18.12.2012

Sehnsucht nach Wahrheit – ein erschütterndes Schüler-Projekt

Buchbesprechung: Christa Maria Bauermeister (Hg.): Sehnsucht nach Wahrheit. 55 Interviews der Alfelder Initiative „Geld und Leben“. Leinebergland Druck GmbH, 2012. | ausführliche Übersicht zu den Interviews | versandkostenfrei bestellen. | Zur Langfassung

Das wahre Gesicht unserer Gesellschaft
Dieses Buch ist ein wahrer Meilenstein für „Schule“ überhaupt! Nicht nur die Schüler werden in diesem Projekt mit seinen vielen, kostbaren Interviews mehr vom Leben, über das Leben und für das Leben gelernt haben als in allen Schuljahren zuvor – nein, sie machen der ganzen Gesellschaft ein allergrößtes Geschenk: Die Interviews sind ein erschütternder Spiegel der von uns geschaffenen gesellschaftlichen Realität. Die Menschen öffnen den Schülern ihre Herzen – viele wollen anonym bleiben. Aber sie berichten von den Zuständen in den Krankenhäusern, von der Demütigung bei Hartz-IV-Empfang, von dem immer weiter steigenden Druck in der Arbeitswelt, von den Machenschaften der Banken, von der Ungleichbehandlung zwischen Kleinbauern und Agrarunternehmen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer fordert im Interview eine radikale Schulreform und belegt diese ungeheure Notwendigkeit mit vielen Fakten. – Dieses Buch bringt den Gegensatz zwischen wahrem Menschentum und der „Rendite-Logik des Geldes“, zwischen echter Verantwortung und kalter Zusammenhangslosigkeit, zu vollem, schmerzlichem Bewusstsein. (...) Dieser Sammelband verdient weiteste Verbreitung! In ihm liegt offen zutage, in welche Richtung unsere Gesellschaft umkehren muss, wenn wir nicht einer ungeheuren Katastrophe entgegengehen wollen...
(Rezension für "Amazon", leicht verändert auch in: Das Goetheanum Nr. 3, 19.1.2013)


Als ich auf einer Tagung für solidarische Ökonomie miterlebte, wie die Lehrerin Christa Bauermeister ein durch ein Schülerprojekt entstandenes Buch vorstellte,
wusste ich unmittelbar: Dieses Buch musst du lesen. Der Titel des Buches war „Sehnsucht nach Wahrheit“. Das Projekt, das die Schülerinnen und Schüler in dem Jahr vor ihrem Abitur mit großem Enthusiasmus durchgeführt hatten, waren Interviews – Gespräche mit Menschen aus allen Berufsgruppen unserer Gesellschaft: Krankenschwestern, Landwirte... Was aber nun das tief Berührende daran war – und was diese engagierte Lehrerin voller Begeisterung schilderte –, das war die Tatsache, dass die befragten Menschen den Schülern ihr Herz öffneten. Unter der Zusicherung, dass die Gespräche auf Wunsch anonym bleiben würden, sprachen die Menschen über die wirkliche Realität: Sie erzählten von den seelischen Verletzungen der heutigen Berufswelt, von der tiefen Menschenfeindlichkeit dieser Welt unter der Herrschaft von Kostendruck und Zeitmangel.

Eine Krankenschwester erzählte, dass sie manchmal denkt: „Den Patienten sprech ich lieber nicht an. Der hat Tränen in den Augen, und das kostet mich dann wieder zehn bis fünfzehn Minuten, und die habe ich ja einfach nicht.“ (S. 90) Und abends sitzt man dann auf dem Sofa und fragt sich: Was habe ich heute nur getan?

Die heutige Arbeitswelt treibt dem Menschen mit Gewalt die Seele aus. Sie verhindert mit aller Macht, dass sich diese Seele in der Arbeit geltend machen kann. Sie verhindert Begegnung zwischen den Menschen. Was für eine erschütternde Realität dadurch entsteht – ein reales Vakuum an Menschlichkeit –, das macht dieser Sammelband in seinem ersten Teil so deutlich, dass man wirklich nur sagen kann: Was für ein Monstrum haben wir als heutige „kapitalistische Gesellschaft“ geschaffen? Die ganze Menschheit müsste doch innehalten, sich besinnen, für einige Zeit wirklich in eine Art „inneres Kloster“ gehen und noch einmal ganz neu überlegen, in welcher Welt wir alle – ohne jede Ausnahme – eigentlich leben wollen. Diese tiefe Erschütterung und Sehnsucht nach Besinnung anzuregen, ist das große, gar nicht zu überschätzende Verdienst dieses Buches.

Es mutet seltsam an, das Vorwort von Prof. Wernstedt zu lesen, dem ehemaligen Präsidenten des Niedersächsischen Landtages. Im Gegensatz zur wirkliche Lebensrealität der Menschen und den Interviews des Buches wirkt es leider abstrakt, intellektuell und lebensfremd. Und das genau ist das Grundproblem unserer Zeit: dass wir vor ungeheuren, existenziellen Problemen stehen und führende Politiker es nicht wagen, dies radikal und ohne alle Phrasen zuzugeben und wirklich umzudenken, radikal Neues zu denken. Prof. Wernstedt schreibt, es sei „ein ungeheurer Gewinn für eine Region, sich in dieser Weise zu präsentieren, unzensiert, unfrisiert und voller Zukunftswillen.“ Das ist noch immer die Sprache politischer Hochglanzbroschüren. Dabei ist das ungeheuer wertvolle Menschliche, das unendliche Potential jedes einzelnen Individuums, das in diesen Interviews so berührend erlebbar wird, oftmals zutiefst verletzt! Statt „Zukunftswille“ müsste es viele Male „tiefe Zukunftssorgen“ und „-Fragen“ heißen. Und selbst dies nicht abstrakt, sondern wirklich tief existentiell verstanden!

Wie ein Urbild stößt man in dem Buch auf eine Zeichnung einer Schülerin, die eine ungeheure innere Ausstrahlung hat. Das Bild zeigt eine Engelsgestalt, sitzend, behutsam eine Kugel haltend, die ihr anvertraut scheint. Leuchtend hebt sich die Gestalt mit ihren mächtigen Flügeln und ihrem bis auf den Boden reichenden Kleid von dem dunklen Hintergrund ab. Majestätische Ruhe und Zuwendung, aber zugleich Trauer ist es, was dieser Engel ausstrahlt. Auf sein Kleid und seine Flügel sind Worte geschrieben. „Mitgefühl“, immer wiederkehrend. Und dann liest man den Untertitel: Krankenhausengel unter Renditedruck...!

Wir könnten von unserem Wahn geheilt werden, wenn wir ein solches Bild tief und lange in unsere Seele durchdringen lassen würden! Selbst die Engel weinen, weil wir sogar in Krankenhäusern und Kliniken statt Mitgefühl das Gegenteil finden: Zeit- und Renditedruck, der Patient ist nicht Mensch, sondern Kostenpauschale... Eine ehemalige Krankenpflegehelferin, die häuslich-ambulant tätig war, erzählt von Vorgaben, dass ein Patient in acht Minuten angezogen zu sein habe. Die Zeit für eine Injektion war so knapp bemessen, „dass ich noch nicht einmal den Mantel ausziehen konnte, keine Zeit für ein gutes Wort, Zuhören.“ (S. 77). Nach einem Herzinfarkt gab es früher drei Wochen strikte Bettruhe, heute wird man schon nach einer Woche „in die Häuslichkeit“ entlassen! Man kann sich nicht mehr ans Bett des Patienten setzen, man kann sich nicht einmal mehr um Kollegen kümmern. Wenn Patienten – erwachsen oder noch sehr jung – gestorben sind, hat man keine Zeit, dies zu verarbeiten, die nächsten Aufgaben warten schon, im Minutentakt...

Ein ALG-II-Empfänger („Hartz IV“) erzählt von entwürdigenden und sinnlosen „Qualifizierungsmaßnahmen“, für die die jeweiligen „Maßnahmenträger“ von der „Agentur für Arbeit“ monatlich 1.000 Euro pro Teilnehmer kassieren. Ein anderer Mensch schildert die Schwierigkeit, seine beiden Katzen zu ernähren, die ihn über Jahre begleitet haben, aber im Hartz-IV-Satz nicht vorgesehen sind... Menschen schildern, wie dankbar sie sind, wenn sie in der Stadt einmal einen Kaffee trinken oder sich eine Scheibe Brot leisten können. Die tiefe Bescheidenheit solcher in die Armut geworfenen Menschen reißt unserem ganzen kapitalistischen System den Lügenschleier herunter! Wo ist der Wohlstand dieses Systems, wenn ein solcher Mann fast 60 Stunden in der Woche arbeiten muss, um im Monat auf 1.000 Euro zu kommen!

Die Schüler fanden weitere Menschen, die von einer Bank unwissentlich in riskante Geldgeschäfte gedrängt wurden, obwohl sie nichts anderes als eine sichere Anlage suchten, und eine Bankangestellte, die lieber einfache Sachbearbeiterin blieb, um „nachts noch ruhig schlafen zu können.“ (S. 161). Ein anonymer Mitarbeiter eines Konzerns berichtet, wie die Vorgaben jährlich gesteigert werden, obwohl zugleich Personal abgebaut wird, und wie dies nicht allein auf den Druck der „Billigarbeit“ im Ausland zurückzuführen ist, sondern: „Wenn ich mit meinen Kollegen in Indien rede, dann erzählen die mir, dass sie dem gleichen Druck standhalten müssen.“ (S. 291).

Die Schüler interviewen Landwirte, die die Nöte eines Kleinbetriebes schildern: Ist man in Not, verweigern einem die Banken einen 30.000-Euro-Kredit, während große Agrarunternehmen in derselben Situation neue 300.000-Euro-Kredite bekommen. Hier hofft die Bank, größere (eigene) Verluste durch neue Großkredite doch noch irgendwie verhindern zu können, während sie bei den normalen, richtigen Landwirten knallhart ist. Auf die Frage, warum man in solcher Situation überhaupt Landwirt wird, antwortet dieser Mann: „Man überlegt sich nicht, jetzt bin ich alt genug, ich will jetzt Bauer werden. Das geht so nicht. Man wächst da rein, von klein auf, mit der Liebe zur Landwirtschaft, das Herz wächst daran.“ (S. 383).

Hätten mehr Menschen diese Liebe zu ihrer Arbeit, die als einzige zu einer echten Verantwortung für das Anvertraute führt, gäbe es auf allen Gebieten – nicht nur in der Arbeit an der Erde, nicht nur in Krankenhäusern – wirkliche Menschlichkeit und nicht Renditedruck... Doch das Schicksal unserer heutigen Gesellschaft ist, dass eine zu große und zu mächtige Anzahl von Menschen diesen Renditedruck täglich zur Realität macht, weil sie diese Liebe und damit die Menschlichkeit nicht kennengelernt oder nicht bewahrt hat. Renditedruck ist aber der unmittelbare Feind und Gegner von Verantwortung und von Liebe...

Die Schüler interviewten auch Christian Pfeiffer, den Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (Hannover ist nur 20 km von Alfeld entfernt), der neben dem Neurologen Manfred Spitzer die negativen Folgen starken Fernseh- und Computer-Konsums durch zahlreiche Studien erhärtet hat. Ebenso scharf äußert sich Pfeiffer aber auch in anderer Hinsicht – ein freier Denker, dessen klare Sicht auf die Dinge ein wohltuendes Licht in dem Sammelband wirft. Wenn doch mehr einflussreiche Menschen so klar sähen und auch handelten wie er! Die USA seien längst keine Demokratie mehr. In Deutschland wissen die Abgeordneten überhaupt nicht, worüber genau sie abstimmen: „Ich bin mit vielen Abgeordneten aus unterschiedlichen Parteien befreundet. Was die mir über das Bundestagsgeschehen rund um die Eurokrise erzählen, ist nur zum Davonlaufen.“ (S. 492). Pfeiffer sagt in klaren Worten, dass unser Schulsystem viel zu wenig Raum für Persönlichkeitsentwicklung, Bewegung und Kreativität gibt und „dass die einzige Rettung in einer radikalen Schulreform läge“ (S. 555). Er erzählt den Schülern, dass in Neuseeland, wo sein Sohn eine Auslandszeit hatte, die Lehrer ebenso viele Stunden wie hier unterrichten, dass sie davon aber bis zu sechs Stunden ihre Hobbys in die Schule hineintragen dürfen, wodurch ein großartiges, vielfältiges Angebot entsteht.

Wie kann eine solche radikale Schulreform verwirklicht werden? Nicht nur dieser eine Aspekt neuseeländischer Schulen, sondern viel mehr – was Schule erstmals zu einer Stätte wirklicher Menschenbildung werden ließe? Mit dieser Frage schließt der große Sammelband in gewisser Weise – ein Sammelband, der aus einer Schule hervorging, aber nicht aus dem Unterrichtsgeschehen (worauf der Schuldirektor distanziert ausdrücklich hinwies), sondern aus einer freien Initiative einer Lehrerin und ihrer SchülerInnen.

Die Antwort auf diese Frage gibt im Grunde Sören Rekel, Mitglied der Alfelder Jungsozialisten und Mitbegründer der Initiative „Geld und Leben“, aus der heraus das Buchprojekt entstand. Sören Rekel, der 2009 sein Abitur gemacht hat, sagt:

„Ich würde eine Selbstverwaltung für das Bildungssystem schaffen, die dann in allgemeinen Wahlen von Lehrern, Schülern und Eltern gemeinsam gewählt werden würde und über Lehrpläne und andere konkrete Dinge entscheidet (...)“


In die Welt kommen kann das Neue nur durch Menschen, die das Neue wirklich denken können – und dies auch wagen. Diese Menschen brauchen die Freiheit, die wirklich notwendigen Bildungsprozesse zu entfalten und zu gestalten.

Es ist absolut not-wendig, Bildung im umfassenden Sinne noch einmal völlig neu, losgelöst von allen Vorgaben, zu besinnen, zu denken – und dann zu gestalten! Was macht Menschlichkeit aus? Diese Frage muss im Zentrum aller Überlegungen zu einer wahren Menschenbildung stehen. Wenn Menschen wirklich ihr wahres Menschentum voll ausbilden können, dann werden sie die gesellschaftlichen Strukturen „nach ihrem Bilde“ gestalten – und die Gesellschaft wird menschlich werden.

Ohne ein befreites, auf sich selbst gestelltes Bildungswesen wird man nie zu einer menschlichen Welt kommen. Die Lehrerin Christa Maria Bauermeister musste schon dieses eine einzige bewundernswerte Projekt gegen den Widerstand einer auf staatlichen Vorgaben und Angst basierenden Schulbürokratie durchsetzen. Die Schulleitung distanzierte sich, kaum ein Kollege unterstützte sie öffentlich, am Ende bat sie sogar um ihre eigene Versetzung! Und dies in einem System, das angeblich der „Bildung“ dient! Ihre Schüler haben in diesem Projekt mit Sicherheit mehr vom Leben, über das Leben und für das Leben gelernt als in allen Schuljahren zuvor...

Möge das von Alfelder Schülern und ihrer Lehrerin zusammengestellte Buch „Sehnsucht nach Wahrheit“ ein starker Impuls zu vielen weiteren solcher Projekte und zu einer radikalen Befreiung der Schule zu ihrer wahren Aufgabe sein!