2013
Ursula Engelen-Kefer gegen die „Genossen der Bosse“
Einblicke in das neoliberale Geflecht.
Es gibt Webseiten, auf denen finden sich Aufsätze und Gedanken von Menschen, denen das Herz an der rechten Stelle schlägt. Eine solche Seite ist „Wirtschaft und Gesellschaft“, gestaltet von dem für viele Medien tätigen Journalisten Thorsten Hild. Um sich von dem Gewicht der Beiträge zu überzeugen, braucht man nur einen Blick auf die Artikelübersicht bzw. dort rechts unten auf die Lesetipps der Redaktion zu schauen.
Seit Februar sind bedeutende Menschen Mitherausgeber dieser Seite: Heiner Flassbeck, Ursula Engelen-Kefer und Manfred Maurenbrecher. Heiner Flassbeck ist Chefvolkswirt der UNCTAD und seit Jahren einsamer Vorkämpfer für eine Erkenntnis der wahren – in Deutschland liegenden – ökonomischen Ursachen der ungeheuren Probleme der gesamten Eurozone. Ich habe seinen Erkenntnissen in meinem Werk zur Finanzkrise („Zeit der Entscheidung“, Band I) ausführliche Abschnitte gewidmet.
Ursula Engelen-Kefer ist eine seit Jahrzehnten beherzt für die soziale Gerechtigkeit und Vernunft streitende Frau. 23 Jahre war sie im Parteivorstand der SPD, 16 Jahre lang Vizevorsitzende des DGB. Was sie aus ihrer Erfahrung mit den in der Politik treibenden Kräften und Menschen zu erzählen hat, ist zutiefst erschütternd. Wer bisher noch in irgendeiner Weise blauäugig war über die Kompetenz und irgendwelche am Gemeinwohl orientierten Intentionen bestimmter Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre, der möge sich von Engelen-Kefer eines anderen belehren lassen:
Das menschliche Denken, das Denken für den anderen Menschen, für das Allgemeinwohl, spielt bei den Menschen, die das Klima und den Zustand unseres heutigen „Sozialstaats“ geprägt und herbeigeführt haben, keine Rolle. Kaltblütig wurde die rasante Vernichtung des Sozialstaats ins Werk gesetzt – und Menschen, die für dessen Erhalt und für eine Entwicklung der sozialen Idee eintraten, wurden gnadenlos bekämpft. Auf welche Weise dies geschah, dafür ist die mutige Kämpferin Engelen-Kefer eine hervorragende Zeugin.
Es geht nicht nur um eine völlige Realitätsblindheit derjenigen Politiker, die nach wie vor von „Reformen“ reden und dabei die Fortschreibung und Beschleunigung der Polarisierung unserer Gesellschaft, ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse, ihrer Bildungs- und Lebenschancen usw. vorantreiben. Viele der Politiker auf mittlerer und unterer Ebene mögen einfach „nur“ absolut realitätsblind sein. Doch die Spitzenpolitiker und -funktionäre wissen trotz aller ideologischen Scheuklappen sehr, sehr genau, was sie tun: Sie üben Verrat – Verrat am Menschen, an der Idee des Sozialen, am Zusammenhang und Zusammenhalt einer ganzen Gesellschaft.
Einer von vielen Beiträgen zur Erkenntnis dieser furchtbaren Realität ist Engelen-Kefers Artikel vom 3. Februar: „Die unbewältigte Rentenlüge“. Hier macht sie darauf aufmerksam, dass CDU und SPD wieder einmal rhetorisch die „soziale Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wollen. Immerhin sind 20 Millionen oder ein Viertel aller Deutschen RentnerInnen. Aber auch alle übrigen Millionen müssen sich fragen, wovon sie in späteren Jahren – oder auch schon jetzt – ihr tägliches Überleben sichern sollen.
Wie kann es sein!? Deutschland ist eines der wirklich reichsten Länder der Erde – wie kann es sein, dass ein Mensch, der 35 Jahre lang monatlich 2.500 Euro brutto verdient hat (und viele, viele von uns liegen noch darunter, oft weit darunter), nach einem langen Arbeitsleben auf 688 Euro Rente hoffen darf? Auf eine Art Almosen, das vom Staat gnädig bis auf maximal 850 Euro aufgestockt wird – aber auch nur, wenn man mit „Riester-Rente“ u.ä. vorgesorgt hat!?
Ein reiches Land kann alle seine Menschen nicht nur menschenwürdig versorgen, sondern an seinem Reichtum teilhaben lassen. Wie kann es sein, dass das nahezu reichste Land der Erde ein Viertel und immer mehr seiner Bevölkerung gleichsam verhungern lässt, jedenfalls an das – oder sogar unter das – Existenzminimum zurückstößt?
Es gibt nur eine wirkliche Ursache – und das sind die real wirkenden Kräfte und Interessen, die auch den sogenannten „politischen Willen“ bestimmen. Mögen die Politiker, die im Sinne dieses äußerst dunklen Willens wirken, noch so wohlklingende Worte in den Mund nehmen – sie dienen dunklen Interessen, die nicht die Interessen von 99 Prozent der Menschen, nicht die Interessen einer sozialen Gesellschaft sind.
In ihrem Buch „Die Vorsorge-Lüge“ (Econ/Ullstein 2012) haben Holger Ballodi und Dagmar Hühne das Ausmaß der Verflechtungen und Machenschaften zwischen Politik, Wirtschaft, „Wissenschaft“ und Medien dargestellt – und auch Aussagen von Engelen-Kefer zu diesem unermesslichen Skandal festgehalten. Einige wenige seien auch hier zitiert.
Bert Rürüp, der die Vernichtung der solidarisch getragenen und generationenfinanzierten Rente, inhaltlich konzipiert hat, ist Engelen-Kefer aus zahllosen Begegnungen bekannt. Sie erinnert sich:
„[...] aber er war halt vor allem unglaublich eitel. Das Wichtigste war ihm immer, dass er in Ämter berufen wurde, dass er gefragt wurde. Und so hat er sich opportunistisch an alle rangeworfen: an Blüm, an Schröder, an Riester und an Ulla Schmidt.“
Die Vorsorge-Lüge, Kapitel 3. [Quelle]
Als SPD-Parteichef Gerhard Schröder gnadenlos die „Agenda 2010“ durchziehen will, die mit „Hartz IV“, „Rentenreform“ usw. Millionen von Menschen in Armut und Demütigung stoßen wird, tritt Finanzminister Oskar Lafontaine von einem Tag auf den anderen zurück. Engelen-Kefer erinnert sich:
„Für uns war das ein Schock [...], auf Lafontaine konnten wir uns bis dahin immer verlassen. Er war das unerlässliche Gegengewicht zu Schröder.“ [...] Und es war verblüffend, wie schnell sich der Wind drehte. Die sozialdemokratische DGB-Vize-Chefin Engelen-Kefer hatte darunter besonders zu leiden. Sie saß als eine von wenigen Frauen im SPD-Parteivorstand und war in den monatlichen Sitzungen das bevorzugte Ziel von gezielten Sticheleien Gerhard Schröders. [...] Sobald sich Engelen-Kefer mit Kritik zur Rentenreform meldete, wurde sie vom Chef abgebügelt: „Ach Ursula, hör doch endlich mit diesen ollen Kamellen auf. Du siehst doch, dass Du hier keine Mehrheit hast.“ Um seine scharfzüngige Kritikerin zu diskreditieren, verballhornte er zudem ihren Namen zu “Quengelen-Keifer”. Eine Name, der sich bis heute in Journalistenkreisen hartnäckig hält. Das sollte allen anderen zeigen: wer sich gegen mich stellt, wird an den Pranger gestellt. [...]
Ursula Engelen-Kefer: „Am Ende war ich im Parteivorstand ganz alleine. Ich war die letzte, die sich gegen die Riesterrente gewehrt hat. Wer stellt sich gegen den Vorsitzenden und Kanzler? Niemand. Die wollten doch alle wieder aufgestellt werden.“
Die Vorsorge-Lüge, Kapitel 4. [Quelle]
Zu Beginn von Riesters Amtsantritt habe Engelen-Kefer noch verkannt, „in welchem Ausmaß Sozialdemokraten zu Handlangern der Finanzindustrie werden könnten“ (ebd.). Bald aber war dies klar. Und Engelen-Kefer sollte ausgeschaltet und abgeschoben werden: Riester selbst hatte für sie einen gut dotierten Job in Brüssel ausfindig gemacht. Engelen-Kefer: „Eine Frechheit war das.“ (ebd.).
Aber zu wenige dachten wie sie. Bis in die Spitzen der Gewerkschaften ließ man sich auf den antisozialen Impuls ein. Noch einmal Engelen-Kefer:
„Die IG BCE und auch Teile der IG Metall waren klar dafür, auch in der Alterversorgung von den Kapitalmärkten zu profitieren“, erinnert sich Ursula Engelen-Kefer, „das wurde aber nicht öffentlich gesagt, dass man die Rente teilweise abschaffen wollte”. Sie verweist darauf, dass auch Spitzengewerkschafter in den Gremien und Beiräten von großen Finanzunternehmen saßen und sitzen: „Da wurden offensichtlich Absprachen getroffen.“
Die Vorsorge-Lüge, Kapitel 4. [Quelle]
Eine äußerst ausführliche Darstellung zur Zerstörung des Sozialstaates findet sich auch in dem Interview „Schröder fand Gefolgsleute auch in den Gewerkschaften“.
Wieviele wahrhaftige, politisch aktive Menschen haben wir noch in der ehemaligen Heimat des „deutschen Idealismus“? Ist es ganz undenkbar, dass sich diese Menschen zu einem politischen „Bündnis der Menschlichkeit“ zusammenschließen...?