30.06.2012

„Das ist ein kalter Putsch gegen das Grundgesetz“

Rede von Sahra Wagenknecht in der Bundestagsdebatte am 29.06.2012 über den Europäischen Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt. | Quelle: www.sahra-wagenknecht.de | Zum Video der Rede. | Hervorhebungen H.N.


Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

„Milliarden von Steuergeldern sind verpufft. Derjenige, der Verantwortung trug, erwies sich als Marionette. Als Puppenspieler agierte ausgerechnet die Sorte Manager, die zuletzt Besserung gelobte: ein Investmentbanker.“

Was das Handelsblatt über die Verstaatlichung des Energieversorgers EnBW geschrieben hat, gilt leider auch für die Europapolitik dieser Bundesregierung: Sie handeln wie Marionetten. Die Puppenspieler sind die Banker, und heraus kommen Verträge, mit denen die Bürgerinnen und Bürger über den Tisch gezogen werden, um die Vermögen der Reichsten zu retten und das Spielkasino Finanzmarkt am Laufen zu halten. Es ist schon bezeichnend, dass auf die gestrigen Gipfelbeschlüsse mit einem Kursfeuerwerk der Aktienmärkte reagiert wird.

Europa – ich darf das in Erinnerung rufen – sollte einmal ein Projekt des Friedens, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit sein, eine Lehre aus Jahrhunderten brutaler Kriege und eine bewusste Alternative zu jenem rüden Kapitalismus, der die Weltwirtschaftskrise und blutige faschistische Diktaturen heraufbeschworen hatte.

„Europa muss, seinem Erbe getreu, einen neuen Humanismus verkörpern, als Hort der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit.“

Das hat Richard von Weizsäcker einmal gesagt.

Das heutige Europa, das Sie jetzt mit dem zweiten riesigen Bankenrettungsschirm und dem Fiskalpakt besiegeln wollen, ist das genaue Gegenteil davon. Dieses Europa ist ein Projekt der Zerstörung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, ein Projekt zur Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten und ein Projekt zur Senkung von Löhnen und Renten. Es ist ein Projekt von Deutscher Bank, Goldman Sachs und Morgan Stanley zur Ausplünderung der europäischen Steuerzahler.

Dass es dahin kommen konnte, dafür sind Sie alle gemeinsam verantwortlich: Sie, Frau Merkel, und Ihre schwarz-gelbe Koalition, für die es offenbar gar keine anderen Werte mehr gibt als die, die auf den Finanzmärkten gehandelt und von den Ratingagenturen benotet werden, aber auch Sie, werte Damen und Herren von der vermeintlichen Opposition aus SPD und Grünen, die sich zwar vor den Kameras gern als Regierungskritiker aufplustern, aber bisher nahezu jeder europapolitischen Schandtat dieser Regierung zugestimmt haben, so wie Sie es heute auch wieder vorhaben.

„Bitte sagen Sie mir, dass nicht alles, was ich gelernt habe, umsonst war“, schrieb mir vor kurzem eine junge Frau, die aus Begeisterung für Europa und die europäische Idee ein Freiwilligenjahr in Griechenland verbracht hat und jetzt nach Deutschland zurückkommt. Sie ist entsetzt über das Griechenland-Bashing, aber vor allem hat sie Angst um ein Land, in dem über die Hälfte ihrer Altersgenossen keinen Job und keine Perspektive hat, in dem Schwangere vor dem Kreißsaal abgewiesen werden, wenn sie kein Bargeld dabei haben, in dem Rentner auf ihrem Balkon Zucchini züchten, weil die Rente nicht einmal mehr zum Sattwerden reicht. Mitten in Europa! Ja, Griechenland hatte große hausgemachte Probleme. Aber die soziale Katastrophe, die Griechenland heute durchleidet, ist nicht hausgemacht. Sie ist das Resultat Ihrer Politik.

Hören Sie endlich auf, die Realität durch Lügenworte zu umnebeln! Sie erzählen uns, wir hätten eine Staatsschuldenkrise. Tatsächlich ist es die Bankenkrise, die die Schulden der Staaten immer weiter nach oben treibt, weil Sie einerseits milliardenschwere Rettungsschirme aufspannen und riesige Brandmauern errichten und weil Sie andererseits nichts dafür tun, den eigentlichen Brandherd zu löschen. Dieser ist ein nach wie vor viel zu großer, weitgehend deregulierter Finanzsektor, der unverändert mit unverantwortlichen Zockergeschäften immer wieder riesige Verluste produziert.

Sie erzählen uns, die Krise in den Südländern gehe auf mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zurück. Die spanische Industrie produziert heute zwar 30 Prozent weniger als 2008. Aber zwischen 2008 und heute sind die spanischen Lohnstückkosten um 9 Prozent gesunken. Daran kann es also nicht liegen. Es liegt daran, dass die Banken in Spanien marode sind und die Realwirtschaft nicht mehr mit Krediten versorgen. Es liegt des Weiteren daran, dass seit Jahren ein brutales Kürzungsprogramm in Spanien läuft, das der Wirtschaft die Luft zum Atmen nimmt. Genau das Gleiche haben wir schon in Griechenland erlebt.

Dieses Katastrophenkonzept soll jetzt mit dem Fiskalpakt auf ganz Europa übertragen werden? Wollen Sie irgendwann auch in Deutschland griechische Verhältnisse? Das ist doch Wahnsinn, Frau Merkel!

Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Wenn der Fiskalpakt eingehalten wird, müssen die europäischen Staaten in den nächsten Jahren über 2.000 Milliarden Euro aus ihren Haushalten heraushacken: bei Gesundheit, bei Sozialem, bei Bildung und bei Renten. Was soll dann denn noch von Europa übrig sein? Herr Gabriel, jetzt zu behaupten, dass das durch die zusätzlichen 10 Milliarden Euro für die Europäische Investitionsbank und die Umwidmung einiger Gelder in der EU aufgefangen wird: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!

Wer Wachstum und Wohlstand in Europa will, der muss den unsäglichen Fiskalpakt mit seinen billionenschweren Kürzungsdiktaten stoppen. Wer das nicht macht, der heuchelt. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.

Vieles spricht dafür, dass die geplante Finanztransaktionsteuer eine Mogelpackung wird. Immerhin rechnet Herr Schäuble gerade einmal mit Einnahmen von 2 Milliarden Euro. Schauen Sie sich doch einmal an, was auf den Derivatemärkten umgesetzt wird. Eine ordentliche Steuer müsste wesentlich mehr einbringen.

Frau Merkel, ich sage Ihnen auch: Wenn Sie weiter die europäischen Staaten mit brutalen Kürzungsprogrammen in die Krise zwingen, statt sie endlich durch Direktkredite der Europäischen Zentralbank von der Zinstreiberei der Finanzmärkte unabhängig zu machen, dann werden Sie nicht als eiserne Kanzlerin in die Geschichte eingehen, sondern als Totengräberin des Euro.

Sie erzählen uns, dass der Fiskalpakt dazu da wäre, die Schulden zu senken. Auch das ist unwahr. Wenn Sie die öffentliche Schuldenexplosion eindämmen wollen, dann müssen Sie endlich aufhören, weitere Milliarden auf Pump in den Finanzsektor zu schleusen. Aber das haben Sie gar nicht vor; denn parallel zu diesem europäischen Kürzungspakt soll der Bundestag heute das nächste Milliardengrab absegnen, nämlich den ESM.

Sie haben vor kurzem einen Nachtragshaushalt beschlossen, in den schon einmal 8 Milliarden Euro eingestellt wurden, um die erste Überweisung an diesen großen, neuen Bankenrettungsschirm zu leisten. Ich möchte Ihnen gar nicht vorrechnen, wie Sie die Lebenssituation und die Bildungschancen von Kindern aus Hartz-IV-Familien mit diesen 8 Milliarden verbessern könnten. Schauen Sie sich die Situation in deutschen Kommunen, Städten und Gemeinden an. Da werden Bibliotheken, Schwimmbäder und Grundschulen geschlossen wegen Beträgen, die im Vergleich zu diesen 8 Milliarden lächerlich gering sind. Die Gemeinden haben seit Jahren kein Geld. Für die Kinder haben Sie kein Geld. Aber endlose Milliardenbeträge haben Sie offensichtlich, um die Banken zu retten. Hören Sie wenigstens auf, vom Sparen zu reden! Sie sparen überhaupt nicht. Sie verschleudern Milliarden.

Sie nehmen den einen und geben den anderen. Das nenne ich nicht Sparen, sondern Umverteilung.

Wer von dieser Umverteilung tatsächlich profitiert, kann man in Griechenland deutlich sehen. Zu Beginn seiner vermeintlichen Rettung hatte Griechenland 300 Milliarden Euro Schulden, die von Banken, Hedgefonds und vermögenden Privatanlegern gehalten wurden. Heute hat Griechenland 360 Milliarden Euro Schulden, aber für 300 Milliarden davon haften jetzt die europäischen Steuerzahler. An diesem Beispiel sieht man übrigens auch, was mit den vermeintlichen Hilfsgeldern passiert. Sie gehen nicht an griechische Rentner, sondern an die europäische Finanzmafia.

Spanien soll jetzt bis zu 100 Milliarden Euro für seine Banken bekommen. Auch das Geld wird nicht in Spanien bleiben. Allein die Deutsche Bank hat in Spanien 14 Milliarden Euro im Feuer. Sie ist natürlich hocherfreut, dass der deutsche Steuerzahler weiter brav überweist.

Herr Brüderle, Sie haben hier gerade populär herumgetönt, dass die Oma mit ihrem Sparbuch nicht für die Investmentbanker haften soll. Wenn Sie das ernst nehmen, müssen Sie und Ihre Fraktion heute aber geschlossen gegen den ESM stimmen; denn der bedeutet genau das, was Sie gesagt haben, dass nämlich Rentner, Beschäftigte und Arbeitslose für die Zockereien der Investmentbanker zahlen müssen.

(Rainer Brüderle (FDP): Viele Grüße von Erich!)

Wer den Steuerzahler solchen Risiken aussetzt – wir reden hier über zwei gigantische Rettungsschirme mit einem Haftungsvolumen für Deutschland von 300 Milliarden, eventuell von 400 Milliarden Euro –, wer solche Risiken provoziert, sollte rot anlaufen, wenn er von Haushaltskonsolidierung redet. Nehmen Sie das doch von Ihnen selber beschworene Prinzip der Haftung nur einmal ernst: Wer den Nutzen hatte, soll auch den Schaden tragen. Wer hatte den Nutzen? Es ist doch kein Zufall, dass parallel zu den Staatsschulden auch die privaten Vermögen der oberen Zehntausend in Europa immer neue Rekorde erreichen. Holen Sie sich das Geld doch dort zurück. Da liegen die Milliarden, die uns fehlen. Sie können sie von dort holen – ohne Fiskalpakt und ohne Zerstörung der Demokratie.

Sie aber tun das Gegenteil. Sie vergemeinschaften die Schulden, gerade damit die Finanzvermögen der Reichen nicht entwertet werden. Um das nötige Geld einzutreiben, soll jetzt die Budgethoheit der Staaten zugunsten einer Brüsseler Eurokratie aufgehoben werden, weil die natürlich rücksichtsloser kürzen kann. Das ist doch die Wahrheit darüber, was dahintersteht. Das ist der Kern Ihrer Politik. Sie retten nicht den Euro, sondern Sie retten die Euros der Millionäre.

Dann seien Sie wenigstens so ehrlich und sagen das den Bürgern. Sagen Sie ihnen, dass sich der soziale Bundestaat, den das Grundgesetz festschreibt, mit den vorliegenden Verträgen erledigt hat. Sagen Sie ihnen, dass sie in Zukunft auch in Deutschland ein Parlament wählen dürfen, das nicht mehr viel zu sagen haben wird; denn auch Deutschland gehört zu den Ländern, deren Staatsverschuldung weit über dem liegt, was der Fiskalpakt verlangt. Sagen Sie den Menschen, dass das ein kalter Putsch gegen das Grundgesetz ist.

Werte Abgeordnete von CDU und CSU, Ihre Parteien haben in der Nachkriegszeit den Slogan „Wohlstand für alle“ auf ihre Fahnen geschrieben. Jetzt zerstören Sie den Wohlstand von Millionen.

(Rainer Brüderle (FDP): Es lebe der Sozialismus!)

Sie nehmen den Armen das Brot, (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) weil Sie zu feige sind, den Reichen das Geld zu nehmen. Halten Sie das für christlich?

Werte Abgeordnete der Liberalen, dass ein Staat private Verluste sozialisiert, wenn die Betroffenen nur reich und einflussreich genug sind, ist alles, nur kein Liberalismus. Wollen Sie das wirklich vertreten?

Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie tragen die Wörter „sozial“ und „demokratisch“ in Ihrem Parteinamen. An diesem Anspruch haben Sie sich in den letzten Jahren schon oft genug versündigt: mit der Agenda 2010, mit der Deregulierung der Finanzmärkte, mit Hartz IV und mit der Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Wenn man aber Knebelverträgen zustimmt, mit denen Sozialstaat und Demokratie in Europa endgültig zu Grabe getragen werden, heißt das, die Agenda-Politik in Deutschland mit einer Ewigkeitsgarantie zu versehen.

Dazu muss ich Sie fragen: Ist es das Linsengericht, nach der nächsten Wahl wieder als Juniorpartner einer großen Koalition mittun zu dürfen, wirklich wert, Ihren Wählern noch einmal derart ins Gesicht zu schlagen?

Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie wurden als Abgeordnete auf Basis unseres Grundgesetzes gewählt. Wenn Sie noch ein Gewissen haben – als Demokraten und als Europäer –, dann, bitte ich Sie, folgen Sie diesem Gewissen und stimmen Sie heute mit Nein.

Vielen Dank.

Nachtrag

Diese Rede bringt in aller Offenheit die Tatsachen mit großer Prägnanz auf den Punkt. Wer sich in die realen Fakten der ungeheuerlichen Vorgänge der letzten Jahre vertiefen will, der lese meinen Doppelband "Zeit der Entscheidung" zur Finanz- und Gesellschaftskrise (800 Seiten für nur 22,90 Euro). Wie sehr sich die Politiker von den Realitäten entfernt haben, sieht man schon an den sarkastischen Zwischenrufen, die gegenüber den wahrhaftigen Beiträgen der LINKEN offenbar gang und gäbe sind. Man kann es nur als Tragik bezeichnen, dass der normale Bürger von alledem nichts mitbekommt.