2013
Wer überwindet den anti-menschlichen Impuls unserer Zeit?
Grundsätzliche Gedanken zu der Frage, die über unsere Zukunft entscheiden wird.
Annäherung
In diesem Aufsatz möchte ich deutlich machen, was das eigentliche Problem im Kampf gegen den neoliberalen, anti-sozialen Impuls unserer Zeit ist – und auf welche Weise er nur überwunden werden könnte.
Blickt man auf unsere Gegenwart, ist es doch frappierend zu erleben – für diejenigen, die die Dinge zunächst durchschauen, und dies sind immer mehr Menschen –, dass im Grunde doch allgemein gefühlt und gewusst werden müsste, dass die Politik der letzten Jahre in ein Verderben führt. Ob es nun Schröder oder Merkel war und ist – die Politik dieser Menschen und der von ihnen geführten sogenannten „Volksparteien“ dient dem Menschen nicht mehr, sondern führt in immer mehr eskalierende ungerechte, unmenschliche Verhältnisse hinein.
Dennoch erfreut sich Kanzlerin Merkel großartiger Umfragewerte, dennoch schweigt nahezu die gesamte Presse, schwimmt mit dem Strom. Woran liegt das? Durchschauen doch noch zu wenige Menschen die Verhältnisse? Meint man, immerhin das kleinere Übel zu wählen? Trauen zu viele Menschen der CDU „noch immer die größte Kompetenz“ in ökonomischen Fragen zu? Dies sind sicherlich Faktoren, die auch vielfach eine Rolle spielen.
Wirft man der LINKEN noch immer eine nicht ganz aufgearbeitete DDR-Vergangenheit vor? Kennt man zuwenig deren reale Konzepte und Entwürfe?
Ist man überhaupt resigniert, scheinbar ganz „unpolitisch“ geworden? Hat man alle Hoffnungen begraben und konzentriert sich ganz auf seinen engen Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis – oder einfach nur: auf das tägliche Überleben?
All dies spielt sicherlich eine ganz wichtige Rolle, und wir kommen den Gründen für die nahezu unbegrenzte Macht der Ideenlosigkeit, die uns heute beherrscht, immer näher – aber sind noch lange nicht beim Eigentlichen.
Es sind zu wenige Menschen, die die Dinge durchschauen. Es sind zu wenige Menschen, die noch den Mut haben, am Geschehen dranzubleiben, sich informiert zu halten, sich zu engagieren. Aber das ist nicht der Punkt.
Um dem eigentlichen Problem zu begegnen, müssen wir durchaus den Blick noch in eine ganz andere Richtung lenken.
Ich ziehe die Kreise enger – und immer mehr werden wir uns den eigentlichen Ursachen nähern. Es ist aber nur Schritt für Schritt möglich. Die Ursachen selbst werden wir erst ganz am Ende finden.
Der fehlende Zusammenhang
Es gibt unzählige Initiativen, die für „einen Wandel“ eintreten. Als Beispiele nenne ich nur unter vielen, vielen anderen: die Akademie für Solidarische Ökonomie, Anti-Hartz-IV- und Arbeitslosengruppen, Attac, die NachDenkSeiten, Occupy, die Seite „Wirtschaft und Gesellschaft“...
Warum führt dies keinen Wandel herbei?
Ein Problem ist selbstverständlich die Vereinzelung. In einer „Graswurzelbewegung“ ist der gemeinsame Impuls nicht immer deutlich, ist der Zusammenhang oft aber auch gar nicht vorhanden. Es gibt nicht nur keine Machtstrukturen, sondern es wirkt auch ganz real jeder für sich, ohne Zusammenschluss. Die Bewegung ist keine Bewegung, denn sie wird – im Bilde – nicht zu einem starken Baum, sondern bleibt eine Menge von isolierten Grashalmen.
Derjenige Impuls, der heute so machtvoll dominiert und im Sinne der Vernichtung alles Sozialen wirkt, braucht sich um seinen Zusammenhalt nicht zu sorgen. Wie durch Zauberhand vernetzen sich die Menschen, die ihm folgen und ihm dienen. Sie haben die Macht, das Geld, die Zeit. Der Impuls dient ihren Interessen, sie dienen den seinen. Diese Menschen sind an der Macht, haben die Macht, haben ihre Zuarbeiter. Das, was sie tun, dient ihrem Impuls. Es dient den Interessen einiger Weniger, aber es wird durch Gesetze und Regelungen allgemeingültig.
Diese Vereinzelung der Menschen, die im Sinne des Zusammenhanges wirken wollen, es aber allein nicht wirklich vermögen, ist ein ungeheures Problem – doch nicht einmal dieses Problem ist das entscheidende.
Man kann in verschiedenen Initiativen, Netzwerken und Organisationen Erfahrungen machen. Diese Erfahrungen ähneln sich oft ganz erstaunlich. Man kann sie etwa wie folgt beschreiben:
Zum einen sind auch die einzelnen Organisationen oft wie ein „Netzwerk“, in dem man nicht zusammenwirkt. Viele Einzelimpulse einzelner Menschen sind hier am wirken – aber es bleibt vereinzelt. Jeder entfaltet irgendwelche Initiativen, aber es ist manchmal, wie wenn sie ins Nichts gehen. Sie werden nicht aufgenommen – die Anderen machen anderes, jeder kümmert sich scheinbar um „die Sache“ – aber es entsteht nichts, was wirklich Substanz hätte, Kraft hätte. Es gibt vielleicht viele Diskussionen, viele Beschlüsse, viele Papiere, ja sogar viele Aktionen – aber keine bleibende Substanz, keine wirkliche Wirkung, nichts wirklich Reales.
Und schlimmer noch: Selbst innerhalb einer solchen Organisation, eines solchen Netzwerkes kann man sich gegenseitig aktiv lähmen. Nicht nur, dass man sich kaum wirklich wahrnimmt, man kann auch ohne gegenseitiges Verständnis sein und sogar gegeneinander arbeiten.
Was gibt es nicht gerade in sogenannten linken Bewegungen für Diskussionen! Diese sind aber nicht geprägt von einem Ringen um „die Sache“, um Erkenntnis, um fruchtbare Ansätze – sondern von einer ungeheuren Kakophonie, einem (im Bilde gesprochen) Durcheinanderrufen Aller, ohne dass letztlich irgendeiner auf irgendeinen anderen hört. Jeder ist von seinem Ansatz zutiefst überzeugt und hat im Grunde nur die Hoffnung, eine Mehrheit ebenfalls davon zu überzeugen. Jeder hat angeblich ein Patentrezept in der Tasche bzw. im Kopf.
Was liegt hier vor? Wir leben in einer Gegenwart, in der der intellektuelle Egoismus, ja Autismus, immer mehr zunimmt. Die Menschen sind immer weniger bereit und auch nur fähig, einem anderen Menschen zuzuhören ... bereit und fähig, dessen Gedanken wirklich aufzunehmen ... zu verstehen ... abzuwägen ... stehen zu lassen ... weiterwirken zu lassen ... mitzutragen ... wahrhaft zusammenzuwirken.
Die Schwierigkeit, das Problem zu erfassen
Und hier kommen wir langsam zu den wirklichen, den ausschlaggebenden Realitäten, um die es heute geht. Diese Realitäten sind nicht abstrakte äußere Umstände (politische, gesellschaftliche), es sind in stärkstem Maße innerseelische Voraussetzungen – die anzuschauen wären. Das heißt nicht, dass die äußeren Umstände unwichtig wären, sie sind außerordentlich wichtig. Aber es heißt, dass diejenige Realität, auf die es noch viel stärker ankommt, heute absolut aus dem Bewusstsein entschwindet.
Ein ungeheures Problem ist es bereits, dass sich allein an eine solche Feststellung die größten Vorurteile knüpfen können und man bereits nach einem Satz völlig missverstanden wird. Dann wird zum Beispiel „gehört“: „Ach so – da haben wir wieder einen dieser zahlreichen Moralprediger. Auf die können wir nun wirklich verzichten. Die wollen uns mit ihrer wunderbaren Wahrheit beehren, dass die Welt besser wäre, wenn der Mensch besser wäre. Die lästigsten Belanglosigkeiten, die es überhaupt gibt!“ Und daraufhin wird dann nicht mehr weiter zugehört bzw. -gelesen...
Es gibt aber einen unendlichen Unterschied zwischen „Moral predigen“ – was nichts anderes wäre als ein Dogmatismus, wie er heute überall dominiert, bemerkt und unbemerkt – und: auf Realitäten hinweisen.
Das gerade ist die Tragik unserer Zeit, dass gerade das Realste überhaupt nicht mehr erlebt wird. Was aber nicht erlebt wird, erscheint als nicht-existent. Und was nur außerordentlich flüchtig erlebt wird, erscheint eben als sehr irreal und unbedeutend, wird nicht wichtig genommen.
Die konkretesten Realitäten unserer Zeit erkennen wir nicht als solche! Entweder wir haben überhaupt kein Bewusstsein für sie – oder aber (und dies ist kaum weniger schlimm), wir nehmen sie als etwas Selbstverständliches, ohnehin Unveränderbares hin. In jedem Fall entgeht so unserem Blick das Entscheidende, immer wieder...
Hätten wir doch nur einmal den Mut, in innerer Ruhe die Realität anzuschauen, wie sie ist!
Es ist immer und immer wieder (nur) der Mensch, der die Realitäten schafft, in denen wir leben. Zugleich aber ist unsere gesamte Aufmerksamkeit nach außen gerichtet – auf die Faktoren, die Umstände, die gesellschaftlichen Bedingungen, die Möglichkeiten der Veränderungen, konkrete Maßnahmen, Aktionen und, und, und. Nie und niemals ist der Blick auf den Menschen selbst gerichtet. Aber ist dieser Blick so trivial?
Das unbekannte Wesen des Menschen
Ist beispielsweise die unhinterfragte Annahme, die „conditio humana“ – oder die „menschliche Natur“ oder was auch immer – sei etwas Feststehendes, nicht selbst schon eine Folge bestimmter ungeprüfter Prämissen, Denkgewohnheiten, Dogmatismen...?
Was ist mit unseren Denkgewohnheiten? Ist unsere Art zu denken nicht bereits eine Folge unerkannter Prämissen? Ist die Annahme, es gäbe nur eine Art zu denken, nicht bereits das größte Dogma oder der naivste Glaube? Oder: Ist der Mangel an Bereitschaft, sich zu fragen, welche Rolle unsere Art zu denken spielt, nicht ein ungeheures Beispiel von Faulheit, Trägheit, Bequemlichkeit, von mangelndem guten Willen?
Wir alle leben zunächst in einer bestimmten Art zu denken, die sehr stark abhängig ist von der ganzen geistesgeschichtlichen Entwicklung, die die Menschheit durchgemacht hat.
Das erste Hindernis für das Verständnis der hier berührten Realitäten liegt bereits hier:
Wie sehr kann es einem zur Erfahrung werden, dass es verschiedene Arten zu denken gibt – Arten, die entscheidend verschieden sind?
Schon dieses Hindernis ist nur mit einem starken inneren Willen überwindbar, denn – man hat zunächst eben nur eine Art zu denken. Dasjenige Denken aber, was man hat, ist einem so selbstverständlich, dass man nicht darüber hinaus denken kann – denn auch das müsste mit ebendiesem Denken geschehen!
Um ein anderes Denken erfahren zu können, müsste man dieses überhaupt erst erringen. Und: Um sich der ganzen Art seines eigenen Denkens bewusst zu werden, müsste man sich auch diesem gegenüberstellen können. Man kann dies zwar mit fertigen Gedanken machen, aber das ganze Wesen und den ganzen Charakter seiner gegenwärtigen Art zu denken kann man nicht erleben – wenn man nicht lernt, einen entscheidenden inneren Schritt zu vollziehen.
Das Problem des heutigen abstrakten Intellekts aber ist es, dass es den Menschen nicht mehr erreicht. Die heutige Art zu denken hat sich völlig gelöst vom Seelischen des Menschen. Diese Lösung geht so weit, dass die menschliche Seele oft gar nicht mehr als eigene Realität anerkannt wird (man spricht höchstens von „Psyche“).
Wenn man sich aber einmal darauf besinnt, was man als Mensch eigentlich empfindet – das grundlegende Selbsterleben des Menschen, die tiefste Sehnsucht nach einem (An-)Erkanntwerden als Mensch –, dann wird man immer auf ein Selbsterleben der Seele geführt. Diese muss nur den Mut haben, sich als das zu erleben, was sie ist!
Man stelle sich nur einmal vor: Zweieinhalb Jahrhunderte materialistische Weltanschauung haben es dem Wesen des Menschen ganz ausgetrieben, an sich selbst zu glauben! Zweieinhalb Jahrhunderte materialistischen und immer abstrakter werdenden Denkens haben es dem Wesen des Menschen ausgetrieben, auch nur ansatzweise sich selbst zu erleben und zu erfahren – nicht über Vorstellungen, sondern in einem unmittelbaren, ganz innerlichem Erleben, welches der Seele die Gewissheit ihrer eigenen Existenz geben würde!
Das, was der Mensch heute im gewöhnlichen Alltag von sich erlebt, ist ein sehr körperbezogenes Ich-Gefühl, es hat mit dem Leibgefühl und mit dem Wissen von der eigenen äußeren Gestalt zu tun – und wenig mit dem eigentlichen Wesen seiner Seele. Je mehr wir uns aber in uns vertiefen und einmal unter Ausschaltung aller äußeren Eindrücke auf unser Inneres besinnen, desto mehr werden wir zu einer Ahnung und einem Erleben unseres seelischen Wesens kommen.
Der Abgrund zwischen dem Intellekt und dem eigentlichen Menschen
Dieses Wesen des Menschen wird durch das heutige Denken wirklich nicht mehr erreicht. Immer fremder steht der Seele des Menschen die heutige Art zu denken gegenüber. Das aber bedeutet nichts anderes, dass sich das Denken vom eigentlichen Wesen des Menschen immer mehr abgelöst hat. Es hat dem eigentlichen Menschen heute nicht mehr viel, eigentlich nichts mehr, zu sagen.
Und dies ist der wahre Grund dafür, dass so unendlich viele Menschen sich von politischen Fragen ganz zurückziehen. Es ist auch Resignation, es ist auch Bequemlichkeit und vielleicht noch vieles andere. Es ist aber immer wieder vor allem das Grundgefühl des Menschen, seiner Seele: Das ist nichts mehr, was mich angeht, was mich meint, womit ich im Wesen etwas zu tun habe, es gehört nicht zu mir.
Wir müssen wirklich erst eine Ahnung von der Realität der Seele, des innersten Menschenwesens bekommen, um zu erfassen, wie radikal dieser Abgrund in der heutigen Zeit geworden ist. Gedacht und vorgestellt werden kann all dies wiederum sehr leicht – aber zu einer wirklichen inneren Erfahrung wird es nur, wenn die Seele beginnt, sich selbst zu erleben und dann zu einem realen Erleben der Kluft zu kommen.
Was haben diese furchtbar abstrakten Diskussionen über so etwas wie ESM, Staatsschulden, Außenhandelsdefizite, Rentenlücke, Emissionshandel usw. für eine Bedeutung für die Seele? Nicht die geringste! Es ist, wie wenn man einem Kind mit totem, hässlichem, sterilen Plastikspielzeug käme – nicht das Geringste kann es damit anfangen, allenfalls sein reines, ursprüngliches Empfinden daran verlieren!
Wir haben als moderne, intellektuelle, engagierte Menschen gelernt, uns intensiv mit all diesen Fragen zu befassen – aber von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, rühren sie nicht einmal ansatzweise an den Kern des Problems! Gegenüber dem tieferen Seelenwesen des Menschen verblassen alle diese Dinge zu Nichtigkeiten. So ähnlich fühlt sich ein Mensch, der schwerkrank ist und vor existentielle Fragen gestellt wird, wenn man ihn der hochtechnischen Apparatemedizin aussetzt. Diese wird zu einem Bestandteil seines Lebens – aber auch hier hat seine Seele nichts damit zu tun. Es sind Fremdkörper für den eigentlichen Menschen.
Für das tiefere Wesen des Menschen ist die Frage denkbar einfach: Das Wesen des Menschen sehnt sich danach, dass die Welt ihm entspricht – dass die Welt, die „im Außen“ vorgefunden wird, sich ebenfalls als durch und durch menschlich offenbart. Die Seele sehnt sich danach, dass die Welt ein „Ebenbild des Menschen“ ist – ist sie dies nicht, so leidet die Seele am Mangel dieses Menschlichen.
Die eigentliche Aufgabe
Von diesem Erleben aus gesehen ist die gesamte heutige Wirklichkeit eine ungeheuer abstrakte. Das tiefere Wesen der Seele wird von der Realität der heutigen Welt fortwährend tief verletzt. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass Menschen sich für „eine andere Welt“ engagieren – sie wollen die Welt menschlicher machen. Man muss diesen Impuls jedoch tief genug begreifen.
Die gewöhnliche Ebene – aus einem gewissen „sozialdemokratischen“ oder „humanistischen“ Solidaritätsempfinden heraus zu Vorstellungen über gerechte gesellschaftliche Verhältnisse zu kommen – ist noch nicht die tiefste Ebene der Seele. Denn selbst wenn man ein „beherzter Kämpfer für soziale Gerechtigkeit“ ist, spielen sich heute dennoch 90 oder 95 Prozent der bewussten Gedanken, Gefühle und Handlungen auf jener doch sehr intellektuellen Ebene ab, die uns die äußere Wirklichkeit fortwährend aufdrängt.
Es müsste aber umgekehrt sein: Gerade die wenigen mutigen Streiter für eine menschliche Welt müssten sich bemühen, immer tiefer und tiefer zu dem eigentlichsten, tiefsten Quell ihres Impulses vorzudringen und sich immer kräftiger und stärker erlebend bewusst werden, was der Mensch, was die Seele und was der menschliche Impuls eigentlich ist...
Wenn es so wäre – wenn also 95 Prozent der bewussten Gedanken und Gefühle diesem unerschütterlichen Streben nach vollster Bewusstwerdung des eigentlichen Wesens des Menschen und seiner höchsten Impulse und moralischen Intuitionen gewidmet werden würden, dann ... würde etwas geschehen, an das heute noch nicht einmal gedacht werden kann!
Es würden innere Kräfte frei werden, die alles äußere Handeln mit einer derart tiefen moralischen Kraft und Substanz erfüllen würden, dass dieses Handeln auch nur einiger weniger Menschen tatsächlich Berge versetzen könnte!
Heute jedoch hat der Mensch das Erleben seines eigentlichen Wesens gar nicht real. Und darum verliert er sich in seinem Denken und Handeln. Er ist zwar der Vorstellung, das Richtige zu tun und gute Impulse zu haben, Aktionen zu machen usw. – aber diese haben keine größere Wirkung. Denn auch sie haben noch fast keinen Zusammenhang mit dem tieferen Menschenwesen, gehören noch immer viel zu sehr zum Reich der Abstraktheit, ob man dies will oder nicht.
Das Menschliche wahr machen
Das tiefere Wesen des Menschen leuchtete in der Geschichte immer wieder nur in gewissen Momenten auf – und dann waren die Handlungen der Menschen nicht abstrakt, dann trat das rein Menschliche in die Offenbarung auch der äußeren Welt. Denken wir einmal an Mahatma Gandhi, an Nelson Mandela, an die reinsten Impulse im Zusammenhang des Jahres 1989! An diese reinsten und höchsten Impulse des Menschlichen wäre anzuknüpfen – in dem Streben, sich das hier Wirksame als Mensch immer mehr zueigen zu machen!
Und wer behauptet, dies wäre unmöglich, der verkennt das menschliche Wesen als ein durch und durch auf Entwicklung angelegtes wirklich vollkommen. Das Einzige, was man jemals aussagen kann, ist, dass man nicht den Willen hat, sich derart tiefgreifend zu entwickeln...
Hinzuweisen wäre auch und ganz besonders auf jene epochale Zeit in der Weltgeschichte, die man den „deutschen Idealismus“ nennt. Hier hatten einmal innerhalb weniger Jahrzehnte verschiedenste größte Geister mit aller Kraft danach gestrebt, das Menschliche zu denken und mit ihrem ganzen Menschsein wahrzumachen. Fichte, Goethe, Schiller, Schelling und Novalis – für wie viele Menschen sind dies heute nur noch Namen! Und wie sehr wurden Generationen von Menschen in der Schule mit den „Klassikern“ gequält, die man dadurch vergewaltigte, dass man sie schon während und erst recht nach ihrer Zeit kaum verstanden hat in ihrem eigentlichen, welterschütternden Streben!
Man hat sie als „Romantiker“ verniedlicht, man hat sie als „Nationalhelden“ missbraucht, oder man hat aus sonstiger Bequemlichkeit, innerer Faulheit oder Geistesmangel nicht im Ansatz erkannt, was sich hier eigentlich ereignete: Hier, in diesem Augenblick der Geschichte, drängte die Menschheit (und diese größten Geister offenbarten dieses Drängen nur am leuchtendsten) schon einmal zu einer vollen Menschlichkeit, zu einer wirklichen Ver-mensch-lichung der Welt. Doch der Impuls drang nicht durch, musste wieder unter der Oberfläche fortfließen, denn der anbrechende Materialismus erstickte diesen Versuch der Mensch-heit zunächst.
Heute ist es an der Zeit, sich des im Menschen verborgenen tiefsten Impulses wieder voll bewusst zu werden!
Das heutige Denken als Todeszustand
Unser heutiges Denken ist in eine unendliche Abstraktheit hineingekommen. Diese Abstraktheit führt dazu, dass das Denken mit den Dingen nicht mehr erlebend verbunden ist – und der Mensch nicht mehr mit seinem Denken. Zwar nehmen wir unsere Gedanken sehr wohl deutlich als „unsere eigenen“ wahr – aber es sind eben „nur“ Gedanken. Gerade darin liegt ihre Abstraktheit.
Wir wissen, dass zwei sich liebende Menschen nicht einfach sagen können: „Ich liebe Dich.“ Man muss es auch fühlen. Was uns aber hier ohne weiteres klar ist, lassen wir im übrigen Leben ganz unberücksichtigt. Im Alltag denken wir fortwährend so, als seien wir gefühllose Wesen! Wir denken abstrakt.
Nun geht es allerdings nicht darum, die gewöhnlichen persönlichen Gefühle in das Denken hineinspielen zu lassen. Das geschieht ja durchaus, wenn uns zum Beispiel die eigene Empörung nach Wegen einer anderen Ökonomie suchen lässt. Aber darum geht es nicht – nicht um die subjektiven und unverwandelten Gefühle, die aufsteigen!
Auch in der Liebe liegt die Sache nicht ganz einfach. Sicher kann man aufgrund seines subjektiven Gefühls sagen: „Ich liebe Dich.“ Dann sind die gedanklichen Worte einfach die Botschaft des Gefühls (das möglicherweise wiederum stark von Hormonen, Instinkten usw. abhängig sein kann). Es ist jedoch auch ein anderer Fall möglich: Ich kann ein Bewusstsein vom Wesen der Liebe haben.
Mein Gefühl für einen bestimmten Menschen ist ein Ausdruck der Realität der Liebe auf einer ihrer Stufen. Aber welche ihrer Stufen dies ist, hängt davon ab, welche Idee und welche Erkenntnis von der Liebe ich habe. Je mehr ich erkenne, was die Liebe ihrem Wesen nach ist (weit hinausgehend über ihre untersten, biologisch dominierten Offenbarungen), desto mehr kann ich in dieser Liebe leben. Je idealistischer meine Liebe wird, desto tiefer dringe ich in das Wesen der Liebe ein, weil ich dieses Wesen erkenne, es für mich eine unmittelbare Erfahrung wird.
Worauf ich hindeuten will, ist, dass hier das gedankliche Element selbst sich mit einem Fühlen, mit einem konkreten Erleben verbindet.
Das abstrakte Denken kommt ganz ohne in ihm selbst lebendes Fühlen aus – und es wird auch selbst nicht wirklich erlebt. Deswegen ist dieses abstrakte heutige Denken ein so „flüchtiger Hauch“, von dem wir nicht einmal wissen, wie wir es nun eigentlich hervorbringen. Wir denken einfach – und schon sind die Gedanken da, nicht selten sogar auch dann, wenn wir es gar nicht wollen.
Dasjenige, was uns aber so ungeheuerlich von allem trennt – von der Welt, vom anderen Menschen und auch von unserem eigenen Wesen –, das ist genau diese abstrakte Natur des Denkens. Derart abstrakt ist das Denken aber im Laufe der letzten Jahrhunderte geworden. Der Mensch hat dadurch eine nie dagewesene Bewusstseinsklarheit und „Objektivität“ (Gegenüberstellung) gewonnen – aber er hat ebensoviel verloren ... zunächst.
Und es ist nicht so einfach, wie man vielleicht denken mag, diese Abstraktheit wieder abzulegen. Es reicht nicht, auch „das Gefühl“ ernst zu nehmen oder sich in ein „Denken aus dem Bauch heraus“ zu flüchten. Der Schritt, der notwendig wäre, ist ein ganz anderer, und er liegt gerade in der Richtung, den Menschen wie Fichte, Schiller oder Novalis gewiesen haben.
Das klare Denken darf nicht aufgegeben werden, es darf auch nicht einfach „mit Gefühl angereichert“ werden. Sondern zunächst ist die Aufgabe, zu erkennen, wo wir bewusstseinsgeschichtlich stehen: dass das abstrakte, intellektuelle Denken der Todespunkt des Denkens ist. An diesem Todespunkt wird die volle Klarheit der intellektuellen Objektivität gewonnen – aber der ganze Mensch und das Leben des Denkens wird verloren. Klar, objektiv und abstrakt ist das Denken gerade, weil es die ganze Welt in eine tote Vorstellung verwandelt, in tote Gedanken, die abstrakt und in aller Ruhe durchdacht werden können.
Die Auferstehung des Denkens
Obwohl es in gewisser Weise noch immer der Mensch ist, der denkt, hat der Mensch sein Denken nicht wirklich, denn im Denken ist nicht der ganze Mensch.
Man kann ganz unbeteiligt denken – ohne Beteiligung irgendeines Gefühls, irgendeiner inneren Engagiertheit. So wird das Denken zum notwendigen Übel, zur Routine, zur Phrase – oder umgekehrt (bzw. gleichzeitig) zum Vehikel und Diener der von unten aufsteigenden Gefühle, Triebe, Impulse, Interessen... Wenn das Denken von toter Abstraktheit geprägt ist, wird auch die übrige Welt auf der einen Seite etwas Totes – und auf der anderen Seite der Schauplatz der übrig bleibenden, höchst lebendigen, aber dem leibgebundenen Egoismus entstammenden Impulse. Zu diesen gehört auch die abstrakte, von allem tieferen Menschlichen losgelöste Gier nach Geld, Einfluss und Macht.
In einer solchen Welt leben wir heute.
Menschlich werden kann die Welt erst, wenn das Denken lebendig wird. Und lebendig heißt: durch und durch vom Wesen des Menschen durchdrungen. Der ganze Mensch muss dahin kommen zu denken – das Denken muss etwas werden, was mit vollkommener Bewusstheit und mit größter Willenskraft geschieht!
Was ist unser seelisches, unser vollmenschliches Erleben, wenn wir mit reiner, offener Seele in der freien Natur das tief berührende Geschehen eines Sonnenunterganges erleben? Was ist unser Erleben, wenn wir zum ersten Mal eine bis ins Innerste erschütternde Liebe zu einem anderen Menschen empfinden? Vielleicht kennen wir solche Augenblicke nur noch aus einer ferneren Erinnerung. Und doch wissen wir, welch ungeheures innerliches Erleben mit diesen Augenblicken verbunden war, wie ergriffen und innerlich aktiv unsere Seele in diesem Momenten war.
Diese ungeheure innere Aktivität, dieses wirklich durchdringende innere Dabeisein müssen wir uns erringen, wenn wir denken, wenn wir Gedanken bilden. Wenn wir danach streben, wenn wir dahin kommen, dass wir Begriffe mit einem solchen tiefen Ernst bilden und fassen, dass wir mit einer solchen Verantwortlichkeit und tiefen Engagiertheit in unseren Gedanken leben können, unmittelbar mit unserem ganzen Menschen dabei-seiend, dann erwecken wir das Denken zu einem Leben, das weltenverändernd sein wird. Denn wenn der Mensch in seinem Denken anwesend sein wird – und dies kann man nicht groß genug denken –, so wird dies der Beginn einer Menschwerdung der Welt sein. Denn in diesem vollkommen neuen, lebendigen Denken wird der Mensch beginnen, auch mit seinem ganzen Menschen zu handeln. Von dem, was dieses Denken und Handeln sein werden, machen wir uns heute noch keinen Begriff.
Der Mensch wird offenbar werden – auch in der äußeren Welt, wo er heute nicht gefunden werden kann, wenn man den Begriff des hier Gemeinten tief genug fasst. Denn bevor sich der Mensch in der Welt offenbaren kann – die Welt menschlich machend –, muss er zuerst im Inneren gefunden werden. Ist er im Inneren gefunden, muss er sich in das Denken „ergießen“, wodurch das Denken aus seiner Totheit aufersteht und wirklich alle, alle Abstraktheit verliert.
Was der Mensch dann aussprechen wird, das wird die Seele des anderen Menschen wirklich erreichen. Dann wird Mensch zu Mensch sprechen – nicht mehr Intellekt neben Intellekt. Und dann beginnt die Verwandlung der Welt.
Die Auferstehung des Idealismus als Geist-Realismus
Man kann all dies sagen und mit aller Kraft darum ringen, sich verständlich zu machen – und dennoch nicht verstanden werden. Ein Denken, das noch keinerlei Hauch von Empfindung davon hat, dass es in der heutigen Abstraktheit tot ist, kann sich zum Begreifen des hier Gesagten noch nicht aufschwingen. Eine Seele, die noch nicht erlebt hat, dass sie als eigenständige Entität ein real Existierendes ist, kann noch nicht erfassen, wie sehr von ihr die Rede ist.
Ein Mensch, der noch nicht den starken Willen gefasst hat, sein Denken lebendig zu machen, kann noch nicht ahnen, was dies bedeuten würde – wie schwer dies auch ist und was hiermit errungen wird.
Es ist eine lebendige Wechselwirkung. Um das Denken lebendig zu machen, indem der ganze Mensch, vor allem der real werdende Wille in das Denken einströmt, muss der Mensch sein eigenes Wesen überhaupt erst erleben lernen. Und je mehr er darum ringt, sein Denken zur Auferstehung zu bringen, desto mehr erfährt, erlebt er, was der Mensch eigentlich ist... Und so ist es wie eine (zweite) Geburt – der Mensch muss sich selbst zur Geburt bringen. Der bisher schlafende, träumende Keim der Seele erwacht, und es geschieht eine Geistgeburt.
Das ist es, was uns die Vertreter des Idealismus verkünden, wovon Fichte, Schiller und Novalis sprechen – unverstanden und vergessen. Diese Geistgeburt ist aber nicht möglich, wenn wir unser Bewusstsein auf die äußere Welt richten und uns in Hunderten von Eindrücken und Fragen verlieren, die uns von unserem eigentlichen Sein ablenken. Denn das geschieht fortwährend. Die geistlose Wirklichkeit verwehrt uns fortwährend, zu uns selbst zu kommen. Dies kann nur in den stillen Stunden geschehen, in denen wir wirklich Besinnung auf das tiefste Wesen der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes üben. Die Seele muss zu sich selbst kommen, sie muss sich selbst suchen. Der Geist muss gesucht und erweckt werden.
Nochmals: Die genannten großen Geister haben uns den Weg gewiesen. Unendlich viel findet man dann im Lebenswerk Rudolf Steiners. Der Weg aber muss von jedem Einzelnen selbst real gegangen werden.
Wenn dann die Selbsterkenntnis der Seele, die Geburt des Geistes einmal begonnen hat, dann verlagern sich alle Maßstäbe, das Wesentliche wird sichtbar, und auch das wahrhaft Notwendige. Menschen, die sich in diesem Bewusstsein und in diesem Geiste verbinden, werden Worte sprechen und zu Taten kommen, die die Seele der anderen Menschen berühren wird, weil sie wirklich unmittelbar von Seele zu Seele, von Geist zu Geist gesprochen sind. Der Intellekt muss weichen, die Abstraktheit ihr trockenes Haupt neigen...
Und diese Menschen werden dann nicht weniger aktiv in der Welt sein und nicht weniger konkrete Dinge tun, sondern sie werden mindestens ebenso konkret handeln wie Andere, aber in ihrem Tun wird Kraft liegen, weil in ihren Taten Seele und Geist leben wird. Gegenüber diesen Taten werden andere Menschen ein unmittelbares Erkennen empfinden – und menschliche Impulse werden sich verbinden und zusammenströmen.
Die Mysterienworte unserer Zeit lauten noch immer:
O Mensch, erkenne Dich selbst –
erst dann wird die Welt durch Dich menschlich werden!