dies auch zu geben, von sich aus.
Noch immer ist Arbeitskraft eine Ware, die zu Markte getragen wird. Heute ist es nicht mehr die antike Sklaverei, sondern die moderne „Ich-AG“, wo der Mensch selbst zum „Unternehmer“ seines Sklaventums wird, oder der 1-Euro-Job, wo der Mensch gezwungen wird, etwas zum „Wohl der Allgemeinheit“ zu tun, während dieses Wohl nur noch eine Phrase ist. Denn wer ist die Allgemeinheit, wenn nicht die wachsende Zahl derer, für die es keine oder nur noch prekäre oder befristete Jobs gibt und die für diejenigen arbeiten müssen, welche die Jobs vergeben und Reichtum ansammeln, den sie nicht verdienen? Allein schon das Wort „Ich-AG“ ist ein Frontalangriff auf die wahre Bedeutung dieses erhabenen Wortes „Ich“ und seines hohen Sinnes. Das menschliche Ich ist etwas, was in der heutigen Welt der „Ich-AG“ gar nicht leben kann!
Wo die menschliche Mitte verlorengeht – nämlich das Gefühl –, geht auch das Gefühl für die Ungerechtigkeit verloren. Die „schönen“, kopfgeborenen Ökonomie-Theorien derer, die sich um ihren Lebensunterhalt nicht sorgen müssen, löschen dann auch noch das letzte Urteilsvermögen aus, weil in den Theorien nichts mehr davon sichtbar ist, dass es um Menschen geht und eine theoretische Gleichung auch bedeuten kann, dass in der Realität größte Ungerechtigkeit waltet.
So ist es zum Beispiel auch mit dem Zins. Der Zins ist heute kein vernünftiger Anteil mehr für den, der Geld geliehen hat, sondern er hat sich verselbstständigt und ist ein Mittel für leistungslose Einkommen derer, die den Reichtum, den sie nun verleihen, selbst durch ungerechte Wirtschaftsverhältnisse erworben haben und nun auf der Grundlage dieses Raubes einen weiteren Raub bis in die Ewigkeit vollziehen.
Begriffe wie die Ewigkeit glaubt man, in die theologische Gerümpelkammer verweisen zu können, aber in den Kopfgeburten der Ökonomie-Theoretiker leben sie wieder auf, denn was ist die Zinsgleichung anderes als die Übertragung von etwas ursprünglich teilweise – oder möglicherweise – Sinnvollem in die abstrakte Ewigkeit? Der Schuldner, egal wie ungerecht die Tatsache seiner Armut ist, wird bis in alle Ewigkeit – oder zumindest bis zu seinem Lebensende – gezwungen, einen Zins zu zahlen, und sehr oft macht allein die Zinszahlung schon bald ein Vielfaches von dem aus, was ursprünglich verliehen wurde.
Heute bestimmt das Ökonomische – das Geld – nahezu die gesamte Wirklichkeit. Ja, es bildet sogar eine riesige zweite virtuelle Welt, die dann wiederum in die Wirklichkeit hineinschwappt und dort erst recht ungeheure Verwüstungen anrichtet. Und doch hinterfragt niemand diesen völlig zerstörerisch gewordenen Geldbegriff. Auch dieser ist etwas Absolutes, Ewiges geworden, ein Tabu. Und genau diese Dinge glaubt man, heute nicht mehr zu haben, nichts Ewiges, nichts Absolutes, keine Tabus ... aber dort, wo die gesamte Wirklichkeit geprägt wird, existiert dieses Tabu, der große blinde Fleck der heutigen Gesellschaften. Und jene „grauen Herren“, die aus alledem Macht gewinnen, tun ihr Bestes, um diesen blinden Fleck in der Blindheit zu halten. All die Nachrichten und Presseerklärungen von Aufschwung oder Nicht-Aufschwung, von den Forderungen der sogenannten „Arbeitgeberverbände“ nach mehr Flexibilisierung, nach einem Gürtel-enger-Schnallen usw. sind nichts weiter als „Opium für das Volk“, um die wirkliche Religion, nämlich die des Nihilismus, des reinen Materialismus und der gegenwärtigen Strukturen, auf immer zu sichern.
Diejenigen, die das verlachen, was scheinbar metaphysisch ist – Menschlichkeit, Ideale, Spirituelles – sie sind die wahren Hohepriester der Unmenschlichkeit, der Ungerechtigkeit, des Materialismus und des Todes. Und viele davon sind es sehr, sehr bewusst.
Es ist nicht wahr, dass die Politik Spielball der Sachzwänge ist. Eine Politik, die die Arbeitslosenversicherung zerstört, indem sie Hartz IV, Ich-AGs und 1-Euro-Jobs einführt, dafür die Erbschafts- und Vermögenssteuern abschafft, die solidarische Krankenversicherung unterminiert, privaten Banken Milliardenhilfen gewährt und auf hunderterlei andere Weise die Trennung zwischen Arm und Reich vorantreibt, ist nicht Spielball der Sachzwänge – sie schafft selbst diejenigen Verhältnisse, als deren Spielball sie sich dann ausgibt. Opium für das Volk, Reality-TV, ein Horrorfilm ohne Ende oder (Kino-)Ausgang... (Mehr Aufsätze zu den Skandalen „Hartz IV“ und „Finanzkrise“).
Die Frage an das menschliche Bewusstsein
Die ganze Frage ist in gewisser Hinsicht tatsächlich nicht eine Frage eines einzelnen gesellschaftlichen Bereiches, etwa der Politik oder der Bildung, sondern es ist eine Frage des Bewusstseins. Der Mensch muss für seine eigene Wirklichkeit aufwachen. Er muss für die Wirklichkeit aufwachen, dass er nicht einfach ein physisch-biologisches Wesen ist, sondern dass er mit Hilfe seiner physisch-biologischen Leiblichkeit in einer physischen Welt existieren kann, zugleich aber viel mehr ist als das. Der Mensch muss erkennen, dass es neben und inmitten dieser physischen Welt noch ganz andere Welten gibt, und dass er selbst Bürger aller dieser Welten ist.
Die Welt des Lebendigen durchdringt das Physische, und gerade deshalb finden die Wissenschaftler in dieser Welt des Lebendigen überall physische und biochemische Realitäten – sie finden aber nur diese und glauben, es wäre die ganze Realität. Dann gibt es die Welt des Seelischen, die heute ebenfalls ihrem Wesen nach überhaupt nicht verstanden wird. Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und alle verwandten Richtungen sind in ihren scharfsinnigen Erkenntnissen sehr weit gekommen, und dennoch berühren sie nur die Oberfläche der Symptome und dessen, was sie aus ihrem Ansatz heraus als „Ursachen“ bezeichnen. Das Wesen der Seele erfassen auch sie nicht.
Und schließlich gibt es noch die Welt des Geistes, die man überhaupt erst dann erfasst, wenn man nicht nur glaubt, sondern erkennt und erlebt, dass es etwas gibt, was ewig ist, und zwar real ewig, nicht ausgedacht-abstrakt ewig wie die Formeln der Ökonomie-Theoretiker, sondern in der Realität etwas Ewiges. Nur das Ewige ist überhaupt in der Lage, etwas Ewiges zu erkennen. Der Mensch könnte allein schon die Idee der Ewigkeit gar nicht ausbilden, wenn er nicht in seinem geistigen Wesen ein Ewiges wäre. Und er ist nicht ein Ewig-Gleiches!
Der Geist macht den Menschen zum Menschen. Die heutige Realität ist aber zu einer absolut geistfernen und geistfeindlichen geworden. Deswegen ist es heute in absolutem Sinne not-wendig geworden, dass der Mensch zu seinem Wesen erwacht, dass ihm sein eigenes Wesen bewusst wird.
Das Wesen des Menschen und die äußere Wirklichkeit widersprechen heute einander in höchstem Maße. Die Wirklichkeit ist heute in voller Realität erschreckend unmenschlich geworden, und wie erwähnt ist vieles von dem, was heute geschieht – etwa das Suchtproblem oder die andere Sucht nach Sensationen und Erlebnissen –, die vollkommen unbewusste und irregeleitete Sehnsucht und Suche des Menschen nach sich selbst. Nicht einfach nach Selbstverwirklichung im üblichen Sinne, sondern nach einer Ver-wirklichung und Be-wahrheitung seines wahren Wesens. Diese Selbstverwirklichung hat dann nichts mehr zu tun mit dem heute allgegenwärtigen, unter diesen Bedingungen völlig selbstverständlichen Egoismus, sondern diese Selbstverwirklichung würde zugleich vollkommen einhergehen mit einer immer mehr zunehmenden Liebe zum Mitmenschen und zu alledem, wovon der heutige Mensch sich so schmerzlich abgesondert fühlt.
Der Mensch ist heute von allem abgesondert, vor allem aber von sich selbst, seinem eigenen wahren Wesen als voller Mensch mit Leib, Seele und Geist. Und die Verhältnisse und die aktiven Kräfte, die die heutige Wirklichkeit bestimmen und sie dem Gesetz der Materie und des Egoismus unterwerfen, halten das menschliche Bewusstsein in seiner Gefangenschaft. Denn heute besteht das Bewusstsein aus dem Intellekt, der nur ein kläglicher Schattenwurf des Geistes ist. Der Mensch wird aber an den Intellekt gekettet, indem er um jeden Preis von seiner Seele losgerissen wird – durch seelenloses Spielzeug, durch seelenlose Gewalt in Bild und Ton, durch virtuelle Eindrücke, durch abstrakte Nachrichten, durch ein seelenloses Wirtschaftsleben und durch eine allgemeine seelenlose Flüchtigkeit, Flut und Hektik.
Wenn die Seele sich selbst sucht, dann findet sie nur noch das, was aus „niederen Regionen“ an Trieb und Sucht aufsteigt, nicht aber das, was sie wahrhaft selbst ist und sucht. Die Seele findet ihr wahres Wesen, wenn sie sich dem Geiste gleichmacht – nicht dem Körper. Die Seele soll nicht tierisch, sondern göttlich werden – dann findet der Mensch sein wahres göttlich-ewiges Wesen, das ihm eigen, gegeben ist – um es zu suchen, zu finden und in Freiheit zu entfalten.
Wenn wir die Not der Menschen heute wenden wollen, dann müssen wir jene Strukturen ändern, die heute unmenschlich sind, die Menschen im Unmenschlichen halten und sie unmenschlich machen. Der Mensch hat die Anlage, sein wahres Wesen zu entfalten, das heißt, wahrhaft Mensch zu werden, er hat aber auch die Anlage, wahrhaft unmenschlich zu werden.
Die heutige Wirklichkeit und die heutigen Strukturen sind nach dem Gesetz des Materialismus und des Egoismus aufgebaut. Unser Wirtschaftssystem basiert auf der Prämisse, dass jeder egoistisch nach seinem „Wohl“, d.h. nach maximalem Reichtum, streben soll, und dass damit allen gedient sei. Wir wissen längst, dass es nicht so ist, und dennoch basiert unser gesamtes Wirtschaften auf diesem Dogma. Ein System aber, das auf dem Materiellen und dem Egoismus basiert und den Menschen dazu auffordert, immer materieller und egoistischer zu werden, muss den Menschen krank machen.[1]
Wir sehen, wie gerade diejenigen Menschen krank werden, die am wenigsten mit diesen unmenschlichen Forderungen zurechtkommen. Und wir sehen, wie die Welt von denjenigen bestimmt wird, die – zunächst oder ihr Leben lang – sich den Impulsen der Macht und des Geldes zuwenden. Wir sehen, wie all dies vor immer größeren Furchtbarkeiten nicht haltmacht: Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, Mädchen- und Menschenhandel...
Und nochmals der „Spielzeug“- und Medien-Markt: Ohne mit der Wimper zu zucken, verkauft und schändet man die Seelen der Kinder. Das ist nur möglich, wenn man längst seine eigene Seele verkauft hat und nicht einmal mehr leise ahnt, was ihr Wesen war.
Von der Würde des Geistes
Thoreau hat es einmal so ausgedrückt:
Aus den innersten Bezirken des Geistes eine Kneipe machen, als ob der Staub der Straße uns so lange beschäftigt hätte – ja die Straße selbst mit ihrem Verkehr, Gehaste, Dreck über den Altar der Gedanken hinweggegangen wäre! Wäre das nicht geistiger und moralischer Selbstmord? [...]
Ich glaube, der Geist kann endgültig entwürdigt werden durch die Gewohnheit, sich um triviale Sachen zu kümmern, so daß alle unsere Gedanken von Gewöhnlichkeit durchtränkt werden. Sogar unser Intellekt soll gewissermaßen noch zum Straßenschotter, sein Fundament soll in Stücke gebrochen werden, damit Räder darüberrollen können; und wenn du wissen willst, was die härtesten Pflaster ergibt – härter noch als Rollkies, Fichtenklötze, Asphalt –, dann brauchst du bloß einmal in einige der Köpfe zu schauen, die lange genug dieser Behandlung unterzogen worden sind.
Wenn wir uns so entwürdigt haben – und wer hat das noch nicht? –, dann wird Heilung nur aus der Hingabe und dem Willen kommen, diese Würde wiederherzustellen und wieder einen Tempel für unseren Geist aus uns zu machen. Diesen unseren Geist, also uns selbst, sollten wir behandeln wie unschuldige und phantasievolle Kinder, die wir ja auch behüten, und wir sollten aufpassen, welche Gegenstände und welche Gedanken wir ihnen anempfehlen. Lies nicht die ‚Times’ (‚Zeit’). Lies die Ewigkeit. Trivialitäten sind auf die Dauer genauso schlimm wie Schmutz.
aus: Leben ohne Prinzipien (1863).
Das heutige Leben in der Stadt, mit ihrem Lärm und ihrer Hässlichkeit, ihrer Hektik und Hetze, ihren Medien und der Werbung, aber auch der „Freizeitindustrie“, korrumpiert die Seele mit rasender Geschwindigkeit. Und wir sind alledem nicht nur ein paar Stunden oder einen einzigen Tag ausgesetzt, nein – jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr, unser ganzes Leben. Wie sollte man da nicht völlig empfindungslos werden oder aber krank? Allenfalls flüchtet man sich resignativ in die Welt der Freizeit und der engsten Familie, wo man noch ein paar Gefühlsregungen ausleben kann, die über den krassen Egoismus oder einsamsten Selbstbezug hinausgehen.
Die Krankheiten, die wir heute haben, die psychischen Schäden – all diese Krankheiten sind selbst wiederum nur ein Symptom für die Krankheit unserer Gesellschaft, die darin besteht, dass wir unser Menschenwesen nicht erkennen wollen und können. Dies ist letztlich die Ursache all dieser Krankheiten.
Es kommt nicht allein darauf an, die seelischen Krankheiten unserer Gesellschaft und ihr rasantes Anwachsen zu diagnostizieren – es kommt darauf an, sich des Wesens unseres Menschentums bewusst zu werden und ganz klar – nicht nur „psychologisch erklärt“ – zu erkennen, warum die heutige von Menschen gemachte Realität den Menschen krank macht.
Wenn der Mensch beginnt, sich selbst wahrhaft zu begreifen, erkennt er das Krankmachende in jedem Detail. Dann werden sich die Verhältnisse ändern, denn der Mensch selbst wird ein anderer werden und die Verhältnisse seinem Wesen anpassen. Die offenen Worte führender Ärzte psychosomatischer Kliniken sind ein allererster Anfang. Hoffen wir, dass sie die Stimme, die sie aus tiefer Erschütterung erhoben haben, nicht mehr schweigen lassen werden, und dass andere Stimmen hinzukommen. Letztlich geht es um die innere Stimme des Menschen, die wieder das Sprechen lernen muss – und nun zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ganz bewusst und ganz selbstständig.
In der tiefsten Not der Seele geht der Mensch vollkommen verloren – oder aber er findet sich wahrhaft und in voller Wirklichkeit.[2]
Zwei wesentliche Anmerkungen
[1] Es gibt sehr klare Überlegungen für ein anderes Wirtschaftssystem - siehe zum Beispiel "Reformen, die ihren Namen verdienen - für eine Wirtschaft, die dem Menschen dient" oder weitere Aufsätze zum Thema.
[2] Die katholische Kirche hat den Geist schon im Konzil von 869 „abgeschafft“. Eine Realität lässt sich jedoch nicht abschaffen. Die Anthroposophie Rudolf Steiners gibt den realen, dem modernen Bewusstsein entsprechenden Erkenntnisweg zu einem Erleben des Geistes und ist entgegen aller Missverständnisse und Anfeindungen die einzige Geistes-Wissenschaft unserer Zeit.