01.07.2012

Johannes – ein Rufer und Wegbereiter

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Johannes. Dialoge über die Einweihung. Occident, 2012 (544 S., 35€). | Buchbestellung frei Haus.

 

‚Es lebt ein Denken in einem, das nichts Körperliches an sich hat. Der Weg, den wir gehen müssen, führt – wie auch immer – zu diesem Denken. Es ist Licht, das dort zu strahlen beginnt, wo der Verstand an die Grenze dessen gekommen ist, was er vermag. Es ist in dem reinen, sinnlichkeitsfreien Denken zu finden, ist ihm aber nicht gleich. Das reine Denken ist noch aus dem physischen Denken entwickelt. Dieses Lichtdenken kommt dagegen von der anderen Seite, man könnte sagen ‚von oben’. Man kann darin nicht mehr selbst Gedanken bilden, es ist Ausdrucksmittel der geistigen Welt. Ich habe dieses Denken erst ‚beziehen’ lernen müssen, wie einen zweiten Leib. Es ist nicht so einfach, Eva. Du kennst meine Strenge, die ich nicht mehr nach außen hin entfalte, sondern nur noch in der Selbstdisziplin. Diese brauche ich, um durch alle Schwere der heutigen Zeit hindurch jedes Mal wieder das Lichtelement zu erreichen und darin zu verweilen und zu empfangen.’ (S. 94).

Die Romane von Mieke Mosmuller

Mieke Mosmuller ist mit ihren nunmehr 18 auch auf Deutsch erschienenen Büchern sicher vielen Menschen inzwischen begegnet. Bücher wie „Der heilige Gral“ (2007) oder „Rudolf Steiner. Eine spirituelle Biografie“ (2011) enthalten das Tiefste, was außer durch Rudolf Steiner selbst über das Wesen der Anthroposophie geschrieben wurde, denn es ist eine echte Verbindung mit dem Geiste, aus der heraus diese Anthroposophin schreibt.

Darüber kann man diskutieren, und die Diskussionen, die seit 2008 um ihre Person und ihre Bücher aufgekommen sind, zeigen natürlich, dass es hier sehr verschiedene Meinungen gibt. Doch jeder Mensch, der sich mit der Anthroposophie verbunden fühlt, sollte sich mit völliger Klarheit bewusst machen, dass Diskussionen und Meinungen in dieser Frage zu absolut keinem Ziel führen können. Jede Frage, die das Geistige betrifft, kann nur aus dem Geiste heraus in ihrer Wahrheit beantwortet werden.

Dass aber größte Unbefangenheit, vor allem aber allergrößte innere Arbeit und Aktivität notwendig ist, um wirklich zum Geiste und (zunächst) zu einer echten Spiritualisierung des Denkens zu kommen, darauf weist Mieke Mosmuller immer wieder hin. Den Weg zu dieser Spiritualisierung des Denkens von immer anderer Seite aus in Worte zu fassen, ist ihr Impuls.

Im Lichte dieses Impulses stehen auch ihre Romane. Sieben von ihnen sind bisher nur auf Niederländisch erschienen, fünf jedoch auch auf Deutsch: Der deutsche Geist, Mutter eines Königs, Die Weisheit ist eine Frau, Inferno und Himmlische Rose. Sie alle stehen in einem lebendigen Bezug zueinander, denn die Hauptpersonen sind durch einen engen Schicksalszusammenhang verbunden. In dem sechsten jetzt auf Deutsch erscheinenden Roman steht dieser Zusammenhang nun ganz im Mittelpunkt.

Johannes ist ein Arzt, der in stärkstem innerem Geistesstreben zu einem immer weiter reichenden Erleben der geistigen Welt gelangt. Obwohl er sich ganz diesem inneren Entwicklungsweg verschrieben hat, verbinden ihn die Wege des Schicksals mit einer jüngeren Frau (mit der er später auch eine Familie gründet) und einem östlichen Meister. Als es ihm unmöglich wird, ohne Verleugnung seiner eigentlichen Aufgabe im gewöhnlichen Medizinbetrieb weiterzuarbeiten, gibt er seine hohe Reputation und Stellung als Professor auf und schließt sich dem in den Bergen liegenden Institut seines Freundes, des Meisters, an, der ihm die Leitung überträgt. Diese Ereignisse, die allen folgenden Entwicklungen zugrunde liegen, entfalten sich vor allem in dem ersten Roman „Mutter eines Königs“.

Weitere Schicksalszusammenhänge und Geschehnisse, die den Handlungsstrom der anderen Romane bilden, führen dazu, dass an diesem Ort schließlich sechs, sieben Menschen in ihrem Streben nach dem Geist und nach innerer Entwicklung verbunden sind.

Im Mittelpunkt des Romans „Johannes“ steht, noch ausdrücklicher als in den vorangegangenen, die Frage nach dem Geistesweg selbst. Neben den inneren Entwicklungen, den Fragen und dem Streben dieser Menschen entfaltet der Roman in großer Tiefe eine der Hauptfragen von Johannes: Wie kann in einer vom Anti-Zeitgeist beherrschten Welt über den Geistesweg gesprochen, wie können die Menschen erreicht werden?

Notwendige Selbsterkenntnis

Es gibt nun für den Leser zwei Wege: Er kann diesen Roman so lesen, dass er ihm bloß wie einer fiktiven Handlung folgt und auch nach der beeindruckenden Lektüre auf dem Standpunkt stehenbleibt, einfach einen guten Roman gelesen zu haben. Für den Leser jedoch, der sich auf diesen Roman wirklich einlässt, wird er unendlich viel mehr: Er wird zu einem Geschehen, an dem man selbst unmittelbar Anteil hat – er wird im besten Sinne zu einer Apokalypse (Offenbarung), zu einer Katastrophe (Umwälzung). Denn dieser Roman führt den wahrhaftigen Leser zu der ehrlichen Selbsterkenntnis, dass er selbst dem Geistesweg auch nicht energisch genug folgt – dass er also, selbst bei einigen spirituellen Bemühungen, und sei er sogar Vortragsredner oder was auch immer, zu jener „Welt“ gehört, die den Geist nicht wirklich aufnimmt.

Auch in dem Roman gibt es sehr wohl spirituell suchende Menschen, Vertreter spiritueller Strömungen usw. – und man kann der Meinung sein: Was will man mehr? All diese Menschen suchen doch, streben doch, bemühen sich doch... Aber es wird durch den Roman sehr, sehr deutlich, dass das einzig Entscheidende nicht der äußere Schein, nicht die eigene Selbstwahrnehmung, sondern nur die wirkliche Realität ist. Durch die ungeheure Wahrhaftigkeit und Tiefe, die Kraft und Reinheit des geistigen Strebens von Johannes und seiner engsten Freunde kann sich jedem Leser die Qualität des eigenen Strebens offenbaren...

Auf diese Weise kann sich der Leser zu einer Selbsterkenntnis und Wahrhaftigkeit führen lassen, die imstande ist, alle Selbstzufriedenheit aufzulösen und das innere Streben zu befeuern.

Es wird aber leider auch Leser geben, die gegen dieses kompromisslose, wahrhaft heilige Streben nach dem Geiste eine starke Abwehr haben. Sie werden das eigene unverwandelte Selbstgefühl nach außen projizieren und Johannes und seinen Gefährten (oder auch der Autorin) vorwerfen, sie würden auf ihre Art einen spirituellen Hochmut pflegen. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall! Die Tiefe und Größe der inneren Entwicklung braucht sich nicht zu beweisen, sie beweist sich selbst durch das Sein. Und doch wird gerade dieses heilige Sein von der „Welt“, die sich nicht entwickeln will, gehasst, denn es ist eine beständige Mahnung.

‚Ich habe mich deinem gesünderen Urteil wirklich oft beugen müssen – und ich habe das gern getan! Ich habe dich nicht verehrt oder auf einen Sockel gehoben. Das liegt mir nämlich überhaupt nicht. Aber wie soll man sich je weiterentwickeln, wenn man schon meint, ganz oben zu stehen? Wenn man den Geist suchen will, braucht man eine Stimmung der Ehrfurcht, der Devotion. Wie soll das in unserer prosaischen Kultur gehen, Johannes?’ [...]
‚Wir beide sind uns einig, dass alles profan ist. Nirgendwo gibt es Heiligkeit, also gibt es nichts zu verehren. Und langsam wird diese Tugend atrophisch, so wie alles abstirbt, wenn es nicht gebraucht wird. Verachtung in Gedanken und im Gefühl, Achtlosigkeit in der Handlung ... sie müssen als erstes geheilt werden, das ist ganz sicher so.’
‚Aber wie, Johannes?’
‚Nichts kann mehr äußerlich beigebracht werden – alles muss vom inneren Willen her geschehen. Es kann Jahre dauern, bevor etwas, was man völlig eingesehen hat, auch zur Fähigkeit geworden ist. Aber diese Fähigkeit hat man dann für die Ewigkeit – während sie mit dem Tod verlorengeht, wenn sie unter Zwang entwickelt wurde.’
‚Du bist so geduldig, Johannes...’
‚Ich habe kein Recht, ungeduldig zu sein. Ich bin ein Meister der Freiheit...’ (S. 107).


Erlebt man diesen „Johannes“-Roman in unbefangener Anschauung, so steht man vor der Erkenntnis, dass hier ein Mensch beschrieben wird, der wirklich mit seinem ganzen Einsatz, mit allem, was er an inneren Kräften zur Verfügung hat, danach strebt, dem Geiste den Weg zu bereiten; das menschliche Denken und Erkennen wieder mit der Wirklichkeit der geistigen Welten zu verbinden. Und dieses geistige Ringen in dieser (noch) kleinen, wahrhaft brüderlichen Gemeinschaft von Menschen ist tief begeisternd! Man kann unmittelbar den michaelischen Mut spüren, der zu diesem Streben gehört und der diesem Streben, wenn es wirklich den Willen durchringt, tatsächlich auch wesenhaft beisteht. Reiner Enthusiasmus für die innere Entwicklung ist es, was dieses Buch geben kann!

‚Diese Kampfeslust von dir war für meine östliche Gelassenheit eine unbegreifliche Eigenschaft.’
‚Es ist keine Kampfeslust, es ist Mut und Optimismus.’
Der Meister nahm den Kopf in die Hände.
‚Du bist schon auferstanden, mein Junge. Ich noch nicht, ich bin erst am Sterben. Und alles widersetzt sich in mir – und doch will ich dir folgen. Ich bin inzwischen ein Europäer reinsten Blutes, der Osten sitzt nur noch in meiner Erinnerung und meinem Temperament. Ich nehme es jedem übel, wenn er dir nicht folgt – und zaudere selbst noch immer.’
‚Hier im Westen, Meister, steht ein Wesen hinter uns, das mit uns zusammen den Kampf in uns führt. Wir sehen ihn als Erzengel im Kampf mit dem Drachen abgebildet. Denke nicht, das sei nur ein Symbol, es ist eine Wirklichkeit. Wer mir folgen will, folgt ihm – aber ihm folgt dann der Ernst, die Strenge, der Mut, die nie nachlassende Liebe zur Pflicht. Das ist die Hand, die man braucht, Meister. Diese wird einem nur hier, im Westen, gereicht. Gerade da, wo das natürliche Licht untergeht, findet man den Aufgang des Geisteslichtes.’ (S. 104)

Demut und größte Anstrengung

Die größte „Sünde“ oder der größte Irrtum einer jeden spirituellen Richtung besteht darin, zu meinen, dass spirituelle Entwicklung im wahrhaftigen Sinne ohne intensivste moralische Entwicklung möglich wäre.

Mieke Mosmuller weist in ihren Büchern darauf hin, dass die Inhalte der Anthroposophie in jedem Fall eine Einweihung geben – und sei sie auch nur abstrakt, intellektuell. Eine solche abstrakte Einweihung geht aber mit einer zunehmenden Blindheit gegenüber den moralischen Bedingungen der rechten Einweihung einher. In dem Bewusstsein, schon sehr viel spirituelles Wissen erlangt zu haben, verliert der Mensch das reale Erleben dafür, dass er moralisch noch überhaupt keine Schritte gemacht hat. Damit aber beginnen bereits die Rückschritte, denn wenn man den hohen spirituellen Inhalten, die die Anthroposophie gibt, begegnet, ohne diese tief zu erleben und daran ebenso tiefe Verehrungskräfte zu entzünden, verliert man notwendigerweise überhaupt die Fähigkeit zur Devotion und zur Demut...

Man kann über Begriffe wie „Ätherleib“, „Rubikon“ usw. entweder so reden, wie man auch über Inhalte des täglichen Lebens redet, oder man kann ein erlebendes Bewusstsein davon haben, dass es hier um Realitäten des heiligen Menschenwesens geht. Dies ist ein Unterschied so groß wie Tag und Nacht, größer noch – es ist der Abgrund zwischen Ahriman und Christus...

Wir können uns tief bewusst machen, dass wir Ahriman dienen, solange wir geistige, spirituelle Inhalte denken, ohne daran tiefe moralische Empfindungen knüpfen zu können – und dass wir Christus erst dann folgen werden können, wenn wir jene tiefen Verehrungskräfte zu entwickeln vermögen, ohne die die Realität der göttlichen Welten niemals in das bewusste Erleben eintreten kann.

Die zweite Notwendigkeit ist eine immer stärker werdende Anstrengung, den Geistesweg auch wirklich zu beschreiten, dem Geist auch wirklich entgegenzustreben, den eigenen Geist auch wirklich zu erwecken und bis zu den äußersten Grenzen zu entfalten. Konzentration und Meditation – und dies mit dem Feuer des unauslöschlichen Strebens nach dem Guten.

All dies wird in Mieke Mosmullers Roman tief erlebbar – nicht etwa durch ein Aussprechen fertiger „Anweisungen“, sondern vielmehr durch die Handlung selbst, durch das eigene Streben der beschriebenen Personen, ein immer wieder gemeinsames, sich gegenseitig befruchtendes Streben. Johannes ist ein Eingeweihter, aber gerade deshalb tritt er niemals belehrend auf, sondern immer wegweisend, zart mahnend, voller Achtung vor der Freiheit jedes Menschen. Jedem, der fragt und sucht, wendet er sich mit aller Offenheit zu. Vor allem aber im Gespräch mit seinen engen Freunden kann das innige Streben nach dem Geist wirklich rückhaltlos im Mittelpunkt stehen.

‚Das Erste, was du wissen musst, mein geliebter Freund, ist, dass der Willenseinsatz, der in der Meditation geleistet werden muss, gar nicht groß und kräftig genug vorgestellt werden kann. [...] Und das bisschen Willenskraft, was in der Konzentration eingesetzt wird, um zu meditieren, ist bei weitem nicht genug, um sich über den Körper zu erheben. Man braucht jenen Willen, den ein Mensch aufbringen muss, wenn er unter schwersten Schicksalsschlägen trotzdem weitergehen und durchhalten muss – und noch größer. Ein Willenseinsatz, mit dem man einen Berg versetzen könnte, die Kraft des allerallergrößten Enthusiasmus. [...] Aber diese Willenskraft muss eine ganz bestimmte Qualität besitzen, nicht nur einen quantitativen Gehalt. Sie muss nicht glühen, sondern brennen, wie ein nie erlöschendes Feuer von Moralität. Der Wille, der allergrößte Einsatz, muss für das Gute enthusiastisch sein, wiederum in einem Maße, von dem sich unsere lauen Zeitgenossen keine Vorstellung machen können.’ (S. 145)


Ein solcher Abschnitt fasst in Worte, was als Stimmung und inneres Feuer den ganzen Roman durchzieht. Wenn der Leser nicht schnell darüber hinwegliest, sondern dies tief auf sich wirken lässt, ist unmittelbar auch die Erkenntnis der gewöhnlichen Realität da, die dieser not-wendigen Realität immer wieder entgegensteht.

Ist nicht immer wieder der Wille in beiderlei Hinsicht zu schwach – in Bezug auf das Erkennen und in Bezug auf die Moral, die Liebe? Der schwache Wille übt die Meditation gar nicht oder nur halbherzig, jedenfalls nie mit jener Kraft und Begeisterung, die Berge versetzen könnte; er schlägt nicht wirklich in das Denken ein, wodurch es blass und abstrakt bleibt, sich auch immer wieder von Störungen überwältigen lässt, jedenfalls nie zum gewaltigen Flügelschlag des Geistes wird. Aber auch das Moralische erwacht nicht, die Inhalte der Meditation werden nicht mit stärksten moralischen Empfindungen begleitet, die echte, tiefe Liebe zur Entwicklung, die unbezwingbare Sehnsucht nach der geistigen Welt und ihren guten, diese Entwicklung begleitenden und auf den Menschen hoffenden Wesenheiten fehlt...

Zwischen Johannes und seiner Frau entspannt sich an einer Stelle der folgende bedeutsame Dialog, an dem wir uns selbst sehr genau prüfen können: Erwacht in uns ein Staunen über die Stärke dieses inneren Strebens ... oder eine Abwehr, durch die wir dieses Streben als übertrieben, lächerlich oder sogar falsch erscheinen lassen wollen? Dies sind wirklich diejenigen Momente, an denen sich die Geister scheiden – und wo entweder die Engel jubeln oder aber die Widersacher triumphieren...

‚Und du, Johannes? Wachst du immer? Gibt es in deinem inneren Leben keine Momente, wo du dein Streben kurz vergisst? Ganz kurz vielleicht?’ [...]
‚Nein. Ich vergesse mein Streben nie. Auch wenn ich in meinen täglichen Pflichten aufgehe, wacht mein Streben. Ich weiß nur allzu gut, wie viel Mut man dafür aufbringen muss, immer nur aktiv zu sein. Und wenn man sieht, wie ernst der Zustand der Menschheit ist ... dann muss man diesen Mut doch schöpfen? Dein Wille ist zu hundert Prozent gut ... setze ihn dann auch zu hundert Prozent ein. [...]’
‚[...] Ich weiß auch nicht, was man dagegen tun kann. Das Leben ist so anstrengend, ich muss immer so viel.’ [...]
‚Du musst darum bitten; allein vermag ein Mensch schließlich nichts. Dein Wille, der gehört dir allein, der ist frei. Aber das Vermögen ist eine Gabe, eine Gnade. Bitte darum, Eva, und es geschehen Wunder.’

Sie sah ihn gerührt an und sagte:
‚Nun sprechen wir doch über mich.’
‚Nein, dein Streben ist für mich von größtem Belang. Ich darf nicht allein bleiben, Eva! Ein Mensch dürfte keinen Gefallen mehr an einer bloßen Bereicherung, einer Zunahme des Inhalts seiner Erkenntnis finden. Es muss Kraft hineinkommen, Mut, Wachsamkeit, Wachheit. Ich darf darin nicht allein bleiben!’
‚Und Anna? Jakob?’
‚Sie sind begabte Menschen, gutwillige Menschen, hart arbeitende Menschen, liebe Menschen.’
‚Aber?’
‚Aber kein totaler Einsatz im Streben. Jakob ist zu bescheiden, Anna zu sehr eine Frau.’
‚Es erscheint hart, dein Urteil.’
‚Es ist kein Urteil. Dazu habe ich keinerlei Recht. Es ist nur Sehnsucht, meine liebste Eva. Sehnsucht nach einer Gemeinschaft von Menschen, die sich innerlich ganz und gar einsetzen, was auch immer sie äußerlich an Aufgaben haben. Ich bin allein, Eva.’ (S. 276f).

Von der Größe des Zieles

Es ist hier nicht der Raum, auch nur annähernd wiederzugeben, was Mieke Mosmuller in diesem Buch „Johannes“ wirklich entfaltet – und es wäre auch ganz unmöglich, weil die Wiedergabe schlicht abstrakt bleiben würde.

Aber in den tiefen Gesprächen, die Johannes mit seinen vertrauten Freunden führt, geht es um die wirklichen Fragen des Menschseins, um die realen Bedingungen der Einweihung, den hohen Sinn unseres Daseins, die Gegenkräfte und Widersachermächte – den Geisteskampf um den Menschen.

Die Realität der Geist-Erfahrung der Autorin führt dazu, dass auch der Leser in eine reale Sphäre hinein folgen kann, in der er die moralische Substanz dieser Fragen erfahren kann. Immer realer kann zugleich damit die Erkenntnis werden, dass es letztlich überall um Wesenheiten geht. Die Tatsache, dass es die ganze großartige Schöpfung gibt ... dass es den Menschen gibt, dass es Erkenntnis, dass es Moralität gibt – all dies kann immer mehr in seiner ganzen ungeheuren Größe empfunden werden.

Und eine weitere, noch unfassbarere Erkenntnis kann mit dem wachsenden, immer tiefer und wahrhaftiger werdenden Erleben einhergehen: All dies ist jenem unausdenkbar hohen Wesen zu verdanken, das das Wesen der Schöpfung, der Erkenntnis, der Moralität ist und das alle Hierarchien umfasst...

Wie sehr müssen wir streben, um dieses Wesen auch nur ansatzweise denken zu können? Ist unser Streben auch nur für einen Augenblick groß genug, dass wir zur Zeitenwende würdig gewesen wären, Ihm „den Riemen seiner Schuhe zu lösen“? Und wie sehr müssen wir streben, um dieses Wesen in unser Denken, Fühlen und Wollen einziehen zu lassen? Um dies mit all unserer Kraft und all unserem ganzen Wesen zu wollen? Mieke Mosmullers „Johannes“-Roman lässt vor der Seele und dem Geiste des Lesers kraftvoll die Richtung dieses Strebens aufleuchten...

Der erste Teil ihres Romans endet mit den Worten (S. 335):

Hier finden die Betrachtungen von Johannes – vorläufig – ein Ende. Wenn im Leser eine Sehnsucht geweckt ist, dann hat das Mitlesen mit diesem Nachsinnen in der Seele dasjenige hervorgerufen, was die Seele ebenso nötig hat, wie der Leib Sauerstoff braucht, um weiterleben zu können. Diese Sehnsucht ruft nach dem wirklichen Menschsein, wie es sein könnte, wenn nicht das ganze Leben bis in die kleinsten Details banalisiert wäre. [...] Aber das wahrhaftige Menschsein ist nicht banal, es übertrifft die Erwartungen wieder und wieder, und auf dem Grunde jeder Menschenseele schlummert das Wissen davon und die Sehnsucht nach Entfaltung. Diese Sehnsucht wird befriedigt, wenn man sich entschließt, selbst Johannes zu werden, ein Mensch auf dem Weg zum wahrhaftigen Menschsein. [...] Jede Übertreibung ist noch zu schwach, um die Intensität des wirklichen Menschseins auszudrücken. Worte reichen nicht aus, nur der Schmerz der Sehnsucht gibt eine Ahnung von der Großartigkeit...