2012
Pfingsten – das Zukunftsfest der Brüderlichkeit
Geistsuchende Betrachtungen in einer Zeit, in der „soziale“ und „christliche“ Parteien ihrem Namen tiefste Schande machen und linke Parteien unbrüderlich streiten.
Inhalt
Das Gestrüpp der Vorstellungen
Was heißt „geistiges Wesen“?
Zwischen Illusion und Wirklichkeit
Eine Klarstellung
Individualität und Brüderlichkeit
Ferne Zukunft und heutige Anfänge
Vom Wesen der Brüderlichkeit
Das Pfingst-Mysterium der Liebe
Das Gestrüpp der Vorstellungen
Pfingsten. Wer kann mit diesem Wort überhaupt noch etwas anfangen? Dass wir es aber nicht mehr können, ist ein bedeutsames Symptom für unsere Zeit, denn Pfingsten ist das Fest der Brüderlichkeit.
Was wir heute nicht mehr verstehen können, ist das, was mit dem Begriff des „Heiligen Geistes“ gemeint ist. Und natürlich beginnt das Unverständnis eigentlich schon da, wo vom Christus gesprochen wird. – Wäre man wahrhaftig, müsste man sich eingestehen, dass man von alledem, was hiermit berührt ist, wirklich nichts versteht. Aber diese wahrhaftige Erkenntnis wird dadurch verhindert, dass man ja meint, alles zu verstehen – nämlich dass die ganze Religion null und nichtig sei, dass die Evangelien Märchen seien, die nachträglich etwas aufbauen wollten, was so nie gewesen sei, und so weiter.
Die moderne Bibelkritik macht es einem natürlich leicht, zu einer solchen Vorstellung zu kommen – und die Kirchengeschichte der letzten Jahrhunderte ebenfalls. Nirgendwo gibt es einen Ansatz, das Denken des modernen Menschen mit dem Christentum zu vereinen, Denken und Glaube scheinen sich zu widersprechen. Es gibt aber einen Weg, die Wahrheiten des Christentums mit dem modernen Denken zu erfassen – wenn man es denn will. Dieser Weg ist selbst wieder durch ein Dornengestrüpp von Irrtümern und Verleumdungen verborgen. Doch wenn man ihrer nicht achtet, dann teilt sich dieses Gestrüpp wie von unsichtbarer Hand, und man steht vor der Wirklichkeit.
Ich spreche von der Anthroposophie. Sie eröffnet wirklich den Weg, zu begreifen – nicht nur das Wesen des Christus, sondern auch das Wesen des Menschen, das eigene Wesen. Ich werde an dieser Stelle nicht viel über die Anthroposophie sagen. An anderen Stellen meiner Webseiten ist einiges über die Anthroposophie, über Rudolf Steiner und über die notwendige Verwandlung des Denkens zu finden.
Ohne ein von innen heraus verwandeltes Denken kann weder das Christentum noch das Wesen des Menschen überhaupt verstanden werden. Denn heute versteht der Mensch sich selbst nicht – dies ist der Grund für das soziale Chaos und die nahezu absolute Herrschaft des Materiellen (des Geldes bzw. sogar des Profits) über fast alle Gesellschaftsbereiche.
Der sich selbst nicht verstehende Mensch hat zumeist eine materialistische Weltanschauung. Seit die davon geprägte Naturwissenschaft vor etwa 250 Jahren ihren Siegeszug begann, wurde diese Weltanschauung zu etwas Selbstverständlichem, zur quasi unbezweifelbaren Wahrheit, während das, was bis dahin als unbezweifelbare Wahrheit galt, zu einem Dogma herabsank, dem nur noch zurückgebliebene Geister anhingen. Und so ist es auch heute: Man darf über den Materialismus nicht hinausgehen, wenn man nicht aus dem Reich der Wissenschaft ausgeschlossen werden will.
Von außen betrachtet erweist sich diese Wissenschaft jedoch wiederum als ein Reich der Dogmatik. Sie befasst sich mit dem Materiellen, über das sie Aussagen macht – aber sie beansprucht, dass diese Aussagen allgemeingültig sind. Dass sie das Immaterielle nicht finden und nicht beweisen kann, beweist für sie, dass es dieses nicht gibt – obwohl es sich hierbei um den klassischen naturalistischen Fehlschluss handelt.
Es würde hier zu weit führen, die Dogmatik der heutigen Wissenschaft näher zu beweisen. Die moderne Physik wie auch die Psychologie usw. gehen auch über das materialistische Dogma längst hinaus und stoßen auf Wirklichkeitsbereiche, die zwar beschreibbar, aber nicht mehr kausal – und schon gar nicht materialistisch – erklärbar sind.
Die Anthroposophie als Geistes-Wissenschaft (Wissenschaft des Geistes) geht hier nun wesentlich weiter. Sie forscht mit der klaren, vollkommen bewussten Methodik der Wissenschaft nicht äußerlich, sondern innerlich – und stößt so auf das Zentrum der Welt. Gemeint ist dasjenige, dessen äußere Offenbarungen dann die übrigen Wissenschaften beschäftigen: das Geistige.
Was heißt „geistiges Wesen“?
Bleiben wir beim Menschen. Dass der Mensch „mit Geist begabt“ ist, wird man umgangssprachlich noch bejahen mögen. Aber wer hat heute eine Vorstellung davon, wovon man real spricht, wenn man „Geist“ sagt? Wer hat eine Vorstellung davon, dass der Mensch nicht nur „mit Geist begabt“ ist, sondern ganz real ein geistiges Wesen ist?
Um zu begreifen, wovon die Rede ist, müsste man sein eigenes geist-begabtes Wesen zumindest ansatzweise zu fassen bekommen. Man müsste ansatzweise erleben lernen, was es heißt, aus einem vollkommen freien Impuls heraus Gedanken zu fassen, die Aktivität des Denkens zu entfalten. Man müsste sich selbst als (geistig, innerlich, übersinnlich, immateriell) tätige Wesenheit erleben lernen. Und dieses Erleben müsste so deutlich und stark werden, dass es aus sich heraus den Beweis liefert, dass das Wesen des Menschen etwas vollkommen anderes ist als „gehirnerzeugte Zustände“.
Die moderne Hirnforschung kann keine einzige der entscheidenden menschlichen Fragen erklären – weder das Denken noch das Fühlen, weder die Liebe noch Willensimpulse, weder moralisches Empfinden noch das Bewusstsein der eigenen Individualität. Sie liefert in Bezug auf all diese Fragen immer wieder Scheinantworten. Wenn wir jedoch selbst innerlich seelisch und geistig aktiv werden, werden wir immer mehr zu der Erkenntnis kommen, dass die wirklichen Antworten ganz andere sind...
Ich halte mich auch bei den Fragen der Hirnforschung nicht weiter auf, sondern komme nun unmittelbar zu der Frage nach dem Wesen des Menschen und zum Chaos der heutigen sozialen Zustände.
Was ist denn die Ursache der heutigen sozialen Zustände, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie unsozial sind? Die Ursache ist der Egoismus. Dies ist ja auch selbstverständlich: Egoismus führt zu unsozialen Zuständen. Unsoziale Zustände sind nur möglich, wenn Egoismus waltet. Und dieser Egoismus wurde in unserer Gesellschaft ja sogar zur Grundlage erklärt – trotz aller Erwähnung des „Sozialen“. Die Wirtschaftssphäre, die alle anderen Lebensbereiche dominiert, hat die Form der Marktwirtschaft – und diese basiert schon von der Definition her auf dem Egoismus. Sie basiert auf ihm – und sie entfesselt ihn. Ist er aber einmal entfesselt, greift er auf alle Lebensbereiche über.
Der homo oeconomicus neoliberalis ist aber die schrecklichste Karikatur – um nicht zu sagen Mutation – des Menschen, der eigentlich dazu bestimmt war, ein homo sapiens zu sein: Der weise Mensch. Das heutige ökonomische Denken ist ein pur egoistisches Denken in Profitkategorien und ohne jede Beteiligung des Fühlens. Der Mensch schließt sich vom Menschen ab, man handelt gegeneinander, der Vorteil des einen ist der Nachteil des anderen. Das ist Ökonomie heute – eine Bankrotterklärung gegenüber allem Menschlichen.
Was ist Weisheit? Weisheit ist ein Verbundensein mit einem größeren Zusammenhang – ein Erkennen und Handeln aus einem größeren Zusammenhang, der über die engen Grenzen der Selbstbezogenheit hinausgeht. Darum kann Weisheit mit Liebe einhergehen – denn überall, wo der Blick, das Denken, das Fühlen und das Wollen über das enge „Ich“ hinausgehen, eröffnen sich die Wege der Liebe.
Zwischen Illusion und Wirklichkeit
Auch hier gibt es viele Irrtümer. Man kann sich für einen „guten“ Menschen halten. Man kann technokratisch im Sinne der Menschen zu handeln glauben. Es ist sehr leicht, sich selbst und all seine angeblich so guten Taten zu lieben – und für die anderen Menschen keinen einzigen Funken wirklicher Liebe zu empfinden. Die Illusion auf diesem Gebiet ist vielleicht stärker als auf jedem anderen. Die wirkliche Liebe ist nicht von selbst da, nur ihre Illusion ist viel schneller da, als man es je für möglich halten würde. Die wirkliche Liebe aber fordert eine radikale innere Umwendung, die ganz dem Wort des Johannes entspricht: Ändert euren Sinn.
Diese Sinnesänderung ist letztlich ein umwälzendes inneres Erlebnis, ist gleichzeitig eine Änderung des Wahrnehmens, des Denkens, Fühlens und vor allem des Wollens. Aus eigener Anschauung heraus macht man dann die innere Erfahrung des weltenweiten Unterschiedes zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit – und diese Erfahrung ist mit einer zweiten verbunden, nämlich dass in der sogenannten Selbst-losigkeit wirklicher Liebe das Selbst nicht verloren geht, sondern eine wunderbare Verwandlung durchmacht: Das selbstbezogene Ich verwandelt sich in ein „höheres“ Ich, das auch das Du, das Andere, umfassen kann. Es verliert sich nicht, sondern es gewinnt den anderen hinzu, es macht sich selbst weltenweit – und wird dabei nicht stolz, sondern demütig, nicht hochmütig, sondern friedvoll...
Was ist das Wesen des Menschen? Das Wesen des Menschen ist sein geistiges Wesen – ein Sein und Werden, das ganz unabhängig von dem Leiblichen und Materiellen ist, auch wenn dieses das Sein und Werden des Geistes unendlich behindern kann...
Das Wesen des Menschen ist das Geistige – und in diesem Wesen liegt die Möglichkeit, von dem eng begrenzten, heute normalen Ich-Bewusstsein, von dem heute normalen Egoismus loszukommen und zu einem Denken, Fühlen und Wollen zu finden, das immer mehr den Mitmenschen und die ganze Mit-Welt einschließt.
Man muss diesen Schritt nicht machen (und es sind selbstverständlich letztlich viele Schritte). Man kann ganz und gar in seinem kleinen Ich verbleiben, das ein paar Bekannte und Freunde und sonstige „Kontakte“ hat, sich aber um das Schicksal der restlichen Welt nicht wirklich kümmert. Sicher hat man dann noch diesen oder jenen Rest eines Gewissens, aber manchmal wünschte man sich, man hätte auch diesen nicht mehr... Erfolgreich ist man in dieser Welt mit Sicherheit wesentlich mehr, wenn man hauptsächlich auf sich selbst und sein eigenes Fortkommen blickt. Warum also sollte man einen anderen Weg betreten, der keinerlei äußeren Erfolge verspricht?
Nun, diese Entscheidung muss jeder Mensch mit sich selbst abmachen. Genau das ist das Geheimnis des Menschen: Dass der entscheidende Schritt zur Verwirklichung seines Wesens (auch seines ganz individuellen Wesens) nur ein vollkommen freier sein kann. Dennoch ist das Wesen des Menschen zu dieser Freiheit berufen. Und das bedeutet: dazu berufen, sich zu entfalten; mehr zu entfalten als das kleine, zu 99% selbstbezogene Bewusstsein.
Eine Klarstellung
Die Welt ist unendlich viel größer als es sich dieses kleine Bewusstsein, das alles aus seiner selbstbezogenen Perspektive betrachtet, sich je träumen lassen würde. Wann immer wir schon einmal die Erfahrung der Liebe gemacht haben, wissen wir aus eigener Erfahrung, was für einen erschütternden Umschwung des gesamten Bewusstseins dies bedeutet.
Und dann wissen wir immer noch nicht, was für einen Umschwung es bedeuten würde, diese Liebe in derselben Stärke auch auf anderes, auf die ganze Welt auszudehnen. Und auch nicht, was für einen Umschwung es bedeuten würde, uns von der materialistischen Weltanschauung loszureißen und zu einem tief verwandelten Denken zu kommen, das das Geistige in der Welt, den unendlich differenzierten „Urgrund der Dinge“, mit umfassen würde. Das Wesen des Menschen ist wahrhaftig unendlich viel größer, als es das gewöhnliche Bewusstsein sich je träumen lassen würde.
Diejenigen Menschen, die sich heute mit dem Schicksal der einen Menschheit verbunden fühlen, deren starke Sehnsucht es ist, zu gerechteren, sozialeren, brüderlicheren Lebensverhältnissen zu kommen, sind Vorboten eines Bewusstseins, in dem der Mensch immer mehr seiner selbst, seines wahren Wesens bewusst wird.
Dabei geht es nicht um die unendlich simplen, blassen Vorstellungen des Esoterik-Marktes, der in zahllosen Varianten das „Wassermann-Zeitalter“, das „kosmische Bewusstsein“ etc. verkündet. Es geht um etwas ganz und gar Reales, etwas jedem Menschen zutiefst Nahes – um eine innere Erfahrung und einen inneren Weg, den jeder Mensch machen bzw. betreten kann. Es geht nicht um die eine, große, wunderbare, plötzliche Erleuchtung oder Erlösung, sondern um einen langen, Anstrengung erfordernden Weg vieler kleiner Schritte, die doch alle Entschlossenheit und starken Willen erfordern.
Die wirkliche moderne Spiritualität unserer Zeit ist kein Sonderangebot oder Werbeartikel, sie ist und bleibt ein Mysterium, das sich jedem verbirgt, der nur „einmal kurz vorbeischauen“ will. Vieles, was heute versprochen wird, ist schnell zu erreichen – man kann schnell zu „persönlichem Glück“, zu „lächelnder Erleuchtung“ und sonstiger „spiritueller Entwicklung“ kommen. Aber man darf nicht glauben, dem Wesen des Menschen dadurch schon nennenswert näher gekommen zu sein. Der Weg dorthin ist viel tiefer, viel anstrengender und auch viel entbehrungsreicher, als es von der „esosterischen Werbung“ verheißen wird.
Und deswegen sind die Menschen, die sich heute für eine menschlichere Welt engagieren, mit all ihrer tiefen Sehnsucht nur Vorboten. Denn mit dieser Sehnsucht und diesem Bewusstsein fängt der Weg erst an. Der Mensch müsste sich in tiefem Ernst darüber klar werden, was dieses Bewusstsein eigentlich bedeutet. Er würde auf einen unendlich hohen, edlen Weg stoßen – den er gerade erst betreten hat. Auf diesem Weg kann man nur voranschreiten, wenn man von da an aktiv und bewusst seine Seelenkräfte und die moralische Substanz dieser Kräfte stärkt – also all sein Denken, sein Fühlen und sein Wollen mit immer stärkerer Aktivität und immer stärkerer Moralität (verstanden als reale Essenz) durchdringt.
Individualität und Brüderlichkeit
Was ist dann „heiliger Geist“? Man kann tatsächlich auch von dem „Geist der Wahrheit“ sprechen. Worauf hier gedeutet wird, ist derjenige Geist, dasjenige Bewusstsein, das das Wesentliche und Wesenhafte umfasst, einschließt, durchdringt und beleuchtet.
Dieses Bewusstsein, dieser Geist, ist aber selbst eine Wesenheit. Im Gleichnis gesprochen könnte man sagen: Wie kann ein Same zum Baum werden, wenn der Baum (als geistige Wirklichkeit, als reales „Vorbild“) nicht vorher schon existent ist? Wie also könnte der Mensch je zu seinem wahren, höheren Wesen erwachen, wenn es nicht den „heiligen Geist“ gäbe – und auch nicht die göttliche Idee des Menschen?
Das Geheimnis des Christentums ist jedoch noch viel tiefer. Selbstverständlich soll der Mensch nicht zu einem „Nachbild“ dieses Geistes werden, wenn dies bedeuten würde, eine bloße Kopie zu sein. Das Geheimnis des Christentums ist vielmehr die Individualität. Und das Wesen des Christus und der „heilige Geist“ sind geradezu die Führer zu dieser wahren Individualität eines jeden einzelnen Menschen. Aber nur der, der sich wirklich auf den Weg macht, wird dieses Geheimnis wirklich verstehen und sich nicht auch hier wiederum allen möglichen Verirrungen hingeben. Denn überall wird heute natürlich „Individualität“ gesucht und versprochen – die Irrwege jedoch führen wiederum nur zu subtileren Formen des Egoismus oder sonstigen Scheinformen von „Individualität“.
Das Geheimnis des Menschen besteht auch darin, dass in seinem Wesen beides vereint ist: Individualität und Liebe. Nur der wahrhaft individuelle Mensch kann wahrhaft lieben. Und je tiefer er das eine ausbilden kann, desto tiefer wird auch das andere aufleben.
Darum ist Pfingsten das Fest der Brüderlichkeit. Diejenigen, die den Geistesweg betreten, auf dem sie das wahre, geistige Wesen des Menschen mehr und mehr entwickeln, werden ganz real und konkret auf Erden immer mehr und immer stärker die Brüderlichkeit suchen – im Großen wie im Kleinen, in der einzelnen Begegnung von Mensch zu Mensch ebenso wie in der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
„Der Geist weht, wo er will.“ Aber dieser heilige Geist wartet darauf, dass die Menschen ihn aufnehmen – und dazu müssen sie selbst innerlich unendlich aktiv werden. Nur dann kann der heilige Geist mit dem Bewusstsein des Menschen eins werden – der Geist des Menschen muss sich sozusagen „bis zum Himmel erheben“. Alles andere ist nicht der Geist, den der Christus sendet – denn „es werden viele in meinem Namen kommen“, und es gibt viele verführerische Wege, auf denen man glauben kann, sein wahres Menschentum zu verwirklichen, obwohl man auf ihnen dessen wahrer, unendlichen Größe nie begegnen wird.
Ferne Zukunft und heutige Anfänge
Die Brüderlichkeit (oder Geschwisterlichkeit) ist etwas, was heute in ferner Zukunft liegt. Doch ihre Anfänge können wir heute verwirklichen. Was wir heute haben, ist zunächst nur die Sehnsucht nach Brüderlichkeit – inmitten einer Welt, die gerade das Gegenteil verwirklicht, den ungehemmten, schmerzlichen, seelenlosen Egoismus. Wenn wir wirklich zur Brüderlichkeit kommen wollen, mehr und mehr, in kleinen Schritten, müssen wir den Geist der Pfingsten ernst nehmen.
Ohne das reale Geistige zu suchen, werden wir als Menschheit über unsere Sehnsucht nicht hinauskommen – und wenn wir nicht konkrete Schritte gehen, dieses Geistige in uns selbst zu verwirklichen und hervorzubringen, um dann schließlich auch vom „heiligen Geist“ begnadet zu werden, dann wird sich auch diese Sehnsucht wieder verlieren.
Ideale sind reale Impulse, aber sie verlieren sich, wenn sie nicht durch eigene innere Aktivität wahrgemacht werden. Die Jugend hat solche Ideale aus ihrer realen Geist-Natur heraus, in jungen Menschen wirkt der Geist noch als ein Geschenk, mitgebracht aus dem geistigen Dasein vor der Geburt, aufwachend in den Jahren nach dem umwälzenden Geschehen der Pubertät und einhergehend mit der Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens. Auch hier sind wieder umfassende Geheimnisse berührt, zu denen die heutige Wissenschaft nichts Wesenhaftes zu sagen hat. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass Ideale ein ungeheures Geschenk sind, das aber aufgenommen und von da an aktiv gestärkt werden muss, wenn es sich nicht wieder ganz verlieren soll.
Man kann nun aber sein Leben lang mit innerem Feuer das Ideal der Brüderlichkeit verfolgen, ohne eine Ahnung von dem geistigen Wesen des Menschen zu haben. Die glühendsten Vertreter dieses Ideals waren und sind oft Menschen, die einer atheistischen, ja materialistischen Weltanschauung anhängen. Mit gewissem Recht erklären sie Religion als „Opium für das Volk“.
Dennoch verkennen Menschen, die für eine brüderliche Welt kämpfen und dabei den Geist verleugnen, ihr eigenes Wesen. Würden sie tief erleben, was für ein Feuer in ihnen brennt und welcher Art die Gedanken sind, die sie denken, könnten sie den Geist und überhaupt das Göttliche nicht mehr leugnen. Wenn sie auf diesem Wege innerlich weitergehen würden, könnten sie mehr und mehr das Geistige und damit letztlich auch das Göttliche aus eigener Erfahrung unmittelbar als eine Realität bezeugen (was mit allem konfessionell Religiösen selbstverständlich nichts zu tun hat).
„Der Geist weht, wo er will“ – und die tiefe Sehnsucht nach einer brüderlichen Welt, ist schon eine Offenbarung des wahren Wesens des Menschen und auch des „heiligen Geistes“. Die Freiheit des Menschen besteht darin, dass er gewissermaßen den Geist sogar dazu benutzen kann, den Geist zu leugnen! Dennoch ist das, was den Menschen wahrhaft menschlich macht – ihn seinem Wesen näherkommen lässt – immer auch eine Offenbarung des heiligen Geistes und des Christus-Wesens.
Ohne das Wirken dieser Wirklichkeit wäre der Mensch wirklich nur Kreatur – ein egoistisches, mit Verstand begabtes Wesen, das nicht den kleinsten Funken von Liebe und Weisheit kennen würde... Doch seine Freiheit besteht darin, dieses wunderbare Wirken zu erkennen und in Freiheit den Weg zu betreten, sich dieser Wirklichkeit der göttlich-geistigen Welt und seines eigenen Wesens immer mehr zu nähern...
Vom Wesen der Brüderlichkeit
Das wahre Ich des Menschen ist gewissermaßen ein Geschenk der göttlichen Welt. Der Mensch verdankt es dieser göttlichen Welt, und zugleich ist es ihm doch ganz und gar als Eigenes anvertraut. Und das größte Wunder ist, dass dieses ganz und gar Eigene ... lieben kann! Diese individuelle Essenz kann von der dominierenden Selbstbezogenheit, die das gewöhnliche Bewusstsein beherrscht, zu einem ganz anderen Sein kommen, in dem es mit dem Geistigen der Welt und des anderen Menschen inniger und immer inniger verbunden ist – und auf diesem Wege lernt es das wahre Wesen der Liebe kennen.
Was wir heute als Liebe, als Solidarität, als Sehnsucht nach Brüderlichkeit kennen, ist nur ein erster Anfang...
Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen,
dass die Menschen sich mit allen ihren Kräften,
mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe
vereinigen und voneinander Kenntnis nehmen,
so wird sich ereignen,
woran jetzt kein Mensch denken kann.
J.W. Goethe
Echte Brüderlichkeit bedeutet, dass ein Mensch nicht mehr glücklich sein können wird, wenn ein anderer Mensch Not leidet. Das bedeutet nicht nur eine „allgemeine Menschenliebe“, die sich schon im Falle des unsympathischen Nachbarn verliert... Sie schließt nicht nur die armen Kinder in Niger ein, sondern auch den obdachlos gewordenen Griechen, den Bettler in der U-Bahn, den Nachbarn, den ganz unbekannten Menschen in Mexiko, in Ghana, in China – und dies sehr konkret.
Diese Brüderlichkeit, wenn sie absolut real wird, wird durchtränkt sein vom Wesen des Christus – sie wird ohne dieses Wesen gar nicht möglich sein. Das ist das Geheimnis des Christentums – entgegen dem äußeren Verlauf der äußeren Kirchengeschichte, die allzu oft nur eine Offenbarung der Schwächen des Menschen war –, dass die Durchdringung des Menschen mit dem Wesen des Christus ihn erst wahrhaft zum Menschen werden lässt.
Der Mensch wird dann nicht nur ein Streiter für Gerechtigkeit (was schon viel ist), nicht nur ein Kämpfer für das Soziale – er wird mehr und mehr ein Verkünder, ein Zeuge der Liebe selbst, in seinem ganzen Sein. Er wird wahrhaft ein Christus-Träger, ein Christophorus. Nur solche Menschen aber werden der Brüderlichkeit wirklich den Weg bereiten können. Die reale Brüderlichkeit wird in die Welt und in die Herzen der Menschen nicht einziehen können, solange sie nur politisch gefordert und durch diese oder jene Maßnahmen zu erreichen versucht wird. Notwendig ist, dass es eine genügende Anzahl von Menschen gibt, die sie wirklich vorleben – in all ihrem Sein und in jeder einzelnen Handlung. Dann wird die Substanz der Brüderlichkeit sich auf Erden ausbreiten, und dann wird sie eine Kraft sein, die Berge versetzen wird...
Das Pfingst-Mysterium der Liebe
Man darf nicht erwarten, dass Menschen, die mit dem Geheimnis des Christentums bisher überhaupt nicht in Berührung gekommen sind (weil sie nur den konfessionellen dogmatischen Vorstellungen begegnet waren und diese ablehnen mussten), durch einen einzelnen Aufsatz eine echte Ahnung von demjenigen entwickeln, von dem ich hier zu sprechen versucht habe. Doch sofern ein solcher Mensch versucht, meine Gedanken wirklich nachzuvollziehen, wird ein gewisses Verständnis und eine gewisse Ahnung dennoch nicht ausbleiben können. Dem dann nachzugehen, liegt wiederum in der Freiheit des Einzelnen. Aber auch das Bemühen, zunächst ganz fremde Gedanken nachzuvollziehen, ist eine Erscheinung und Offenbarung der Liebe...
Und auch wenn der dem Christentum ferne und fremde Leser damit zunächst wirklich nichts anfangen können wird – ja, jedes einzelne Wort nur mit den Augen fester, falscher und dadurch sogar Antipathie auslösender Vorstellungen lesen können wird –, möchte ich hier mit Worten von Novalis schließen – jenem großen, wahrhaft liebenden, christlichen Geistessucher, der einer der tiefsten Vertreter des „deutschen Idealismus“ war und ist. In seinen Worten liegt das tiefe Bewusstsein vom Geheimnis des Christus und der Brüderlichkeit – reinster Pfingst-Geist...
Wenn alle untreu werden,
So bleib ich dir doch treu;
Daß Dankbarkeit auf Erden
Nicht ausgestorben sei.
Für mich umfing dich Leiden,
Vergingst für mich in Schmerz;
Drum geb ich dir mit Freuden
Auf ewig dieses Herz.
Oft muß ich bitter weinen,
Daß du gestorben bist,
Und mancher von den Deinen
Dich lebenslang vergißt.
Von Liebe nur durchdrungen
Hast du so viel getan,
Und doch bist du verklungen,
Und keiner denkt daran.
Du stehst voll treuer Liebe
Noch immer jedem bei;
Und wenn dir keiner bliebe,
So bleibst du dennoch treu;
Die treuste Liebe sieget,
Am Ende fühlt man sie,
Weint bitterlich und schmieget
Sich kindlich an dein Knie.
Ich habe dich empfunden,
O! lasse nicht von mir;
Laß innig mich verbunden
Auf ewig sein mit dir.
Einst schauen meine Brüder
Auch wieder himmelwärts,
Und sinken liebend nieder,
Und fallen dir ans Herz.