23.12.2012

Die Lüge des Weihnachtsbriefes der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“

Das Schweigen über den inneren Zustand der Waldorfbewegung nimmt kein Ende – im Gegenteil.


Als ich 2009 privat (!) auf den Verlust der inneren Vertiefung innerhalb der Waldorfbewegung hinwies, mich mit prominenten Vertretern und deren Veröffentlichungen auseinandersetzte und mich für das Buch „Eine Klasse voller Engel“ der Anthroposophin Mieke Mosmuller einsetzte, die genau diese Vertiefung vertritt, wurde ich von den „Freunden der Erziehungskunst“, für die ich seit 12 Jahren tätig war, knallhart entlassen. Das sehr schwache juristische Konstrukt (das Berliner Büro sei vom Karlsruher Büro unabhängig und habe als Kleinstbetrieb keinen Kündigungsschutz) war in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht zurückgewiesen worden, aber die zweite Instanz hätte es sehr wahrscheinlich anerkannt, so dass ich mich zu einem Vergleich gezwungen sah.

Nun erstaunt der Weihnachtsbrief dieses Vereins außerordentlich. Abgesehen davon, dass er unglaublich hektisch und lieblos „gestrickt“ erscheint (z.B. mit doppelten Leerzeichen, einem vergessenen „verbleiben“ am Ende und einem katastrophalen Schriftbild mit teilweise über 3 cm breit klaffenden Lücken zum Textrand, was zu meiner Zeit nie passiert wäre), haben es die diesen Verein leitenden Menschen, insbesondere Frau Nana Göbel, offenbar nach wie vor zu ihrem festen Vorhaben gemacht, auch weiterhin ein längst nicht mehr existierendes Idealbild der Waldorfpädagogik zu malen und zu suggerieren, als ginge es in der Realität noch immer um etwas Spirituelles.

Zunächst wird besorgt geschrieben, dass „mit der Wende zum 21. Jahrhundert ... die Macht der technisch-wissenschaftlichen Welt ... immer raumgreifender in die Seelenauffassungen der Menschen hinein wirkt“ und der „spirituelle Kern der europäischen Kultur ... mehr und mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung“ verschwinde.

Nun, auf diese Katastrophe hat schon Steiner drastisch hingewiesen. Die Freie Waldorfschule sollte als Trägerin eines völlig freien, von staatlichen Geldern unabhängigen Geisteslebens Trägerin eines neuen Kulturimpulses werden. Ihr spiritueller Kern, der zu Steiners Lebzeiten insbesondere durch seine aufopfernde Begleitung der ersten Waldorfschule trotz vieler Probleme lebendig war (man lese die Erinnerungen und Bücher der ersten Waldorflehrer und erlebe daran, wie tief sie gerade diesen zentralen Aspekt empfanden!), ist nach seinem Tode schnell verblasst – und ist heute nahezu vollständig verloren gegangen.

Statt dass die Kollegien fortwährend an einer echten Vertiefung der anthroposophischen Grundlage und der inneren Selbsterziehung arbeiten, was als Einziges zu einer wirklich spirituellen Pädagogik führen würde, arbeiten sie aufgrund fortwährender Konflikte und anderer Probleme mit Beratern und konzentrieren sich im Übrigen auf eine Methodenpädagogik, die zum Abitur führt, um staatliche Gelder kämpft etc. – Viele Lehrer haben überhaupt keinen einzigen Bezug mehr zur Anthroposophie, bei vielen anderen ist der Bezug so dürftig, dass sie den Eltern nichts von einer geisteswissenschaftlichen Menschenkunde vermitteln können. Waldorfschule ist normale Schule mit „Waldorf-Lehrplan“ – das ist die ungeheure Tendenz, die sich immer weiter fortsetzen wird. Und deswegen werden auch die Konflikte immer weiter zunehmen, denn das, was real-geistig verbinden könnte – die Anthroposophie und die Selbsterziehung – sind im wesentlichen gar nicht mehr vorhanden!

Für Frau Göbel sieht die Sache ganz anders aus:

„Die geistige Seite des Menschen spielt gegenüber der physischen Erscheinung oder dem seelischen Erleben immer weniger eine Rolle. Diese Gegenwartsauffassung macht es der Waldorfpädagogik natürlich nicht einfach. Solange sie als ‚Herz, Hand und Kopf’, also als ganz begreifbare reformpädagogische Strömung daher kommt, gibt es eigentlich keine Schwierigkeiten; da wird sie derzeit diskursfähig. Aber wenn es um die eigentlichen geistigen Grundlagen und deren alltägliche Praxis im Klassenzimmer geht, dann tauchen schnell allerhand merkwürdige Urteil auf.“


Die „alltägliche Praxis“ kann geistig und ungeistig zugleich sein. Man kann schöne Tafelbilder malen, die Kinder durch Bewegung Rechnen lernen lassen und so weiter. Man kann sogar verstehen, warum diese Hinweise Steiners so fruchtbar sind und wie sie wirken. Doch wenn man sich die Anthroposophie nicht selbst zutiefst zueigen macht, steht die Waldorfpädagogik auf tönernen Füßen. Denn an unzähligen Situationen wird sich zeigen, dass der Pädagoge eben nicht einen unmittelbar geistigen Blick auf die Kinder hat, sondern Hinweisen folgt, dies in unzähligen anderen Fällen aber gar nicht vermag. Und unzählige Male begegnet er den Kindern dann nicht wesentlich anders als ein Lehrer an einer staatlichen Schule. Das ist das Entscheidende, was nicht sein dürfte.

Rudolf Steiner sprach von kaum greifbaren „Imponderabilien“, die trotz allem das Entscheidende in der Pädagogik sind. Wer keine tiefe Beziehung zur Anthroposophie findet, bleibt zu sehr unverwandelter Mensch – das ist der wesentliche  Unterschied, der sich auch ganz und gar im pädagogischen Wirken spiegeln wird. Wer nicht selbst durch die Anthroposophie und die Selbsterziehung im eminentesten Sinne ein werdender Mensch ist, kann werdende Menschen nicht im Geiste der Waldorfpädagogik erziehen. Es ist nicht möglich.

All dies sind für Frau Göbel keine wesentlichen Überlegungen. Die Waldorfbewegung ist geistig gesund, durch sie fließt der geistige Strom der Kulturerneuerung. Überall, wo der Verein Schulen und Kindergärten unterstützt, könne er

„zu dieser Zukunftsfähigkeit verhelfen und daran mitwirken, dass der geistige Strom der Menschheitsentwicklung eine Zukunft auf der Erde hat.“


Und dann heißt es in einer merkwürdigen Entschuldigung: „Ich hoffe sehr, dass Sie mir erlauben, dies in der weihnachtlichen Besinnungszeit auszusprechen.“

Zuletzt wird dann obligatorisch um Hilfe für diese hehre Ziel gebeten:

„Wir würden uns sehr freuen, wenn wir dieses Zusammenstehen intensiver gestalten können, wenn Sie sich überlegen würden, ob Sie Ihre Unterstützung für die Freunde der Erziehungskunst verstärken könnten (...).“


Kann es vielleicht sein, dass auch die Spender dieses Vereins überaltern – wie es auch anderswo sehr oft der Fall ist? Kann es sein, dass der Verein trotz all seiner Hochglanz-Verlautbarungen über die ideale Waldorfbewegung kaum neue Menschen zu Spenden gewinnen kann? Kann es sein, dass dies damit zusammenhängt, dass der größte Teil der Spender die Waldorfbewegung in ihren deutschen Verhältnissen kennt und daher wenig Begeisterung aufbringen kann, weil die Realität einfach furchtbar ernüchternd ist?

Vielleicht sollte Frau Göbel die wohlklingende Propaganda noch etwas mutiger und durchschlagender formulieren, etwa: Die Waldorfbewegung mit ihrem kraftvollen, intakten spirituellen Strom ist die einzige Hoffnung für unsere ganz entgeistigte Zivilisation. Lassen Sie uns intensiv zusammenstehen usw. usw.

Das Merkwürdigste ist, dass Frau Göbel sehr genau weiß, wie es um die deutsche Schulbewegung spirituell wirklich steht. Dass sie dies nicht ausspricht, sondern das volle Gegenteil suggeriert, macht ihren Brief in dieser Weihnachtszeit 2012 zu einem Zeugnis der Verlogenheit, das sich nahtlos einfügt in das erschütternde Schweigen um den wahren Zustand einer Pädagogik, die in ihrem spirituellen Impuls ebenso gescheitert ist wie Rudolf Steiners Impuls der Weihnachtstagung. Letzteres hatte Rudolf Steiner vor seinem Tode mehrfach unmissverständlich angedeutet. Dass man jedoch die Lüge pflegte und bis heute fortsetzt, auch in Bezug auf die Waldorfpädagogik, anstatt durch den Mut zur vollen Wahrheit Möglichkeiten für völlige Neuanfänge zu schaffen, und sei es in kleinstem Maßstab, bedeutet geistig gleichsam die fortwährende Kreuzigung des Meisters des Abendlandes. Und Frau Göbel wagt dies zu Weihnachten 2012...