01.03.2013

Die eigentliche Katastrophe des Menschen – und die Ursache aller äußeren Katastrophen

Ein Aufruf, sich auf das sich verlierende Wesen des Menschen zu besinnen.


Inhalt
Wo der Mensch heute steht
Verlust der Seele
Mysterium der Liebe
Absolute Realitäten
Das Erwachen der Seele
Annäherung an das Denken
Ergreifen der Willenstätigkeit
Seele und Geist
Das geistige Wesen des Menschen
Die geistige Welt
Wege in die geistige Welt


Wo der Mensch heute steht

Ohne, dass wir es merken, ereignet sich heute eine Katastrophe, größer als alle äußeren denkbaren Katastrophen. Der Mensch ist dabei, seine Seele zu verlieren. Dasjenige, was sein inneres Wesen ausmacht, verkümmert und wird immer mehr zu einem unwahrnehmbaren Nichts. Sein inneres Wesen verliert der Mensch vollkommen – und damit eigentlich alles.

Es ist dem Menschen nahezu überhaupt nicht bewusst, wie ungeheuer stark und fast ausschließlich er inzwischen im „Außen“ lebt – ganz aufgehend in der Wahrnehmung der äußeren Welt, in der denkenden, vorstellungsmäßigen, fühlenden und agierenden Beschäftigung mit der ihn umgebenden ... Außenwelt.

Selbst die Innenwelt ist – wo sie überhaupt noch wahrgenommen und erlebt wird –, von diesem Außen der Sinneswelt erfüllt. Diese Innenwelt, die wirklich eine ganze Welt sein könnte und die das eigentliche, eigene Reich des Menschen, sein eigenes Wesen ausmacht – diese Innenwelt ist ebenfalls vollkommen veräußerlicht, enthält nur Eindrücke von außen, Regungen in Bezug auf das Außen.

So hat sich der Mensch ganz von der äußeren Sinneswelt „aufsaugen“ lassen – und hat buchstäblich nicht einmal mehr eine reale Ahnung von dem, was diese Welt des Inneren eigentlich sein könnte.

Einen Begriff der Seele hat der Mensch nicht mehr. Er hat noch alte, von den Konfessionen überkommene Vorstellungen einer „Seele“, gleichsam als einen vergangenen Mythos, an den Menschen einmal geglaubt haben – und er hat die „moderne“ Vorstellung der Psyche, die in gewisser Weise von ihm abgesondert und teilweise eng an Leibesvorgänge und ungreifbare Regionen des „Unterbewussten“ gebunden, ein Eigenleben führt. Und wie nimmt sich der Mensch wahr? Teilweise als identisch mit dem Leib, teilweise als identisch mit dieser Psyche, teilweise als abhängig von diesen beiden, vom Körper und von den psychischen Prozessen, bisweilen als ihr wehrloser Spielball.

Und selbst da, wo man sich dieser „psychischen“ Vorgänge bewusst ist – zum Beispiel weiß, dass man sich manchmal freut, manchmal traurig ist, manchmal genervt, gestresst etc. –, hat all dies immer unmittelbar mit der Außenwelt zu tun, ist an diese angeknüpft, von ihr ausgelöst, engstens mit ihr verbunden. Der Mensch ist nicht nur Spielball seiner körperlichen und psychischen Prozesse – diese sind vor allem ein Spielball der Außenwelt überhaupt.

Selbst da, wo der Mensch nicht nur reagiert, sondern selbst handelt, ist er engstens auf die Außenwelt bezogen. Möglicherweise macht er sich viele Gedanken, Sorgen, grübelt, denkt nach – auch über sich –, aber immer in Bezug auf Probleme, die mit der Außenwelt zu tun haben. Im Grunde ist es immer die Außenwelt, die für den Menschen präsent ist – selbst im Innersten.

So verliert der Mensch seine Seele. Er wird ein Wesen, das ganz in der Außenwelt aufgeht und mit dieser „zufrieden“ ist – selbst da, wo er mit ihr nicht zufrieden ist und an ihr leidet!

Auch da, wo der Mensch an der Außenwelt leidet, geht er in ihr auf, denn er findet ja nichts anderes. Will er die Außenwelt ändern, so richtet er sein ganzes Augenmerk auf sie und seine Aktionen in ihr. Und selbst da, wo er sich voller Leid und Schmerz von der Außenwelt zurückzieht, kann er ihr nicht entrinnen, denn sein Leid ist ja gerade an diese Außenwelt geknüpft. Mag er sich noch so sehr in ein leidendes Elend zusammenziehen und ihr entfliehen wollen, es ist die Außenwelt, die ihn bis in sein Inneres verfolgt und ihn dort zusammendrückt, auf einen leidenden, grübelnden Punkt, der sich seines wahren Innenwesens gerade in seinem Schmerz ebenfalls absolut nicht bewusst werden kann.

Verlust der Seele

Das bewusste Leben des Menschen in seinem Seelenwesen, als seelisches Wesen, ist nicht vorhanden. Der Mensch verlernt, als seelisches Wesen zu leben. Er wird gelebt. Innerlich hat er kein seelisches Leben, das zuinnerst, frei und bewusst von ihm ausgehen würde. Der Mensch hat in sich keine Welt, keinen freien Atem, kein seelisches Reich, kein weites, tiefes, bewusstes seelisches Erleben, das sein Erleben wäre. Der Mensch hat sich nicht – sich hat er gerade verloren.

Nehmen wir ein trivial erscheinendes, einziges Beispiel – eines, das wiederum noch immer mit der Außenwelt verbunden ist: Welcher Mensch vermag heute noch einen Sonnenuntergang zu erleben? Die meisten Menschen können einen solchen nicht einmal mehr sehen, weil die sinkende Sonne von Gebäuden verdeckt wird, und vielleicht auch, weil man nicht hinschaut. Was aber würde der Mensch erleben, wenn er die am Horizont sinkende Sonne sehen würde? Die Sonne, Spenderin der Wärme und des Lebens, zu einem warm glühenden Orange sich färbend und vielleicht über einem stillen Feld, an einem einsamen Waldrand untergehend?

Wäre der Mensch in der Lage, dieses Geschehen tief in seine Seele aufzunehmen – und in seiner Seele mehr, wesentlich mehr zu erleben als nur ... ein bekanntes Alltagsereignis, das nichts in einem auslöst? Wäre der Mensch noch in der Lage, den tiefen Frieden zu fühlen, der von diesem Geschehen ausgeht? Zu empfinden, dass zugleich mit diesem Sinken der Sonne zugleich ein Tag zuende geht, ein geschenkter, einmaliger, nie wiederkehrender Tag? Dass alles, was in der Natur am Tage sich regte und flog, blühte und wuchs, nun zur Ruhe kommt...? Wäre der Mensch in der Lage, dieses Zur-Ruhe-Kommen in der Natur zu erleben? Und wiederum die Sonne: Würde der Mensch es vermögen, das unendlich Majestätische dieses Geschehens zu empfinden?

Wenn der Mensch dies könnte – eine ganze Welt zu empfinden, innerlich, im Anblick und Erleben der untergehenden Sonne, der ihn umgebenden Natur –, so würde er seelisches Leben haben. Und selbstverständlich wäre er absolut nicht ein Automat oder ein bloßer Spiegel, in dem die äußeren Geschehnisse innere Wirkungen hervorrufen. Ein solches inneres, reales Leben der Seele ist nur möglich, wenn der Mensch seine inneren Seelenkräfte aufruft und lebendig macht. Der Mensch selbst muss heute seine Seele auferwecken – sonst bleibt sie tot, sonst erstirbt sie weiter.

In früheren Jahrhunderten war dies anders. Früher hatten die Menschen noch ein inneres Seelenleben, ein lebendiges seelisches Empfinden. Früher war die Seele mit einem inneren Leben noch begnadet, es war ihr gleichsam noch geschenkt. Es kamen Jahrhunderte, wo dieses Leben natürlich auch abgetötet werden konnte, durch wirkliche Oberflächlichkeit, Hass auf das Leben, übergroße Lebenssorgen und so weiter. Doch im Leben vieler sehr „gewöhnlicher“ und durchaus einfacher Menschen entwickelte die Seele trotzdem noch eine Tiefe und ein inneres Mitleben mit der Welt, das heute oft nicht einmal mehr geahnt wird.

Mehr und mehr ging dies aber verloren. Die Menschheit wuchs hinein in ein Zeitalter, das ein vollkommen entseeltes wurde. Es begann eine Zeit, die nicht nur ohne Gott war – von „Gott“ hört man heute durchaus oft, in welcher Form auch immer –, sondern auch ohne Seele. Zwar ist das Seelische noch immer zu finden, tief drinnen im Menschen, als dunkle Sehnsucht, aber das wirkliche Leben der Seele ist nicht mehr vorhanden.

Früher konnte ein einfacher Mensch beim Schneiden des Brotes eine tiefe Empfindung haben, vielleicht eine warme Dankbarkeit, sei es gegenüber dem Leben selbst, sei es tief religiös gegenüber der göttlichen Welt. Aber selbst ohne diese bewusst empfundene Dankbarkeit hätte sich ein solcher Mensch doch noch innig verbunden fühlen können mit den Lebensvorgängen, denen er letztlich dieses Brot verdankt: Dem Walten der Jahreszeiten, dem Wachsen des Getreides auf dem Feld, den Unbilden der Witterung, schließlich der Ernte der Bauern, der Arbeit des Müllers, des Bäckers... Beim Schneiden des Brotes hat man dies alles empfinden können! Und so war jedes einzelne Tun noch viel stärker von inneren Erlebnissen der Seele begleitet. Die Seele lebte – und sie lebte mit mit dem „äußeren“ Lebensgeschehen.

Dies alles hatte der Mensch noch vor einigen Jahrhunderten – er hatte es noch wie eine Gnade, wie ein geschenktes Erbe. Dieses Erbe aber wurde aufgebraucht. Mit aufgebrauchtem Erbe, mit leeren Händen steht der heutige Mensch der Welt gegenüber. Er erlebt an ihr nichts mehr. Es lebt in ihm nichts mehr. Die Welt hat sich nicht verändert; die Sonne geht noch immer in ihrer vollen majestätischen Schönheit an einem jeden Abend unter, die Natur mit all ihren Wesen kommt noch immer zusammen mit diesem Geschehen zur Ruhe, und ein Friede breitet sich aus. Das Brot ist noch immer den wirkenden Kräften der Natur zu verdanken. Und alle Wunder der Erde geschehen noch immer, Tag für Tag. Doch der Mensch bringt alledem nichts mehr entgegen – er hat von innen heraus nichts mehr zu geben. Und so bemerkt er sie nicht – nicht die Wunder, nicht die eigene Seele...

Mysterium der Liebe

O ja, die Sehnsucht nach dem Seelischen ist noch da. Sie knüpft sich nun noch vor allem an das letzte Refugium: an die Begegnung von Mensch zu Mensch. Dort träumt noch immer der einzelne Mensch von der tiefen Liebe, der tiefen Freundschaft, den wunderbaren Begegnungen mit dem Mitmenschen. Die Welt der Filme ist voll von diesen idealen Lebensbegegnungen. Drehbücher der tiefen Sehnsucht unserer Zeit! Man sehnt sich nach der reinen, tiefen, wahrhaftigen Liebe! Natürlich gibt es bereits unzählige Menschen, in denen sogar dies ganz abgestorben ist. Und doch kann an dem Erfolg entsprechender Filme eines gesehen werden: Die Liebe ist ein Mysterium – das vom Menschen kaum in seinem Wesen erfasst, aber tief gesucht wird. Und dieses Mysterium hat die Kraft, im Menschen noch Gefühle zu entzaubern! Empfindungen, die er vielleicht schon gar nicht mehr für möglich gehalten hätte!

So erweist sich die Liebe als eine ungeheure, rätselhafte Macht. Und es geht hier absolut nicht um irgendeine Art von Sentimentalität, es ist nicht die Rede von Kitsch und phrasenhafter Romantik, es geht um das reale Mysterium der Liebe und seine reale Wirkung, seine reale Bedeutung für die Seele des Menschen. Die Liebe ist eine Realität, ein wirkliches Rätsel – jenseits von allen Verzerrungen, die mit Recht dann andere Bezeichnungen verdienen. Wir sprechen jetzt von derjenigen absoluten Realität, die die Seele eines Menschen bis ins Innerste treffen kann – und bis ins Innerste erwecken kann, auch aus seinem Innersten ausströmen kann, mit einer ungeahnten Stärke, Lebendigkeit, ja ... Heiligkeit.

Hier also, in der Begegnung von Mensch zu Mensch, vor allem in der Begegnung von Mann und Frau, ist ein seelisches Erleben noch lebendig. Zugleich wirkt es hier gleichsam wie eine Naturkraft, auch oft mit der Wucht einer Naturkraft. Und natürlich ist auch die Leiblichkeit daran beteiligt. Dies macht das Mysterium der Liebe, insbesondere der Liebe zwischen Mann und Frau, nicht kleiner, sondern größer. Durchschaut der Mensch, wie hier Leibliches und Seelisches zusammenhängen? Er durchschaut es nicht – eher verwechselt er die Wirkungen fortwährend oder leugnet sogar den einen oder den anderen Anteil.

Aber gerade dieser Bereich, die Liebe zwischen Mann und Frau, und vielleicht noch die engen blutsverwandtschaftlichen Bindungen, die auch wiederum eine Form der Liebe sind, geben dem Menschen die Illusion, dass er noch ein wirkliches Seelenleben hätte. Die starken Gefühle der Zuneigung zwischen Geschwistern oder den eigenen Kindern und Eltern, die Liebe zu einem Mann oder einer Frau, sind unzweifelhaft starke Offenbarungen seelischen Empfindens. Mit Recht kann also jeder Mensch, der solche Empfindungen hat, glauben, er habe eine empfindende Seele. Er hat sie in solchen Momenten. Aber was ist mit dem Rest seines Lebens? Gibt es außerhalb dieser Momente ein Leben der Seele?

Und sind nicht auch diese Momente starker Zuneigung „unausweichlich“? Was trägt der Mensch denn zu ihnen bei? Wird er nicht vielmehr von Liebe erfasst? Oder von der Liebe ... getragen? Was ist denn sein Tun dabei? Ist es nicht vielmehr eine Gnade, dass er überhaupt lieben kann? Dass er Zuneigung empfinden kann? Wäre er auch in der Lage, Zuneigung, Liebe ... aktiv aus sich hervorzubringen? Da, wo sie in ihm nicht schon – ausgelöst wird? Ist diese Kraft, dank der er sich in seiner Seele lebendig fühlt, etwas, was er selbst in sich lebendig machen könnte?

Wenn ein junger Mann sich in ein junges Mädchen verliebt und umgekehrt, so hat der Mensch natürlich das Gefühl, dass die Liebe von ihm ausströmt – und so ist es auch – und dass es wirklich seine Liebe ist, dass er sie hervorbringt. Aber ist das so? Könnte er sie denn je ... nicht hervorbringen? Könnte er dieses über alles geliebte, ersehnte Wesen nicht lieben? Wer also bringt die Liebe hervor? Ist es nicht vielmehr das andere Wesen, das die Liebe zu ihm in uns hervorbringt? Oder ist es vielleicht sogar die Liebe selbst, die sich hervorbringt, ohne dass wir dagegen etwas vermöchten? Das sind Fragen, die der heutige Mensch gar nicht beantworten kann – und er stellt sie noch nicht einmal.

Absolute Realitäten

Und wenn wir einmal nicht auf diese Liebe schauen, die sich in uns so stark auf einen und einige wenige Menschen konzentriert – welche anderen Empfindungen finden wir in uns noch? Und welche von diesen treten nicht nur auf, sondern können von uns stark und kräftig und bewusst hervorgebracht werden?

Oh ja, negative Empfindungen aller Färbung treten leicht und oft auf, sind leicht aufzugreifen, zu verstärken und auch hervorzubringen. Der Mensch kann wunderbar in Antipathie gegen vieles geraten. Gerade in der Abneigung findet er sich selbst. Viele Menschen benötigen die ganz persönliche „Aufregung“ gegen dies und jenes, um sich bestätigt zu fühlen; um sich gegenüber sich selbst zu bestätigen. Auch dies liegt aber begründet in der ungeheuren Armut und Leblosigkeit unseres eigenen Seelenlebens. Der Mensch, der in sich und aus sich heraus keinerlei positive Empfindungen lebendig machen kann, muss sich „auf-regen“, um überhaupt eine innere Regung zu spüren!

Und der Mensch sucht Bestätigung – auch dies, weil er sich nicht selbst finden und tragen kann. Eine positive Empfindung der Seele verbindet die Seele mit ihrer Umgebung. In Bezug auf einen anderen Menschen bedeutet eine positive Empfindung wie Sympathie, Dankbarkeit, Bewunderung oder anderes gleichsam eine wunderbare Anerkennung des Anderen. Doch damit hat man noch keine Anerkennung seiner selbst! Durch negative Gefühle hat man dagegen eine sofortige „Selbst-Anerkennung“, denn man stellt sich in seinem Denken, Urteilen und Fühlen über den Anderen und stößt ihn mit seinen Empfindungen gleichsam von sich. Dies gibt ein unmittelbares starkes Selbstempfinden. Und so haben so gegensätzliche Empfindungen wie Selbstmitleid und Hass auf die Welt das gleiche Motiv, nämlich den inneren Versuch, sich selbst in der Empfindung zu bestätigen.

Der Trieb nach Selbstbestätigung ist also im Menschen sehr stark – und aus ihm heraus kann der Mensch durchaus seelische Regungen hervorbringen (ob allein er es ist, sei noch dahingestellt). Alles, was dem Selbstgefühl des Menschen dient, geht aus seiner Seele sehr leicht hervor. Wäre dies der ganze Mensch, so wäre er in seiner Seele der vollkommene Egoist.

Dann aber würde es gar keine Rolle spielen, ob die Seele tot oder lebendig wäre – denn was wäre eine Seele wert, die nur ein elender, aufgeblähter Sack stinkender, egoistischer Bedürfnisse nach Selbstbestätigung wäre? Eine solche Seele wäre im Weltenganzen ein Nichts, ja weniger als ein Nichts! In früheren Jahrhunderten hat man auch dies noch lebendig empfunden – und das Bild, das ich eben angedeutet habe, ist weit mehr als ein Bild, es ist eine reale Imagination für eine wirkliche Realität im Weltenganzen.

Nun hat der Mensch aber nicht nur seelische Regungen, die sein Selbstgefühl hervorbringen und stärken sollen – er hat auch Empfindungen, die sich auf anderes beziehen, als er es ist. Er hat Empfindungen, die über ihn hinausgehen und die den Impuls oder zumindest die Anlage zur Selbstlosigkeit in sich tragen.

Besinnen wir uns nur einmal auf das Dankbarkeitsgefühl. Dank empfindet die Seele gegenüber etwas, was ihr geschenkt wird; was eigentlich immer etwas ist, was über das hinausgeht, was sie als „verdient“ empfinden könnte. Natürlich kann man auch über eine „verdiente Anerkennung“ dankbar sein. Aber die reine, tiefe Empfindung der Dankbarkeit wird in der Seele lebendig, wenn ihr etwas zuteil wird, was sie nicht schlichtweg erwarten durfte, sondern dem sie wie einem Geschenk, vielleicht sogar einer beschenkenden Gnade gegenübersteht. Wenn man sich in dieses Gefühl der Dankbarkeit vertieft, kann innerlich erlebbar werden, wie dieses Gefühl aus der Seele fortströmt, nach außen – und gerade nicht der Selbstbestätigung dient, sondern die vollkommen entgegengesetzte Bewegung vollzieht. Man fühlt sich eher „unwürdig“, jedenfalls „unverdient gewürdigt“ – und so ist echte Dankbarkeit immer selbstlos.

Oder nehmen wir das Gefühl der Gerechtigkeit. Diese hat eher mit demjenigen zu tun, was jemand „verdient“, was recht, was richtig ist. Das Gerechtigkeits-Empfinden kann nun natürlich sehr persönlich verzerrt sein. Dann würde man jede leise Ungerechtigkeit gegenüber der eigenen Person mit großer Brille wahrnehmen, während man anderes überhaupt nicht bemerkt. Oder es kann sogar sein, dass man für sich selbst weitaus mehr als verdient und gerecht erachtet, als es überhaupt einem wirklichen, wahren Blick entspräche. Vielfach merkt der Mensch gar nicht, dass er jeweils die eigene Person „gleicher als gleich“ behandelt haben möchte. Doch auf der anderen Seite trägt die Seele in sich auch das reine, unverfälschte Gerechtigkeitsempfinden – und hier ist sie wiederum selbstlos.

Wenn zum Beispiel aufgrund einer „Notlüge“ von uns, mit der wir uns aus irgendeiner unangenehmen Situation aus der Affäre ziehen wollten, ein anderer Mensch leiden muss und ungerecht behandelt wird – und sei es nur, dass nun er einer Handlung verdächtigt wird, die man selbst getan hat, so regt sich in der Seele der leise Ruf des „Gewissens“. Es ist nicht wichtig, dass dieses „Gewissen“ vielfach auch mit „internalisierten Normen“ zu tun haben kann und dann nichts anderes als eine äußere Prägung ist. In seiner reinen, tiefsten Form handelt es sich um etwas vollkommen Anderes: Es ist das ur-eigenste Wissen der Seele selbst. Die Seele selbst weiß, was recht und unrecht, was gut und nicht gut ist. Sie weiß es unmittelbar – und sie weiß es sicher. Dieses wirkliche, tiefste, niemals korrumpierbare innerste Wissen der Seele ist immer da. Und wenn sich in der Person etwas anderes geltend macht, etwa der Versuch, eigene Fehler und Mängel zu verdecken und so die Wahrhaftigkeit zu „schänden“ und als Folge vielleicht Unrecht in der Welt zu verursachen, stellt sich jenes reine (Ge-)Wissen diesem anderen Wollen gegenüber...

Und man kann lernen, wieder tief und sehr real zu empfinden, um was es hierbei eigentlich geht! Man kann lernen, die Realität dessen immer tiefer und tiefer zu erleben!

Wenn man sich wirklich in solche Vorstellungen hinein vertieft und sie lebendiger und lebendiger macht, konkreter und konkreter, wird man früher oder später an den Punkt kommen, wo alles, worum es da geht, einen absolut wirklichen Realitätscharakter annimmt. Man erlebt dann, dass die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit Realitäten sind, nicht weniger real (sondern vielleicht sogar mehr real) als der Tisch vor einem. Dann wird die Wahrheit wirklich etwas Wesenhaftes. Sie wird ein Wesen, und es ist dann kein Bild mehr, sondern eine volle (seelisch-geistig erlebte) Realität, dass diese Wahrheit durch die eigenen Taten verletzt werden kann, oder verspottet, zugedeckt, besudelt, geschändet. Dass alle diese Begriffe jeweils sehr differenziert ausdrücken, was wirklich geschieht.

Und mit diesem Erleben wacht die Seele für ihre eigene Heimat auf: die seelisch-geistige Wirklichkeit.

Das Erwachen der Seele

Wenn die Seele für diese Realitäten erwacht, so erwacht sie für eine zweifache Wirklichkeit: Sie erwacht für ihre eigene Wirklichkeit – und für die Wirklichkeit der Geisteswelt. Inmitten dieser neuen Gewahrwerdungen und Erlebnisse erlebt die Seele, dass sie ein reales Wesen ist – und dass sie zugleich gleichsam Schauplatz für Realitäten ist, die sich ihr in ihr offenbaren und doch über sie hinausgehen.

Das Wesen der Wahrheit offenbart sich der Seele, wenn sie tief und rein genug erleben kann. In diesem Erleben weiß die Seele, dass sich ihr eine Realität offenbart, die über sie hinausgeht. Die Wahrheit offenbart sich selbst, sie erstrahlt gleichsam aus ihr selbst heraus und kann von der Seele nicht verfälscht werden – oder es ist eine Verfälschung. Die real erlebte Wahrheit ist (ebenso wie die mathematischen Wahrheiten) etwas, was auch nicht mit seinem kleinsten Anteil dem Belieben der Seele anheimgestellt ist – oder gar ihre Vorstellung oder Illusion wäre. All dies erlebt die Seele mit absoluter Deutlichkeit und damit Gewissheit.

Und so ist es auch mit Anderem, was die Seele empfinden kann, was aber gleichsam aus ganz anderen Sphären der Wirklichkeit zu stammen scheint, aus gleichsam heiligen, ewigen, unantastbaren Gebieten der vollen Wirklichkeit. Die Seele ist wie begnadet, dass sie an dieser Wirklichkeit Anteil haben darf. Dürfte sie es nicht, so wäre sie unfähig, jemals ein Empfinden von Wahrheit oder auch von Gerechtigkeit oder von Schönheit zu haben! Alles, was wesenhaft und tief empfunden werden kann, wäre dann nicht möglich! Dann aber wäre die Seele keine Seele mehr – sie wäre leer, sie wäre nichtig.

Was also ist die Seele? Sie ist wie der Kelch, der das Wesen des Geistigen in sich aufnimmt – und der, indem er es aufnimmt, dieses Geistige empfinden darf, sich aus ihm heraus lebendig fühlen darf. Das Leben der Seele ist ihr Anteilnehmen am Weben und Wesen des Geistes!

Nun aber wendet der Mensch heute sein ganzes Augenmerk der äußeren Welt zu – und verdeckt damit völlig die geistigen Realitäten! Und selbst da, wo er sich einmal innerlich auf sich zurückzieht, steht seine Person im Mittelpunkt seines Vorstellens, Fühlens und Trachtens. Auch hier ist die reine, hohe, ewige Welt des Geistes, von der eben gesprochen worden war, nicht zu finden.

Welcher Mensch vertieft sich einmal in das Wesen der Wahrheit? Welcher Mensch kommt hier zu inneren Erlebnissen? Welcher erlebt hier eine absolute Realität – und wer steht vor dieser Realität dann in anschauender Ehrfurcht? Stattdessen wird heute doch hinter so etwas wie „Wahrheit“ überhaupt nichts Tieferes erlebt. Man benutzt das Wort „Wahrheit“, man weiß, dass etwas Geschehenes geschehen ist, und wenn man es anders schildert, verlässt man die „Wahrheit“ – aber was ist Wahrheit? Das erlebt der heutige Mensch nicht, ihr wirkliches Wesen wird nicht einmal erahnt – und es gehen nicht einmal leise Fragen in diese Richtung.

So hat der Mensch nur noch die Außenwelt und auf der anderen Seite sich selbst als empfundenes Zentrum der „Person“, als einen „Mittelpunkt“, der sich selbst nicht versteht, weil er das Wesen der Seele nicht erlebt – nicht weit und tief und von innen heraus die Realität der Seele und die Realität dessen erlebt, woran die Seele Anteil haben darf.

Und deshalb – weil die Seele sich selbst völlig vergessen hat und der Sinnesblick in voller Selbstvergessenheit nur noch nach außen geht, nur ergänzt durch ein ebenso trügerisches, in die Irre führendes „Selbstempfinden“ –, deshalb verdorrt die Seele, wird immer dünner und luftiger. Deshalb kann der Mensch immer weniger empfinden, deshalb hat er keine reiche, keine tiefe, keine weite Seele mehr – sondern eigentlich überhaupt keine Seele mehr. Das, was aus dem Selbstbezug der Person an Empfindungen hervorgehen kann, ist eben selbstbezogen. Wir kennen den Umfang der hier möglichen Gefühle sehr genau – sie sind armselig, und sie machen die Seele (das, was von ihr übrig ist) zu einem lächerlichen, kleinen Spielball ihrer Selbstsucht. Der einzige Ausweg ist dann die Erweiterung in die Außenwelt, die Sinnensucht, die Sucht nach Sensationen, nach Sinnlichkeit...

Aber die Seele hat tief in sich doch noch eine andere, wirkliche Sehnsucht. Und im Grunde spürt sie, dass alles bloß Sinnliche und alles bloß Selbstbezügliche, Selbstsüchtige leer und nichtig wird. In beiden „Welten“ ist, je länger die Seele nur in ihnen kreist, nichts Befriedigendes zu finden, denn in beiden Welten liegt kein Sinn – und damit nichts wirklich und dauerhaft Erfüllendes. Das Sinnliche entbehrt den Sinn gerade... Der Sinn findet sich erst, wenn sich die äußeren Sinne vorübergehend schließen, damit der Mensch wirklich nach innen schauen und erleben lernt...

Und in dem, was die Seele hier in der Welt ihres eigenen Wesens findet – in der sich immer mehr weitenden und vertiefenden Welt eines erhabenen inneren Erlebens –, in dem, woran die Seele Anteil haben darf, was sie empfinden und anschauen darf, ohne dass es ihr je selbstisch gehören könnte – in dieser Welt findet die Seele ihre wahre Heimat. Denn was ist das Erleben tiefer sinnhafter Erfüllung anderes als die reale Ahnung, dass dies die eigentliche Heimat, der eigentliche Ursprung der Seele sein muss? Die reale Anschauung geistiger Realitäten: der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Schönheit, der Treue, des Mutes, der Ehrfurcht ... die reale Berührung durch diese, das reale Durchdrungenwerden von diesen Realitäten, ist etwas, was die Seele erschüttert. Sie fühlt sich erhoben und geheiligt, sie fühlt sich begnadet.

Das Real-Geistige zu erleben, weil die Seele in dessen Sphäre eintauchen darf, empfindet die Seele als Momente des Heiligen, denn das Geistige selbst ist das Heilige – und in dem Moment, in dem die Seele an ihm Anteil haben darf, wird auch sie in die Sphäre des Heiligen erhoben. Und heilig wird die Seele da, wo sie sich mit diesem Real-Geistigen wesenhaft durchdringen kann, nicht nur für Momente, sondern dauerhaft. Dann wird die Seele bis in ihr Wesen hinein verwandelt, sie macht sich dem Geist ähnlich, sie gewinnt Anteil am Ewigen...

Annäherung an das Denken

Auf diese Weise findet die Seele den Weg zum Geist. Sie wacht auf für die Realität ihrer selbst und findet dann die Realität des Geistes. Parallel aber ist ein zweiter Weg möglich und notwendig.

Die Realität dessen, was wir Wahrheit nennen, Gerechtigkeit nennen, wird in einem immer mehr vertieften Erleben dieser Realitäten errungen. Sie werden gleichsam von innen erlebt. Sie werden nicht mehr abstrakt gedacht und vorgestellt, sondern sie offenbaren sich als wirkliche Realitäten. Der Übergang von der Abstraktion zu einem realen Erleben ist ein allmählicher. Und er ist nur durch einen bestimmten Schritt möglich.

Wodurch weiß die Seele, was Gerechtigkeit, was Wahrheit ist? Das gewöhnliche Bewusstsein weiß es nur absolut abstrakt – aber woher dies? Was ist der „Ort“ in uns, wo wir wissen, was Wahrheit, was Gerechtigkeit, was Mut, was Ehrfurcht ist? Wo ist das Tor in uns, das nicht nur (oder vielleicht zunächst überhaupt nicht) fähig ist, etwas vom Wesen dieser Realitäten zu erleben, sondern ... sie überhaupt als solche zu erkennen? Was in uns erkennt das eine und das andere; was in uns unterscheidet die Dinge?

Das Denken ist dasjenige Organ, derjenige innere Sinn, der erkennt. Ohne das Denken als innere, ureigenste Fähigkeit des Menschen würde nichts erkannt, nichts unterschieden werden.

Nun ist es wesentlich, zu bemerken, dass dies überhaupt eine aktive Fähigkeit ist. Der heutige Mensch, der auch hier vollkommen selbstvergessen ist, lebt ganz unbewusst für das Wesen des Denkens. Durch das Denken ist er ein bewusstes Wesen, aber für das Denken – für das, was er hier eigentlich tut –, schläft der Mensch fortwährend. Der Mensch lebt alltäglich das Leben, er unterscheidet erkennend die Dinge – aber er wird sich dieses Vorganges nicht bewusst. Und so verschläft er, dass dies eigentlich fortwährend ein aktiver innerer Vorgang ist – und dass es aber aufgrund der Bewusstlosigkeit für diesen Vorgang dennoch zunächst ganz passiv geschieht.

Es wäre ein Geschehen von unendlicher Bedeutung, wenn der Mensch bewusst erfassen und ergreifen würde, was er fortwährend nicht bewusst, sondern gleichsam automatisch tut, wenn er denkt! Das Ergreifen des Denkens von innen und die immer weitergehende Vertiefung dieses Prozesses – und des Erlebens dieses Prozesses, der damit verbundenen eigenen Tätigkeit – wäre selbst ein Prozess, eine Tätigkeit, von deren wahrer Bedeutung der Mensch zuvor nicht einmal eine Ahnung hat. 

Der Mensch kann seine Tätigkeit des Denkens mit Bewusstsein durchdringen – und damit nicht nur allmählich erkennen, was er tut, sondern zunächst und vor allem dieses Tun zu einer wirklich aktiven Tätigkeit machen. Dasjenige Denken, was bisher ein „aktives“ genannt wurde, verblasst hinter dem, was hier mit aktiver Tätigkeit gemeint ist, zu etwas vollkommen Passivem.

Ergreifen der Willenstätigkeit

Der Mensch hat verschiedene Gedankenassoziationen. Gedanken „ziehen ihm durch den Kopf“, Vorstellungen folgen aufeinander, ohne dass der Mensch etwas dazu tut, sie „kommen ihm in den Sinn“. Daneben gibt es bewusstere, aktivere Gedanken. Der Mensch denkt nach, überlegt, plant, kalkuliert, berechnet. All dies ist ein aktives Denken. Doch es ist in dem Sinne absolut passiv und automatisch, als der Mensch sich selbst dabei völlig „vergisst“. In all diesen Vorgängen ist die Aufmerksamkeit nur auf die Inhalte des Denkens gerichtet. Kein einziger Funke von Aufmerksamkeit richtet sich auf den vollzogenen Prozess, auf die Tatsache, dass all dies eigene Tätigkeit ist.

Würde der Mensch seine volle Aufmerksamkeit auf seine Denk-Tätigkeit richten, so hätte dies eine völlige Umwälzung der Verhältnisse zur Folge. Zum ersten Mal wäre sein „Blick“ nicht nach außen gerichtet (wobei damit auch alle Denkinhalte gemeint sind), sondern nach innen. Der Mensch würde den Quell, aus dem die Inhalte fortwährend hervorgehen, nicht vergessen, sondern gerade erfassen. Wer aber ist dieser Quell? – Der Mensch ist es selbst! Er kann erleben, wie er das Denken fortwährend hervorbringt. Immer näher kann er dem Quell der Gedanken kommen, immer näher kann er in den Blick nehmen, wie diese Gedanken eigentlich entspringen, immer stärker kann er das Denken „in statu nascendi“, im Moment seines Entstehens ergreifen – seine eigene Denktätigkeit.

Die Quelle der Gedanken entzieht sich dem suchenden Blick – wie das Wasser, das sofort fortsprudelt und auch im ersten Moment schon ja bereits aus der Quelle hervorgegangen ist, also schon gar nicht mehr die Quelle selbst ist. Der Mensch sucht die Quelle seiner Gedanken in seinem Denken, aber er kann mit nichts anderem suchen als mit dem Denken selbst – das suchende Denken ist aber bereits hervorgegangenes Denken, er muss der Quelle noch näher kommen... Der Mensch muss wirklich zum Ergreifen seiner eigenen Willenstätigkeit im Denken kommen. Wenn er seine Willensentfaltung bewusst ergreift und verstärkt, so hat der Mensch jenen Punkt erreicht, an dem er die Quelle des Denkens finden kann, denn der Wille selbst ist die Quelle.

Ohne die aktive Willenstätigkeit im Denken würde kein Denken hervorgebracht werden. Der Wille ist die Quelle des Denkens, der Denkwille bringt die Gedanken hervor. Der Mensch muss diesen ureigenen, innersten Denkwillen ergreifen. Er kann ihn auch erkennend ergreifen und schließlich wirklich anschauen, wenn er ihn zunächst tätig ergreift, das heißt, immer stärker macht. Das Denken verstärken, den im Denken wirkenden Willen verstärken – das ist der Weg, wie der Mensch sein Denken allmählich ganz in die Hand nehmen, bis in seinen Quell hinein erfassen und zu etwas vollkommen eigenem, ganz und gar Menschlichem machen kann.

Indem aber der Mensch sein Denken ergreift und in seinem Wesen erfasst, erkennt der Mensch zugleich sein eigenes, wahres Wesen – und dies ist eine Offenbarung.

Zunächst kann man dasjenige, worauf hier hingedeutet wird, verstehen – aber damit ist es noch nicht verwirklicht. Dies ist nur möglich, wenn es innerlich auch wirklich getan wird. Man kann die Verwirklichung der hier beschriebenen realen inneren Tätigkeit zunächst in Momenten der energischen inneren Übung erstreben. Aber der Mensch kann sich bewusst werden, dass er berufen ist, diese Realität fortwährend innerlich wahrzumachen; diese innere Aktivität, durch die alles verwandelt wird, fortwährend zu entfalten. Das ist die Berufung des Menschen – denn hier beginnt er erst, sein eigenes volles, wahres Wesen zu verwirklichen. Stufe um Stufe...

Das also müssen wir uns immer wieder klarmachen: Das ein Verstehen der hier beschriebenen Realitäten zwar eine reale Vorbedingung für alles Folgende ist, dass aber damit allein noch kein einziger realer innerer Schritt gemacht worden ist. Das Beschriebene muss innerlich getan werden, wenn es für einen selbst zu einer inneren Realität werden soll. Das bloß Verstandene gaukelt die Realität bloß vor – so wie der „Kunstverständige“ glauben kann, auch ein Künstler zu sein; der Moralist glaubt, moralisch zu sein; der bloße Theologe glauben kann, religiös zu sein. Das Wissen von höheren Realitäten ist noch kein Verwirklichen dieser im eigenen Wesen... Der Verstand ist ein Träger von Wissen, doch nur der ganze Mensch in seiner inneren Aktivität des Denkens, Fühlens, Wollens, in seinem ganzen Sein, kann ein Verwirklicher dessen werden, was in dem Wissen nur „beschrieben“ wird.

Seele und Geist

Wird der Mensch aber innerlich aktiv und ringt darum, das, was hier angedeutet wird, zu verwirklichen, so ergreift er damit zugleich sein eigenes Wesen. Der Mensch ergreift sich selbst von innen – und beginnt damit eigentlich erst, sein wirkliches Wesen zu realisieren, im zweifachen Sinne der Bedeutung: Er beginnt, sein eigentliches Wesen zu verwirklichen, und er beginnt, sein Wesen in dieser Verwirklichung zu erkennen.

Beide hier angedeuteten Wege führen den Menschen zu sich selbst – und schließen sich eigentlich zu einem Weg zusammen. Die Vertiefung der Seele ist nicht möglich ohne eine Wiedererringung des seelischen Empfindens überhaupt – und ein lebendiges seelisches Empfinden kann auf sicherstem Wege dadurch wiedergefunden werden, dass das Denken lebendig gemacht wird.

Das Ergreifen der Willenstätigkeit im Denken ist der Beginn einer Auferstehung des Denkens. Das von Willen durchdrungene Denken kann sich zu einem intensiven, starken Denken jener Begriffe aufschwingen, die wir zuvor berührten: zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zum Mut, zur Ehrfurcht... Werden diese Begriffe zunächst einmal so stark wie möglich gedacht und vertieft sich das willens-regsame Denken in ihr Wesen, so werden sie durch das lebendige Erleben im Denken allmählich von selbst immer wesenhafter. Sie offenbaren sich als Welt-Wirklichkeiten! Bloße „Begriffe“ sind sie nur für den noch abstrakten Verstand. Das willensstarke Denken stößt zu Realitäten durch – und alles Abstrakte fällt Schritt für Schritt ab wie eine tote, durchsichtig werdende Haut...

Ist aber über den Strom der Denktätigkeit die Realität dieser geistigen Welt gefunden, so kann auch die Seele empfindend, erlebend und anschauend vor diese Welt treten. Und im Erleben wird sie von selbst immer tiefer werden, schließlich auch immer religiöser werden...

Gelingt es dagegen, zuerst das Empfinden der Seele tiefer und lebendiger werden zu lassen, so geht auch damit unbemerkt bereits das erste zarte Lebendigwerden des Denkens einher, denn jede Erkenntnis ist zunächst immer auch ein Tätigwerden des Denkens. Wird zum Beispiel das Wesen der Gerechtigkeit tief empfunden und erlebt, so sind hier Fühlen und Denken intensiv vereint. Es ist ein Erkennen, in dem der ganze Mensch beteiligt ist, nicht nur der Verstand. Das denkende und das fühlende Erkennen verbinden sich miteinander, und gerade dies gibt die tiefe Erkenntnis, das tiefe Erleben. Ein Denken durchdringt das Fühlen, ein Fühlen durchdringt das Denken. Die Fähigkeiten des Erkennens, Empfindens, Erlebens durchdringen sich, der ganze Mensch wird aktiv – der ganze Mensch wird ein umfassend Erkennender. Und es offenbart sich ihm mehr und mehr die ganze Wirklichkeit.

Die zwei Wege des Zuganges zu dieser höheren, geistigen Welt offenbaren immer mehr, dass der Mensch ein dreifältiges Wesen ist. Neben seinem Leib, der ihm die Wahrnehmung der sinnlichen Außenwelt ermöglicht, hat er nicht nur eine Seele – sondern kann sich selbst auch immer mehr als ein geistiges Wesen erkennen!

Die Seele des Menschen kann im anschauenden, erlebenden Sich-Versenken in die Realitäten, die sie immer mehr wahrnehmen lernt, tief und weit werden. Sie kann verbunden damit eine immer stärkere Sehnsucht nach dem Geist empfinden, immer selbstloser werden, sich dem, was sie als Geistiges erlebt, immer mehr hingeben und sich diesem Geistigen immer ähnlicher machen. Dies ist die Heiligung der Seele, ihre Selbsterziehung und Läuterung – ein Weg, den sie aus eigenem Willen und Entschluss betritt.

Doch der Mensch ist auch ein Erkennender, und er kann sich in allen seinen inneren Taten klar bewusst sein. Mit vollem Bewusstsein kann er sein Denken ergreifen, es vertiefen und erziehen – und im Weiteren kann er auch sein Fühlen und seinen Willen ganz in die eigene Hand bekommen. Wer tut dies? Es ist derjenige innere Kern unserer Wesenheit, der in der Lage ist, die Seele zu erziehen und die Läuterung in die Hand zu nehmen und zu vollbringen. Es ist diejenige Instanz, die alles in dieser Selbsterziehung führt und leitet, erkraftet und vollbringt. Es ist das „Ich“ als wirklicher Wesenskern.

Dieses Ich kann lernen, sich selbst immer bewusster zu ergreifen. Sich immer bewusster zu werden, wie es alles tut, was eine wirkliche innere Aktivität ist. Es ist gleichsam das Zentrum der Seele – und zugleich diejenige Instanz, die die Seele führt und erzieht. Und immer mehr kann der Mensch sich bewusst werden, dass er hier, an diesem Punkt, wirklich zu einem ersten, anfänglichen Erfassen seines eigenen, ewigen Wesens kommt.

Das geistige Wesen des Menschen

Zutiefst ist der Mensch mit den höheren geistigen Realitäten verbunden. Wenn der Mensch im Denken aufersteht, mit kräftigem Willensimpuls im Denken und in dem höheren Erleben, das aus diesem lebendig werdenden Denken hervorgeht, diese geistigen Realitäten ergreift, befindet er sich mitten unter ihnen, ist nicht verschieden von ihnen. Das Denken, das durch den Einschlag des vom Ich geführten Willen eine volle Realität wird, ist selbst etwas Geistiges. Das Erkennen wird mehr als nur „Erkennen“, es wird zu einem Geschehen. Der erkennende Mensch verwandelt sich als geistige Instanz innig in das, was er erkennt. Das Ich als Wesenskern des Menschen, wenn es etwa das Wesen der Gerechtigkeit erkennt, in voller Lebendigkeit und innerlicher Durchdringung, wird selbst dieses Wesen – es wird eins mit der Gerechtigkeit ... und gerade dadurch erkennt es. Es erkennt durch eine innige Selbstverwandlung in das Erkannte...

Auf diese Weise erlebt das Ich, das seinem Erkennen nichts verschlossen ist. Vom Wesen her ist das Ich dazu fähig, sich in alles zu verwandeln und es so zu erkennen. Erkenntnisgrenzen gibt es nur da, wo das Ich die Fähigkeit des eigenen inneren Werdens und der eigenen inneren Verwandlungsfähigkeit noch nicht errungen hat. Diese Grenzen sind aber nie absolut – es sind relative Grenzen, und sie hängen nur von dem inneren Streben und der inneren Entwicklung des Ich ab. Doch im Keim hat das Ich alle Erkenntnis bereits in sich. Denn sonst wüsste es gar nicht, in welche Richtung es sich entwickeln muss, um ganz in das zu Erkennende einzudringen. Es kann dieses „Wissen“ in sich aber finden.

Selbst der ungerechte Mensch hat tief in sich ein Wissen um das wirkliche, reale Wesen der Gerechtigkeit – und so weiß er tief innerlich, wie er werden müsste, um das Wesen der Gerechtigkeit voll zu erfassen. Das bedeutet aber: Im Grunde trägt auch er das ganze Wesen der Gerechtigkeit in sich. Er kennt es im tiefsten Inneren seines Wesens durch und durch. Das aber heißt: Es ist ein Teil von ihm. Der Mensch trägt alles in sich! Den ganzen Kosmos, alles, was jemals erkannt werden könnte. Der Mensch selbst ist ein Mikrokosmos! Nichts ist außerhalb des Menschen, was nicht auch im Menschen ist – wäre es anders, er könnte dasjenige, was nicht in ihm ist, niemals erkennen.

Doch die entscheidende Frage ist: Was tut dieses geistige Wesen, das der Mensch ist und das alles in seinem eigenen Wesen wiederfinden kann? Was von alledem verwirklicht es? Was von allem macht es in seinem eigenen Wesen zu einer Wirklichkeit – was macht es zu seinem ureigenen Wesen? Was wird der Mensch? Und was wird er nicht – was lässt er unverwirklicht? Was lässt der Mensch außerhalb seines Wesens, obwohl es sein eigenes Wesen werden könnte?

Alles kann der Mensch erkennen, alles bis hin zum höchsten Göttlichen! Doch die Frage ist: Entschließt sich der Mensch, diesen inneren Entwicklungsweg zu gehen oder nicht? Und auf dem Weg ... wozu entschließt sich der Mensch dann? Welche Wege geht er erkennend – und welche Wege geht er so, dass er das Erkannte innig und ganz mit seinem eigenen Wesen vereinigen will, dass er sein eigenes Wesen innig mit dem Erkannten vereinigen will? Welche Realitäten will der Mensch ganz mit sich wesenseins machen? Die Gerechtigkeit? Die Wahrheit? Die Ehrfurcht? Den Mut? Und welche lebendigen Ströme und Wirklichkeiten der göttlichen Welt möchte der Mensch noch erkennen und in seinem eigenen Wesen als realen Teil seines Wesens verwirklichen?

Dies sind die erschütternden Fragen, vor denen das Ich steht, wenn es sich als ewige Individualität zu erkennen beginnt.

Die geistige Welt

Wenn der Mensch sich als geistiges Wesen erkennt und ergreift, steht er ... am Anfang. Er hat den allerwichtigsten inneren Schritt getan, den er tun kann: den Schritt in die volle Realität der Selbsterkenntnis und der damit verbundenen Verwirklichung des eigenen Wesens. Aber mit diesem Schritt steht ihm die Erkenntnis einer ganz neuen Welt erst bevor. Erst jetzt kann sich vor ihm wirklich die geistige Welt öffnen – die Wirklichkeit der geistigen, höheren Welten kann er jetzt erst erleben lernen. Der entscheidende, ungeheure erste Schritt, der den Menschen bis hierhin geführt hat, war wiederum nur ein erster Schritt.

Der Mensch als reales Geistwesen, als ewige Individualität, die sich in einem Erdenleib inkarniert, aber kein materiell-leibliches Wesen ist, ist nicht ein einsames Wesen im Kosmos. Schon da, wo der Mensch lernt, so etwas wie die Gerechtigkeit als ein wirklich Wesenhaftes zu erleben, ist er in ein ganz anderes Verhältnis zur vollen Wirklichkeit versetzt. Schon da kann er ahnen, dass die geistige Welt eine Unendlichkeit beinhaltet, ein Unendliches an Wesenhaftigkeit, an wirklichen Wesenheiten.

Wie kann es auch anders sein, wenn man sich diese Realität – dass der Mensch ein ewiges, geistiges Wesen ist – wirklich deutlich macht? Dann muss auch die ganze Menschheitsentwicklung anders gedacht werden, als sie der materialistische Blick heute auffasst. Und sie kann anders gedacht und angeschaut werden. Dann ist die sinnlich-materiell vorzufindende Evolution die eine Linie der Entwicklung, doch ihr gegenüber steht, parallel verlaufend, eine geistige Linie. Das, was der äußeren Forschung heute zugänglich ist, zeigt als fossil sichtbare Evolution die Entwicklung der Leibesformen. Diese Evolution war jedoch begleitet und geführt von einem geistigen Geschehen – an dessen Ende das geistige Wesen des Menschen sich immer mehr in den entstandenen Leibesformen inkarnieren konnte. Doch als geistiges Wesen war der Mensch von Urbeginn an mit der Erdenentwicklung verbunden.

All dies beschreibt in voller Klarheit derjenige Mensch, der sich bis in die volle Wirklichkeit der geistigen Welten erheben konnte: Rudolf Steiner, der mit seinem Lebenswerk die Anthroposophie begründete. Und er beschreibt noch mehr. Die Erdenentwicklung wurde geführt, gestaltet und bewirkt von Geistwesen, die in einem hierarchischen Zusammenklang alles gestalteten und geschehen ließen, was die Wirklichkeit wurde. Der Begriff „Schöpfung“ gewinnt hier eine unendlich konkrete und differenzierte Bedeutung. Die „Schöpfung“, die Wirklichkeit der Erdenentwicklung und schließlich und endlich auch die tieferen Hintergründe der Menschheitsentwicklung werden hier bis ins Einzelne hinein geschildert.

Steht man vor dem ungeheuer differenzierten und klaren Zusammenhang dessen, was der Erforscher der geistigen Welt, Rudolf Steiner, beschreibt, so wird es lächerlich, dies aus eigener Bequemlichkeit, aus eigenem Stolz und Hochmut, aus eigener Erkenntnisschwäche und materialistischen Gesinntheit als „Unsinn“ abzutun. Eher muss man sich sagen: Ich als Mensch bin kaum so weit, mich selbst in meinem wahren Wesen zu erfassen – und hier werden noch viel weitreichendere Realitäten geschildert! Die Art, in der Rudolf Steiner dies tut, kann nämlich bei wirklicher Unbefangenheit nur das größte Staunen hervorrufen – ein ehrliches Staunen über die Reinheit seiner Schilderungen, die völlige Selbstlosigkeit und das absolute Fehlen irgendeiner „Mystik“ oder geheimnisvoll „esoterischen“ Haltung. So entsteht Vertrauen: durch unbefangenes Anschauen und Aufnehmen dessen, was beschrieben wird. Der Zusammenhang der Dinge, die Rudolf Steiner über zwanzig und mehr Jahre hinweg schildert, wirkt ebenso. Das Geschilderte stützt sich überall gegenseitig, es gibt keine bleibenden Widersprüche, wohl Ergänzungen, Erweiterungen – aber immer mehr kann sich das Erleben verdichten, dass es hier immer und immer wieder um die geistige Wirklichkeit geht.

Wege in die geistige Welt

Rudolf Steiner hat auch auf vielfältigste Weise beschrieben, wie sich der Mensch zum Erleben dieser geistigen Wirklichkeiten erheben kann; was er innerlich tun muss, um die notwendigen Erkenntnisfähigkeiten zu entwickeln. Es dürfte deutlich sein, dass dies sehr weit in die Entwicklung des Menschen überhaupt eingreift. Ein Materialist sieht die Schönheit eines Tautropfens nicht. Er müsste zuerst sein Denken, ja sein Wesen ändern, um diese Schönheit zu sehen. In Bezug auf die geistige Welt und schon in Bezug auf unser eigenes wahres Wesen sind wir in der heutigen Zeit alle Materialisten. In der Menschheitsentwicklung musste einmal ein Zustand des umfassenden „Materialismus“ des menschlichen Bewusstseins durchgemacht werden – und wir leben heute noch ganz in dieser Epoche.

Die hier beschriebene Erkenntnis ist möglich – doch dafür muss der Mensch, der in eine so ungeheure Selbst-Vergessenheit gesunken ist, hart und energisch an sich arbeiten. Er muss sich aus der Dumpfheit seiner bloßen Sinnesverhaftung herausarbeiten, muss sozusagen die Entwicklung von Jahrhunderten wieder aufheben, aus eigener innerer Kraft. Wohlgemerkt: Diese Jahrhunderte hatten einen tieferen Sinn. Sie brachten nicht nur die Verdunkelung des realen Geistes, sie brachten auch eine ganz neue Bewusstseinsklarheit. Diese allerdings liegt ganz in dem abstrakten Verstand. Um die Realität der geistigen Welten zu finden, muss diese Klarheit bewahrt, die tote Abstraktion des Verstandes aber überwunden werden. Der Mensch muss mit dieser im Verstand errungenen Klarheit zu einem bewussten Erleben und Leben im Geiste kommen. Dies ist die Auferstehung der vollen, der wahren Erkenntniskraft des Menschen...

Die Wege dahin hat Rudolf Steiner beschrieben. Sie mögen noch so weit sein – es sollte den Menschen kein Hindernis davon abhalten, sie zu betreten, denn er findet sein eigenes Ziel erst auf diesen Wegen. Dies vor allem muss sich der Mensch immer wieder klarmachen: Dass sein Menschsein seiner vollen Verwirklichung harrt, dass sein volles Menschsein überhaupt erst in der Zukunft liegt – und das Menschentum überhaupt erst anfänglich begriffen ist...

Auch an dem Widerstand, diese innere Entwicklung in die Hand zu nehmen, kann der Mensch erkennen, wie sehr er in das Sinnliche und Materielle hinabgesunken ist. Selbst da, wo er bereits ahnen, wissen, ja, erleben kann, dass sein eigentliches Wesen geistig ist, ist er doch mit dem Sinnlich-Materiellen und seiner eigenen Leiblichkeit so verhaftet, dass die Widerstände gegen jegliche innere Entwicklung immens sind. Immer wieder kann der Mensch sich sagen: Wozu? Ich habe mein bisheriges Leben, das reicht mir. Es hat mir bisher genügt – und es genügt mir künftig. Ich werde auf dem geistigen Wege innerer Verwandlung ohnehin nichts erreichen. Und er ist mir auch zu anstrengend...

All dies kann der Mensch sich sagen – und er sagt es sich auch, ob bewusst oder unbewusst. Wann immer die innere Entwicklung an Hindernisse stößt oder gar nicht erst begonnen wird, sind dies in etwa die inneren Worte, die der Mensch zu sich spricht. Und so bleibt er, wie er ist.

Niemand kann zu dieser inneren Entwicklung gezwungen werden. Es ist die Freiheitstat jedes Einzelnen, das wahre Menschentum zu verwirklichen – und wahrhaft individuell Mensch zu werden. Nur eines müssen wir uns klar vor Augen halten und immer tiefer erleben: Wenn der Mensch so bleibt, wie er ist, geht er in die absolute Dekadenz hinein.

Unser Verstand denkt die Dinge statisch – aber sie sind, so oder so, in jedem Fall in Entwicklung. Die Entwicklung des menschlichen Verstandes bis heute führte den Menschen tief in den Materialismus und in die Materie hinein – selbst da, wo es heute wieder um „Esoterik“ geht. Die Menschheit ist in einer Entwicklung, und diese geht, wenn sie so weiterrollt wie bisher, keineswegs in Richtung einer plötzlichen „Spiritualisierung“, sondern immer weiter in die Materialisierung. Noch immer weiter wird der Mensch sich verlieren – so weit, bis er innerlich gar nichts mehr hat, das er ergreifen und wieder dem Geistigen zuwenden kann. Vor dieser Gefahr stehen wir heute.

Die Menschheit ist in der Gefahr unterzugehen. Die äußeren Katastrophen werden furchtbar sein, wenn die Entwicklung so fortrollt wie bisher. Aber sie werden nur eine Folge der inneren Katastrophe sein, denn in jedem einzelnen Menschen geht die Mensch-heit unter: das Menschentum, das wahre Wesen des Menschen. Wir verlieren es, immer mehr...

Darum kann es angesichts der noch kommenden Katastrophen, die in ihrer Bedeutung heute noch immer kaum erkannt werden, nur einen einzigen Ruf geben, der mit vollem Ernst und in seiner ganzen Schwere in die Welt gesandt wird:

O Mensch, erkenne Dich selbst – ehe es zu spät ist!