31.08.2011

Für ein politisches Bündnis der Menschlichkeit

Ein Aufruf im Angesicht der umfassenden menschlich-gesellschaftlichen Krise der Gegenwart.


Im Jahr 2011 leben wir mitten in einem Prozess, der auf eine extreme Krise zuläuft. Krise bedeutet zum einen Katastrophe, zum anderen aber (griech. crisis) auch Entscheidung. Ein Todeskampf kann zum Tod führen, er kann aber auch den Beginn einer tiefgreifenden Heilung bringen. Wir befinden uns in einer Zeit der Entscheidung, und das bedeutet auch: der Scheidung der Geister.

Mehr und mehr wird immer vollständiger offenbar, dass die bisherige Denkungsart gerade diejenige ist, die in die Katastrophe geführt hat. Lange genug hat diese Denkungsart verkündet: „Wartet noch ein Weilchen, ertragt noch ein wenig die unangenehmen Maßnahmen, dann wird alles besser.“ Lange genug haben wir erlebt, wie nichts besser wurde, wie allein die massive Umverteilung weiterging, so dass sich Reichtum, Einfluss und Macht immer weiter konzentriert haben.

Der Druck auf den Einzelnen hat heute sein bisheriges Maximum erreicht – und er steigt weiter. Unter der Herrschaft der bisherigen Denkungsart kann dies auch nicht anders sein, es ist so vorgesehen, es ist ein systemimmanenter Prozess. Mit aller Macht wird dies von den herrschenden Kräften auszublenden versucht, aber die Mechanismen des Kapitalismus – und erst recht seiner entfesselten Extremform – laufen zwangsläufig auf diese Konzentration zu. Diese Mechanismen heißen: Verewigte Zinseszinsformel, Macht und Recht des Stärkeren, Shareholder Value, Privatisierung des Profits und Verallgemeinerung der Kosten usw.

Die Katastrophe der Gegenwart erleben

Ein Ausweg ist nur möglich, wenn wir diese Mechanismen nicht nur erkennen, sondern immer tiefergehend – erleben. Statt uns nur darüber zu empören – immer noch überwiegend intellektuell, im Kopf –, müssen wir beginnen, all diese Realitäten zu erleben, zu erleiden. Erst im tiefgreifenden, wirklich seelen-erschütternden Erleben beginnt man, in der Realität zu leben. Wir alle leben noch immer viel zu sehr in der Abstraktion, in dem schattenhaften Abbild der wahren Realität.

Wenn sich eine alleinerziehende Mutter gezwungen sieht, sich und ihren Sohn durch Prostitution „über die Runden zu bringen“, so ist das etwas Furchtbares. Wenn sie dies nicht mehr durchhält, die Mitarbeiterin des Jobcenters sie in der „Eingliederungsvereinbarung“ aber dazu verpflichtet, ihren „Nebenjob weiterzuführen“, so ist dies zutiefst erschütternd. Und dies ist nur die Spitze eines ganzen Systems, in dem Menschen systematisch diskriminiert und seelisch zerstört werden.

Kapitalismus bedeutet: Immer mehr Arbeitslose auf der einen Seite, immer mehr unmenschliche Jobs auf der anderen Seite (Überlastung, Minijobs, Leiharbeit, Callcenter, Armut trotz Vollzeitarbeit etc.) und immer mehr Profite an der winzigen Spitze der Ausbeutungspyramide.

Das System bricht zusammen, die Massenkaufkraft ist nicht mehr vorhanden, immer mehr Klein-, Mittel- und Großunternehmen kämpfen um das Überleben – aber die führenden Politiker und Ökonomen machen weiter und immer weiter, so wie bisher, mit den alten Rezepten.

Überall wird gearbeitet bis zum Umfallen, jeder arbeitet für den anderen, wir müssten eigentlich einen unglaublichen Wohlstand produzieren – und das tun wir auch. Aber er kommt nicht bei uns an! Noch nie war die Wirtschaftstätigkeit so produktiv und effektiv wie heute – aber der Wohlstand stagniert und sinkt, weil die Reallöhne stagnieren und sinken! Jeder von uns arbeitet für die Zinsen der „obersten zehn Prozent“ der Superreichen (sie sind in allen Preisen enthalten, jeder dritte Euro ist eigentlich Zins), jeder von uns arbeitet für die Profite der größten Profiteure, weil Preise, Löhne und andere volkswirtschaftliche Größen sich nicht nach Gerechtigkeit und Gleichgewicht, sondern nach Macht richten.

Wann erkennen wir, dass es sich hier nicht um abstrakte wirtschaftliche Fragen, sondern um unmittelbare Rechtsfragen, um zutiefst menschliche Fragen handelt? Es sind Fragen, die nur gelöst werden können, wenn man wieder unmittelbar und tiefgehend erlebt, was eigentlich recht wäre und was zutiefst unrecht ist!

Vom Wesen der menschlichen Seele und der Gegenkräfte

Unser Zusammenleben ist hochgradig anonymisiert und entseelt, seelisch brutalisiert. Es ist kein Zusammenleben. Es ist eine Aggregation, in der immer mehr Menschen an Depressionen, Überlastung, Sinnlosigkeit, psychosomatischen und physischen Krankheiten leiden. Wir müssen beginnen, wirklich die Realität zu erleben.

Das seelische Erleben des Menschen ist eine Realität. Und nur wenn man dieses seelische Erleben ernst nimmt, bemerkt man nach und nach, dass man durch dieses zugleich auch erst wirklich in der äußeren Realität leben lernt. Die menschliche Seele ist Schauplatz realer Kräfte. Das Anonymisierende, die Kälte der Macht und einer rein technischen Herangehensweise (Verwaltung der Arbeitslosen, Arbeitnehmer als „Kostenstelle“ usw.), all das sind reale Kräfte. Und diese Kräfte wollen den Menschen, wollen die Seele unterwerfen, auf dass sie ihnen diene. Diese Kräfte wollen, dass die Seele ihnen verfällt, dass der Mensch selbst ein Machtmensch wird – oder dass er resigniert und sich der Macht unterwirft. Die Lust an der Macht und die Angst und Resignation angesichts der Macht sind nur zwei Seiten derselben wirksamen Kraft, die die menschliche Seele pervertieren und sich selbst entfremden will.

In der Mitte zwischen diesen Kräften aber steht das Wesen der menschlichen Seele. Dieses Wesen hat sowohl den Impuls zur Freiheit, als auch den Impuls zum Sozialen, zur Liebe. Wenn die Seele beginnt, sich auf ihr wahres Wesen zu besinnen, dann fängt sie an, diese realen Kräfte, die sie entfremden und pervertieren wollen, wahrhaft zu erleben. Dann aber erst wird sie fähig, sich gegen diese Kräfte zu wehren und ihr wahres Wesen immer mehr zu stärken.

Wir müssen aufhören, uns im Laufrad der anti-seelischen Kräfte abzuhetzen. Wir müssen anfangen, zu erkennen und zu erleben, was diese Kräfte sind, die dieses Laufrad antreiben, immer schneller werden lassen... Und wir müssen erkennen, welche Mechanismen diese Kräfte benutzen. Mechanismen, die scheinbar zu den Grundprinzipien des Kapitalismus gehören.

Die menschliche Seele muss beginnen, ein rein menschliches Wirtschaften denken zu können. Das Grundprinzip eines solchen menschlichen Wirtschaftens ist nicht die Freiheit (des Stärkeren), sondern die Brüderlichkeit. Schon jetzt arbeitet jeder für den anderen, schon rein objektiv, durch die Arbeitsteilung. Was hindert uns, den anonymen Kampf aller gegen alle zu beenden und uns gemeinsam bewusst zu machen, was gerechte, richtige Preise, Austauschverhältnisse, Löhne, Zinsgestaltungen usw. wären? Was hindert uns, dem Abfluss des gesamtgesellschaftlichen Reichtums ein Ende zu setzen? Was hindert uns, als staatliches Gemeinwesen, die Steuern wieder dort zu erheben, wo der Reichtum vorhanden ist?

Das heutige Wirtschaftssystem ist eine menschliche Katastrophe. Fortwährend entfremdet es die Seele von sich selbst. Tag für Tag vergrößert sich der materielle und seelische Druck auf den Einzelnen. Und das sozialdarwinistische Prinzip von der Macht und dem Recht des Stärksten hat sich bis in das „kulturelle“ Leben durchgesetzt. „Lernen für das Leben“ bedeutet heute längst nichts weiter als „Selbstvermarktung“, Maximierung der eigenen „Humanressourcen“ im Kampf gegen den Mitmenschen. Welch eine grauenvolle, anti-menschliche Perspektive!

Die Not kann nur gewendet werden, wenn wir sie bis ins Innerste unserer Seele zu erleben beginnen. Es reicht nicht, unbewusst daran zu leiden und krank daran zu werden. Es geht um ein bewusstes Erleben und Erleiden, um in diesem Bewusstsein zu erstarken und immer klarer zu sehen, dass wir als Menschen vollkommen umkehren müssen – zuallererst im Denken. Wir müssen erlebend einsehen, dass die Grundprinzipien unseres heutigen Wirtschaftens unmenschlich sind (die Menschennatur vollkommen einseitig in ihrer rein egoistischen Seite widerspiegeln) und dass ein anderes, wahrhaft menschliches Wirtschaften absolut und konsistent gedacht und damit auch Wirklichkeit werden kann. Dazu muss nur eine genügend große Anzahl von Menschen diese Gedanken tatsächlich denken und auch wollen und offen vertreten.

Das Schwarze Loch und das „Bündnis der Menschlichkeit“

Heute ist unser politisches System nahezu ein Schwarzes Loch, in dem sich ein völlig unwirkliches Marionettenspiel abspielt, das mit der menschlichen, mit der seelischen Realität nichts mehr zu tun hat. Die ganze politische Bühne besteht aus Phrasen und irrealen, surrealen Erklärungen und Versprechungen – und all dies hat uns schon in die jetzige Katastrophe hineingeführt und wird es nur noch immer mehr tun. Der Wille, die reale seelische und materielle Not der Menschen zu erkennen, ist überhaupt nicht vorhanden – und wahrscheinlich auch gar nicht die Fähigkeit.

Eine Ausnahme bildet die LINKE, in der noch viel Wahrhaftigkeit und viel unmittelbar menschliches Erleben vorhanden ist. Doch leider ist auch die LINKE immer wieder in eher abstrakten und teilweise auch ideologischen Streitigkeiten verstrickt und müsste sich noch mehr auf das unmittelbar Menschliche besinnen. Ein weiteres Hindernis ist, dass sie im Westen noch immer als „Altkommunisten“ verdächtigt wird und man ihr keinen ökonomischen Sachverstand zutraut – obwohl Gregor Gysi und Oskar Lafontaine die einzigen waren, die damals, als die europäische Währungsunion beschlossen wurde, gesagt haben, dass sie unter diesen Bedingungen nicht funktionieren kann – etwas, was nun, nach zwanzig Jahren, auch alle anderen einzusehen beginnen, dabei aber immer noch auf die „faulen Griechen“ schimpfen...

Die Not ist heute so groß, und die führenden Politiker sind von dieser Not derart abgehoben, dass eine Heilung dieser Crisis nur möglich ist, wenn es auf politischem Felde zu einem Bündnis völlig neuer Art kommt. Es braucht eine weitere Partei – aber nicht eine Partei alten Stils, sondern ein Bündnis der Menschlichkeit. Dieses müsste seine ganzen Kräfte und Fähigkeiten darauf konzentrieren, das unmittelbar Menschliche ins Auge zu fassen. Es müsste aus unmittelbarem menschlichen Erleben heraus darauf verweisen, dass die Wirtschaft für den Menschen da sein muss und nicht umgekehrt. Das gilt für alle menschlichen Einrichtungen.

Erst aus diesem Erleben heraus kann man dann auch erkennen, dass die Lohnfrage keine abstrakte Frage ist, die dem (nicht vorhandenen) Gleichgewicht „wirtschaftlicher Kräfte“ überlassen werden darf, sondern eine unmittelbare Rechtsfrage. Rechtsfragen können nur von Gleich zu Gleich beantwortet werden. Warum sind die Menschen darin heute nicht gleich? Weil der Besitzer der Produktionsmittel heute die Macht hat, die Bedingungen vorzugeben – es gibt genügend andere, die „den Job machen könnten“ und sich seinen Bedingungen unterordnen... Dadurch landet der Profit beim Arbeitgeber, das unternehmerische Risiko trägt aber der Arbeitnehmer, denn er kann aus „betrieblichen“ und anderen Gründen auch wieder entlassen werden, wenn er nicht ohnehin nur noch ein Leiharbeiter ist...

Solange wir nicht das reale Unrecht dieser und unzähliger anderer Verhältnisse erleben, kann sich nichts ändern. Es braucht ein politisches Bündnis der Menschlichkeit, das kompromisslos und unbestechlich auf dieses unmittelbar menschliche Erleben und seine Konsequenzen hinweist. Ein solches würde die gesamte politische und wirtschaftswissenschaftliche Diskussion erschüttern – aber genau dies ist dringend notwendig.

Zugleich sind die ganzen Kämpfe um Lohnerhöhungen quasi im Promillebereich im Grunde Nebenschauplätze. Denn die fortwährende Umverteilung über den Zins läuft stillschweigend, schleichend und vollkommen kampflos gleichsam stündlich ab. Auch hier muss erlebt werden, dass es sich eigentlich um eine Rechtsfrage handelt. Welches Recht hat das Geld, sich angeblich „von selbst“ zu vermehren? Welches Recht hat der Geldbesitzer auf diesen Profit? Ein Pfennig, der vor zweitausend Jahren für fünf Prozent Zinseszins angelegt worden wäre, hätte heute einen Wert, der mehreren hundert Milliarden Goldkugeln mit jeweils dem Gewicht der gesamten Erde entspricht! Ein Millionär verdient sein Geld wirklich durch Nichtstun – andere müssen für seine Zinsen arbeiten. Und ein Milliardär verdient sogar das Tausendfache des Durchschnitts-Arbeitnehmers, an Zinsen... Allein dies muss uns den Irrsinn einer abstrakt verewigten Zinseszinsformel doch ganz klar machen. Vermögen dürften nicht wachsen, sie müssten schrumpfen, denn sie sind es doch, die den übrigen Teilnehmern des Wirtschaftskreislaufs und damit diesem selbst fortwährend dessen dringend benötigtes Lebensblut entziehen!

In dieser Weise könnte man unendlich fortfahren und würde auf immer weitere Perversitäten und Abstraktionen unseres heutigen Wirtschaftssystems kommen, die nicht mehr hinterfragt werden – einerseits, weil sie so erstaunlich einfach sind, dass man gar nicht glauben kann, sie so lange übersehen zu haben; andererseits, weil natürlich extrem mächtige Interessen dahinterstehen, die alles daran setzen, dass sie weiterhin übersehen und nicht hinterfragt werden...

Von der durchdringenden Kraft des Neuen

Auch gegen ein Bündnis der Menschlichkeit würde sich sofort die geballte Phalanx der mächtigen Interessen und ihrer Handlanger erheben. Man wird es als „idealistisch“ verlachen, man wird es als „sozialistisch“ bekämpfen, man wird es sogar als „New-Age-Sekte“ zu verteufeln versuchen und so weiter. Alles, was möglich ist, wird man tun, um das Bewusstsein der Menschen von der wirklichen Realität und den notwendigen wirklichkeitsgemäßen, menschlichen Gedanken abzulenken.

Doch wenn ein solches Bündnis der Menschlichkeit einmal begründet wäre, stünde es auch in der Welt. Seine Existenz und seine öffentlich geäußerten Gedanken wären nicht mehr rückgängig zu machen. Es bekäme auf der anderen Seite unendlich viel Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Und sobald sich auch nur eine kleinere Zahl bekannter Persönlichkeiten – Künstler, Medienvertreter, Wirtschaftswissenschaftler und viele andere – einem solchen Bündnis angeschlossen hätten, wäre die öffentliche Wirkung, die von den richtigen, wahren, menschlichen Gedanken ausgeht, nicht mehr aufzuhalten.

Im Sinne einer moralisch-menschlichen Kernschmelze würde der Stahlmantel aus Phrasen und Macht, der das menschliche Denken solange gefangen gehalten und immer mehr zusammengepresst hatte, durchbrochen – und nichts könnte dann die weitere Ausbreitung dieses wahrhaft menschlichen Denkens mehr aufhalten. In einer Art – noch immer auf der vollen Freiheit basierenden – Kettenreaktion würde Seele um Seele jedes einzelnen Menschen erleben, dass es hier nicht mehr um abstrakte politische Diskussionen und theoretische Gedanken geht, sondern um die Wirklichkeit selbst.

Der Kampf um die menschliche Seele hätte begonnen. Sie könnte sich weiter unterdrücken lassen, sie könnte aber auch spüren, dass es nun in aller Öffentlichkeit Fragen gibt, die die menschliche Realität berühren – und die Realität menschlich machen wollen...

Das menschliche Wirtschaftsleben muss noch einmal völlig neu gedacht werden – und es kann es auch, wenn man sich auf das rein menschliche Erleben besinnt und dieses vertieft, jenseits von Kapitalismus und Kommunismus. Der letztere wollte das Soziale, die Liebe, das Brüderliche erzwingen, der Kapitalismus schließt es von vornherein aus, er fordert und fördert den Egoismus. Jenseits dessen beginnt das wahrhaft Menschliche, und wenn dieses beginnt, Gedanken zu bilden, dann hat die letzte Stunde des Kapitalismus geschlagen, dann beginnt etwas vollkommen Neues. Das Zeitalter des Neoliberalismus, des kapitalistischen Extremismus, würde abgelöst vom beginnenden Zeitalter des Menschlichen. Dieses wäre noch auf lange Zeit gefährdet, denn die Interessen und Instinkte der Macht sind über Jahrhunderte gewachsen – ebenso wie ihre Machtmittel –, aber es hätte begonnen. Und wie alles, was wahrhaft Zukunftsimpulse in sich trägt, wäre es nicht mehr rückgängig zu machen.

Der Mensch, das menschliche Erleben der Seele muss den Mittelpunkt des menschlichen Zusammenlebens und des gemeinsamen Ringens um die richtigen äußeren Formen und Einrichtungen dieses Zusammenlebens bilden. Dann werden die richtigen Gedanken gedacht werden, dann werden die richtigen Einrichtungen begründet werden. Dann beginnt der Weg in die Zukunft des Menschen.