15.04.2013

Annäherungen an das Wesen des Menschen und die geistig-göttliche Welt

Ein Versuch, der Realität des Geistigen näherzukommen.


Inhalt
Die notwendige Seelenstimmung
Über die nicht-sinnliche Forschung
Annäherung an „das Gute“ | Was ist das Gute? | Was lebt in der Seele? | Weitere Annäherung an „das Gute“
Das Wesen der Liebe | Annäherungen an die Realität des Christus-Wesens | Das keltisch-irische Christentum: Erkenntnis des Auferstandenen
Die Gegenmacht des Zweifels
Negative Gefühle | Gefühle und die Frage der Freiheit | Die Frage nach Ursprung und Sinn negativer Gefühle
Die verlorene Frage heutiger Wissenschaft | Der Mensch und das Wesen einer Farbe | Naturwissenschaft, Psychologie und die Gefühle
Das Meer der Gefühle – und der Mensch
Auf dem Weg in die Freiheit
Das Reich der Hindernisse | Das Erleben der Widersachermächte
Freiheit und Liebe | Der sanft leuchtende Pfad


Die notwendige Seelenstimmung

Der Sinn dieses Aufsatzes ist es, den Menschen tiefer verstehen zu lernen und das reale Menschliche durch Erkenntnis zu vertiefen. Gemeint ist dabei eine Erkenntnis, die nicht zu abstraktem Wissen erstarrt, sondern die den ganzen Menschen durchdringen, beleben, beseelen kann – die das Gefühl vertiefen und den eigenen Willen erwärmen kann.

Nur derjenige Mensch wird sich eine solche Erkenntnis erringen wollen, der eine Sehnsucht nach einer solchen Vertiefung empfinden kann. Doch diese Sehnsucht lebt in jeder Seele in einer tiefen Schicht, oft ganz verborgen, aber dennoch da. Man kann sich ihrer bewusst(er) werden, wenn man etwas liest, was im Grunde diese Sehnsucht als (verborgenen) Inhalt hat. Man lese einmal den „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry. Im Lesen wird langsam die Hektik des Alltags aufgelöst, und der Mensch wird mit seiner Seele, seinen Gedanken, seinen Kräften der Aufmerksamkeit mitgenommen in eine Sphäre, die eigentlich ganz auf das Wesentliche ausgeht, die in das Kontemplative, in eine Besinnung hineinführt.

Erst in dieser Sphäre und in diesem „Zustand“ bzw. dieser Stimmung der Seele bekommen die Fragen nach dem Menschen Relevanz – denn erst hier hören sie auf, bloß intellektuell zu sein.

Allzuoft werden Fragen nach dem Menschenbild nicht weniger oberflächlich gestellt, als es unserer übriger Alltag ist. Man hat ein Menschenbild, ein Ideal, eine Weltanschauung, eine Ansicht – aber all dies vertieft sich nicht, ist vor allem im gegenwärtigen Moment z.B. einer Diskussion nicht vertieft anwesend, sondern bleibt vor allem im Kopf. Dann sitzen vielleicht Menschen in einer Runde und geraten in eine „erhitzte“ Diskussion, diskutieren sich buchstäblich „die Köpfe heiß“ – und das Menschenbild besteht in bloßen Gedanken, über die sich erregt und gestritten wird.

Wirkliche spirituelle Erkenntnis bedeutet, über diese immer wieder in die Abstraktion geratende, intellektuelle „Kopfsphäre“ einerseits hinauszukommen, sich wirklich in eine Sphäre der Wahrheit zu erheben – in jene Sphäre, in der das Geistige real anwesend ist und in der nicht gestritten zu werden braucht und auch nicht gestritten werden kann, weil man sich dann selbst gegen die Wahrheit stellen würde. Andererseits muss man ebenso sehr unter diese „Kopfsphäre“ hinunterkommen. Die realen geistigen Erkenntnisse verbinden sich mit dem ganzen Menschen: mit der Herzensregion, in der aus einer lebendigen, geistigen Erkenntnis ebenso lebendige, tiefe Gefühlsimpulse hervorgehen; und mit der Willensregion, in der der Mensch zu Willensimpulsen kommt, die zu guten Handlungen auf Erden werden können.

Über die nicht-sinnliche Forschung

Wenn man in dem hier angedeuteten Sinne in eine solche mehr kontemplative Stimmung kommt, in dem man sich dem Wesentlichen näher fühlen kann, und in dieser Stimmung dann wirklich innere Fragen, eine Art innerer Sehnsucht spürt, dann bekommen die Fragen nach dem Menschen erst einen wirklichen Sinn. Und man geht den Antworten bereits ganz real entgegen! 

Die innere Sehnsucht, die man empfinden kann, wenn man einen solchen Text wie den „Kleinen Prinzen“ oder andere Texte, die einen in die „Wesens“-Sphäre hineinführen können, liest, kann einem etwas sehr Wichtiges zeigen. Empfinden wir diese Sehnsucht... Wonach sehnt sich der Mensch da eigentlich?

Wir müssen versuchen, diese Fragen selbst zu beantworten, indem wir unsere Seele bewusst in diese beschriebene Stimmung bringen und dann selbst erlebend beobachten können, was geschieht.

Wir versuchen also, in uns bewusst diejenige Empfindungssphäre hervorrufen, in der diese Sehnsucht real wird, in der sie gleichsam „wohnt“ und zuhause ist, in der sie leben kann. Dann können wir versuchen, diese Sehnsucht so stark wie möglich zu erleben, sie zu verstärken. Und wenn uns dies gelingt, versuchen wir in einem weiteren Schritt schließlich, uns alledem zugleich erlebend gegenüberstellen, doch nur mit einem Teil unserer Aufmerksamkeit; gleichzeitig bleiben wir auch im unmittelbaren Erleben – denn sonst wäre unmittelbar alles vorbei, wir wären herausgefallen und hätten nur noch eine Erinnerung.

In diesen drei Sätzen liegt ein ganzer Übungsweg, der immer weiter vertieft werden kann. Eigentlich geht es um das ganze Geheimnis der inneren Selbsterziehung einerseits (Vertiefung der Seelenfähigkeiten, des Denkens, des Empfindens) und der seelisch-geistigen Forschung andererseits. Und nur auf diesem Wege können die Wahrheiten des Menschen gefunden, die Fragen des Menschen beantwortet werden!

Sobald wir uns dem zuwenden, was wir im seelischen Erleben beobachten können, befinden wir uns in einem Bereich „übersinnlicher“ Forschung – denn wir haben die Sinnes-Wahrnehmung verlassen. Doch auch in diesem Bereich können wir dieselbe Klarheit bewahren, wie wir sie von der auf die Sinneswelt bezogenen Forschung kennen. Wir verlieren diese Klarheit im Seelischen nicht, wenn wir uns im seelischen Erleben nicht verlieren. Unser inneres Erleben darf im Erleben der Seeleninhalte, der verschiedenen Empfindungen, nicht ganz aufgehen – obwohl diese Empfindungen gleichwohl sogar noch verstärkt und vertieft werden sollen! –, sondern zugleich soll unsere Aufmerksamkeitskraft in allem klar bewusst sein.

Diese Kraft, die wir als Initiator all dieser bewusst geführten Prozesse erkennen und als „Ich“ der Seele gegenüberstellen können, erhält das klare Bewusstsein aufrecht – und kann sich schließlich dem ganzen aktiven Geschehen zugleich auch immer mehr gegenüberstellen. Alles zugleich: Aktives Hervorbringen, Vertiefen und Fühlen seelischer Empfindungen und Stimmungen; klares, waches Bewusstsein; und ein Sich-Gegenüberstellen, ein erlebendes Beobachten dessen, was da getan wird, geschieht, empfunden wird.

Auch wenn wir bei unseren Bemühungen erleben werden, wie schwer dies ist, sollten wir nicht zu schnell die Hoffnung verlieren und nicht aufgeben. Denn, was man auch bemerken kann, ist, dass sehr schnell ein tieferes Verständnis dafür wächst, worauf es ankommt. Und dadurch können bereits sehr viele Erfahrungen gemacht werden – Erfahrungen, Entdeckungen, Ahnungen. Das Innere des Menschen bekommt immer mehr Kontur, es weitet sich auch, wird größer, tiefer, und es gewinnt nach und nach Substanz, geahnte Substanz...

Immer deutlicher wird, wie real die seelischen, geistigen Geschehnisse sind. Diese Realität verstärkt sich einem immer mehr. Vollkommen klar wird schließlich, dass die Realität des Menschen in dieser sehr, sehr realen „Innenwelt“ gefunden werden muss – einer Welt, die weit, weit mehr ist als eine „psychische Innenwelt“ mit bloßen psychischen Phänomenen und Mechanismen.

Annäherung an „das Gute“

Versuchen wir also wiederum, uns innerlich in die Sphäre des „Wesentlichen“ zu begeben. Versuchen wir mit oder (später) ohne Hilfe geeigneter Texte, jene „Gestimmtheit“ der Seele hervorzubringen, in der sich die Seele mit dieser Sphäre verbindet, sich zu ihr erhebt, in sie eintaucht... In dieser Sphäre, in dieser Seelenstimmung, kann verstärkt eine Sehnsucht spürbar werden. Empfinden wir diese Sehnsucht... Wonach sehnt sich der Mensch da eigentlich?

Wenn wir diese Sehnsucht ernst nehmen und wirklich verstehen, wird sie uns wohl immer eines zeigen können: Die menschliche Seele sehnt sich nach dem Guten. In ihr lebt eine Sehnsucht danach, gut zu werden, sich mit dem Guten zu durchdringen.

Mögen in der Seele noch ganz andere Impulse leben, mögen schon beim Aussprechen dieser letzten Sätze doch wieder Wogen des (gedanklichen) Widerstandes hochgeschlagen sein – diese Sehnsucht ist in der Seele anwesend, und sie lebt auf, wird stärker fühlbar, wenn wir unsere Seele in eine Stimmung der Besinnung kommen lassen.

Der oben angedeutete Übungsweg ist so wichtig, weil diese allerwichtigsten, innersten Stimmungen zunächst nur so verborgen in der Seele leben (dürfen). Und sobald sie in das Bewusstsein gehoben werden sollen, verschwinden sie schon wieder – und spätestens dann, wenn das gewöhnliche Erleben oder gewöhnliche Gedanken und Gefühle wie eine ungeheure Woge heranbrandet und alles eben noch dagewesene zarte Erleben auslöscht, wie unwesentliche Spuren im Sand... Demgegenüber kann jedoch auch immer mehr das Bedürfnis erwachen, diese Erlebnisse nicht zu verlieren, sondern zu verstärken. Sei es, um sie zunächst vielleicht nur besser beobachten zu können, sei es, um ihrer selbst willen.

Letztlich wird dieses „um ihrer selbst willen“ immer mehr zunehmen, wenn der Mensch seiner eigenen Sehnsucht folgt – denn was wir hier als „Sehnsucht“ beschreiben, ist nun einmal eine innerste Sehnsucht der Seele. Die Sehnsucht nach dem Guten... Und doch muss sich diese Sehnsucht erst alledem erwehren lernen, was sie fortwährend zu ersticken droht; muss der Mensch selbst erst lernen, die Sehnsucht seiner eigenen Seele wahrzunehmen, ernst zu nehmen, sie zu behüten...

Was ist das Gute? Und warum sehnt sich die Seele danach?

Um innerlich zu erleben, was „das Gute“ ist, müssen wir versuchen, uns zunächst von allen festen Vorstellungen zu befreien, die sich unserer realen, gegenwärtigen Erkenntnis als Hindernisse in den Weg stellen.

Das können Vorstellungen sein, die ohnehin negativ, antipathisch besetzt sind – etwa Vorstellungen äußerer Normen und Wertvorstellungen, die unsere Seele mehr oder weniger bewusst ohnehin als äußeren Zwang, äußere Bestimmung ablehnt – vielleicht nicht den Inhalt an sich, aber eben das Äußere, das von außen Zwingende. Von diesen Vorstellungen müssen wir uns also befreien.

Es können aber auch Vorstellungen sein, denen man selbst stark anhängt, die aber auch wiederum etwas Fertiges sind, scheinbar Antworten geben, in Wirklichkeit aber nur diejenigen Punkte markieren, wo das Denken aufhört, wo man nicht weiterdenkt. Von diesen gewohnten, ja vielleicht geliebten Vorstellungen wird man sich wahrscheinlich schwerer befreien können. Man kann auch dies wiederum nur durch Erkenntnis tun. Man prüfe diese fertigen Vorstellungen also bis ins Innerste, so sorgfältig wie möglich. Geben sie wirklich eine Antwort? Eine ausführliche, eine lebendige, eine tiefreichende Antwort auf die eigentliche Frage? Oder sind sie nur diejenigen Stützen, die sich die Seele immer sucht, wenn sie es nicht vermag – oder aber nicht den Willen aufbringt –, den Dingen bis zu Ende zu folgen und auf den Grund zu gehen?

Was ist das Gute?

Wenn man sich von allen festen Vorstellungen und Vorstellungsbruchstücken löst und in der reinen, vom Wesentlichen berührten Sphäre in der wirklichen Frage verweilt – welche Antworten entfalten sich dann? Was ist das Gute?

Vielleicht kann man es nicht auf einen Begriff bringen, nicht in einfache, wenige Worte fassen – und dennoch wissen, was das Gute ist. Noch vor allen Worten, ja sogar vor allen konkreten Gedanken, Begriffen.

Was das Gute ist, kann man nicht nur in Gedanken wissen, dieses „Wissen“ reicht tiefer, umfasst noch tiefere Bereiche des menschlichen Wesens. Was das Gute ist, wird gefühlt, empfunden – das Gefühl, das Herz ist es, das „weiß“, was das Gute ist. Man kann zum Beispiel einen Zusammenhang zu dem Begriff der Wärme – einer rein innerlichen Wärme – erleben. In dem Guten lebt Wärme. Aber das „Wissen“ um das Gute gründet in noch tieferen Schichten des Menschenwesens. Bis in die Regionen des Willens müssen wir hinuntersteigen, um die Ursprünge dieses Wissens zu finden.

Und in diesen unmittelbaren Bemühungen der Selbstbeobachtung erfahren wir ganz real, was es heißt, wenn gesagt wird, dass „Gleiches nur von Gleichem erkannt“ wird. Wirkliches Erkennen ist eine reale Erfahrung. In seiner Realität kann etwas nur erkannt werden, wenn der Erkennende sich mit dem zu Erkennenden innig verbindet – wenn er gleichsam sich selbst in dem zu Erkennenden erlebt, oder auch: wenn er das zu Erkennende in sich erlebt. Das zu Erkennende muss eine wirkliche Realität werden, das heißt aber, der Erkennende muss sich im Erkennen lebendig, innig, in das zu Erkennende verwandeln, zumindest in diesem einen Moment des Erkennens...

Je weitgehender dieses reale Geschehen stattfindet, desto mehr hört das Erkennen auf, abstrakt zu bleiben, nur abstrakt erlebt zu werden – und desto mehr wird es lebendig, ein reales Geschehen, das den Erkennenden wirklich mit dem realen Wesen des zu Erkennenden verbindet.

Diesen Weg in die Realität geht der Mensch, wenn er in der Frage verweilt: Was ist das Gute? Zuerst mag er sich Vorstellungen machen, in verschiedenen Vorstellungen und Gedanken schweifen, während er sich bemüht, die Frage zu beantworten, das Gute zu denken. Doch das Gute kann nicht gedacht werden. Und so versenkt der Mensch sich schließlich auch in das Gefühl – und er spürt: Hier ist er der Frage nach dem Guten und einer Antwort viel näher. Im Fühlen kann das Gute bereits gefunden werden, das Gute kann gefühlt werden. Das Empfinden von Wärme steht mit diesem Erfühlen des Guten in innigem Zusammenhang. Und dann kommt der Mensch dem Wesen des Guten noch näher. Er spürt schließlich, wie er dem Guten am innigsten nahe ist, wenn er es in seinem Willen sucht und findet. Das Gute kann gewollt werden. Und hier, im Willen, wenn das Gute im Willen gefunden wird, findet man seine Realität – wie sie sich im eigenen Willen offenbaren kann.

Was aber will der Wille dann, was ist dann sein Impuls? Was ist das Nächste, wenn das Gute im Willen lebt? Die Tat! Das Nächste sind Taten! Mögen sie groß oder klein sind – es sind Taten. In ihnen wird das Gute offenbar, in ihnen gewinnt es Gestalt auf Erden, wird es sichtbar, erlebbar, in seinen Wirkungen wahrnehmbar. Und auf wen oder was richtet es sich? Auf den Anderen, auf das Andere.

Es geht um das Geheimnis der Liebe – aber die reine Liebe, die sich ganz vom Selbstbezogenen gelöst hat, um wirklich zu ihrem Wesen zu kommen. Die Liebe richtet sich auf den Anderen, das Andere. Das Gute ist das, was hilft, im tiefsten Sinne. Es ist gleichsam das Ziel der Liebe, so wie die Wahrheit das Ziel der Erkenntnis ist.

Wir brauchen das Gute nicht zu definieren – wir können es auch nicht, und wir dürfen es auch nicht, wenn es sein lebendiges Wesen nicht verlieren soll. Das Gute kann man nur in einer Art innerer Ehrfurcht in sein eigenes Seelenwesen aufnehmen, sonst hat man es schon verloren. Man wird verstehen, was gemeint ist. Diese Ehrfurcht muss nicht immer bewusst sein – eine Seele kann wirklich tief das Gute in sich tragen, ohne bewusst Ehrfurcht davor zu empfinden. Aber der Impuls zum Guten trägt gleichsam seine eigene Ehrfurcht mit sich. Lieben wird man das Gute immer, wenn man seinen Impuls in sich trägt. Die Liebe aber enthält die Ehrfurcht in sich. Und die Liebe verhindert alles Definieren...

Was lebt in der Seele?

Wenn wir diesen Weg bis hier gegangen sind, konnten wir ganz sicher sehr, sehr deutlich empfinden, dass wir seelisch in einer außer-gewöhnlichen Verfassung waren. Unsere gewöhnliche Seelenverfassung ist eine sehr andere, gewöhnlich leben in der Seele verschiedene ganz andere Impulse, die dann auch unser Handeln bestimmen.

Diese ganze Welt unserer Seele machen wir uns normalerweise auch gar nicht bewusst. Das heißt, es leben Impulse in der Seele, die wir einfach leben lassen – und ausleben. Wir tun dies, ohne ein klares Bewusstsein vom Wesen dieser Impulse zu haben.

Ein „normaler“ Mensch in der heutigen Zeit führt dann ein „normales“ Leben, in dem er diverse Handlungen vollzieht, die in ähnlicher Weise meist auch andere Menschen tun. Man hält sich vielleicht mehr oder weniger bewusst für einen „guten“ Menschen – wie es wohl auch fast alle anderen Menschen tun –, und vielleicht ist man sich sogar halbwegs darüber bewusst, was man damit meint: Zum Beispiel dass man normalerweise relativ „nett“ zu seinen Kollegen ist, seinen Partner und seine Kinder liebt, seine Nachbarn kennt und so weiter. Man weiß, dass man manchmal „nicht so nett“ ist, aber dass man sich danach wieder Mühe gibt, es zu sein...

Wenn man noch etwas tiefer schaut, ist man sich vielleicht des Folgenden bewusst:

Die meisten Handlungen des Alltags beziehen sich auf einen selbst und auf die Familie. Dann gibt es Freunde, denen man manchmal beim Umzug hilft, denen man etwas zum Geburtstag schenkt und so weiter. Man weiß mehr oder weniger, dass alles Handeln mehr selbstbezogen oder mehr auf den Anderen bezogen sein kann, wobei reine, tiefe Selbstlosigkeit gewöhnlich kaum vorkommt – oder nur da, wo sie leicht fällt, weil man jemanden nun einmal liebt. Und selbst da will man wiedergeliebt werden...

Über das Gute macht man sich normalerweise keine tieferen Gedanken. Was „gut“ ist, weiß man mehr oder weniger. Dann gibt es noch das Gewissen, das „sich meldet“, wenn man etwas getan hat, von dem man dann eindeutig empfindet, dass es nicht gut war – dass es zu selbstbezogen war, dass es dem Anderen geschadet hat oder so etwas. Oder man kann auch etwas unterlassen haben und dann empfinden, man hätte es tun sollen...

Insgesamt „weiß“ man also ungefähr, dass man sich für gewöhnlich in einer Art mittlerem Bereich bewegt. Man bemüht sich zwar (vielleicht), ein guter, netter Mensch zu sein, aber man weiß, dass man es manchmal überhaupt nicht ist. Und man weiß auch, dass man mit alledem dennoch sehr im Zentrum seiner eigenen Person lebt. Und schließlich weiß man auch – all dies natürlich nicht fortwährend bewusst –, dass man sich über die Frage nach dem Guten keine speziellen Gedanken macht. Man hat für gewöhnlich nicht den Anspruch, ein in diesem tieferen, bewussteren Sinne guter Mensch zu werden. Und man empfindet durchaus, dass man dafür ein ganz anderes Leben führen müsste... Und so ist einem deutlich, dass man sich zwar gerne im oberen Bereich einer Skala empfindet, dass man aber bei einem „umfassenderen“ Begriff des Guten – der zum Beispiel zum Vorschein käme, wenn man das Gewissen deutlicher sprechen lassen würde –, sich durchaus in einer wirklichen Mitte befindet. Man ist kein außergewöhnlich, kein durch und durch guter Mensch...

Die ehrliche Selbstbeobachtung kann natürlich jeder Mensch nur selbst vollziehen – für sein wirkliches, ganz individuelles Leben.

Weitere Annäherung an „das Gute“

Was aber deutlich ist, ist, dass das Gute etwas ist, was man mit gewöhnlichem Handeln, mit gewöhnlichem Denken und Fühlen eigentlich nicht erreichen kann. Wenn man ein ehrliches Empfinden in Bezug auf das Gute hat – und nach unserer innigen Suche nach dem Guten können wir ein solches Empfinden haben –, kann man deutlich empfinden, dass das wirkliche und vor allem das volle, das fortwährende Aufnehmen des Guten das eigene Leben vollkommen verwandeln müsste...

Ja, man kann selbst empfinden, dass es eigentlich nicht möglich ist, das wirkliche Gute für einen Moment aufzunehmen und dann wieder in das gewöhnliche Leben zurückzukehren... Das wirkliche, vollwirkliche Gute „auf Zeit“ – das ist eigentlich nicht möglich... Man spürt: Würde man das volle Gute in seinen Willen aufnehmen, dürfte man es nie wieder lassen, würde man es gar nicht wollen. Aber so gut ist man eben nicht, will man nicht sein – „will“ vielleicht schon, kann es aber nicht...

Und wenn man dem noch tiefer nachfühlt, weiß man, wie es wirklich ist: Man könnte eben doch. Man könnte wirklich diesen großen, echten Willen zum Guten in sich aufnehmen, wenn man wirklich wollen würde. Aber so groß, so voll, so wirklich will man nicht... Man will doch noch ein eigenes Leben führen...

Hier sind wir dem Geheimnis des Guten wiederum näher gekommen. Es ist immer das gleiche Geheimnis, aber mit jedem Aspekt inneren Erlebens und innerer Erfahrungen lernen wir das Wesen des Guten mehr kennen. Wieder haben wir gesehen, dass das Gute dem Anderen gilt, sich auf ihn bezieht. Wenn man also den vollen Willen zum Guten in sich aufnähme, so würde das ganze Leben ein Impuls werden, der sich dem Anderen zuwendet, mit aller Kraft ... der Liebe.

Was bedeutet das? Und welche Skala hatten wir in der Empfindung erlebt?

Nun, mit ehrlicher Anschauung werden wir sicher sagen: Was wir an Liebe in uns tragen, ist kleiner als diese große, umfassende Liebe, die wir uns zwar vorstellen können, die aber nicht in dieser Größe in uns lebt.

Warum können wir uns diese umfassende Liebe überhaupt vorstellen? Was stellen wir uns da eigentlich vor? Nun, wir können von dem ausgehen, was wir an tiefsten, weitgehendsten, edelsten Impulsen der Selbstlosigkeit in uns tragen oder einst in uns trugen. Und wir können uns diese bis ins Unendliche erweitert denken – so weit, dass alles, was noch etwas nur für sich selbst will, im Feuer der Liebe für das Andere verbrennt...

In einer solchen Form haben wir einen realen Begriff der Liebe, der Liebe an sich, allumfassend, ungetrübt durch alles, was ihr entgegensteht, was sie schwächen könnte. Und warum können wir einen solchen Begriff fassen? Offenbar auch deshalb, weil ein (viel schwächerer) Funke dieser Liebe auch in uns lebt – und lebendig wird, wann immer wir Handlungen der Selbstlosigkeit vollbringen oder unsere Handlungen zumindest auch selbstlose Impulse in sich tragen.

Wenn aber dies eine Realität ist – und wir erfahren diese Realität ja unmittelbar, werden uns ihrer ja immer differenzierter bewusst! –, dann bedeutet das: Die Liebe ist etwas Reales – und zwar etwas derart Reales, das ihr wahres Wesen geradezu unendlich groß gedacht werden muss, während das, was wir als Liebe in uns kennen, immer nur ein abgeschwächter Funke davon ist, der mal mehr aufglimmt, mal weniger – und der sich auf nicht sehr viele Menschen bezieht...

Damit bilden wir mehr und mehr einen realen, erlebten Begriff von der Liebe, von einer Realität, vor der wir eigentlich nur in größter Ehrfurcht stehen können. Denn, wenn es wirklich stimmt, dass unsere eigene Liebe, selbst da, wo sie groß, sehr groß wird, nur ein kleiner Funke der allumfassenden Liebe ist...

Und es ist doch gar nicht denkbar, dass unsere Liebe, deren Unvollkommenheit, deren unendliche Wachstumsfähigkeit wir eigentlich unmittelbar erleben können, dass diese Funken die „letzte Realität“ sein sollen, dass es nichts gäbe, wovon die Funken eben nur kleine Funken sind? Mit anderen Worten: Dass es das, was wir denken können, nicht auch in Wirklichkeit geben sollte...

Das Wesen der Liebe

Es gab auch Menschen, die ihr ganzes Leben in den Dienst anderer, in den Dienst des Helfens gestellt haben, deren ganzes Leben ein Helfen, ein Dienen, eine Offenbarung der Liebe war. Man denke an Mutter Teresa, an Albert Schweitzer, an Franziskus von Assisi. Aber das Mysterium hört hier nicht auf. Gerade solche Menschen hätten wohl immer sagen können, wie unvollkommen ihr Leben gewesen sei, wie wenig sie von dem tun konnten, was sie hätten tun wollen...

Wieder stehen wir vor der Tatsache, dass die Liebe im Willen lebt – und dass sie im Willen dieser Menschen so groß, so heilig lebte, dass diese Menschen über jeden Zweifel erhaben erlebten: Dies ist größer als ich. Ich trage in mir eine noch größere Liebe, als ich verwirklichen kann. Konkret auf Erden, in einem irdischen Leib, kann der Mensch nur bestimmte Taten tun, selbst wenn er ein ganzes Leben zur Verfügung hat. Doch die Liebe, die in ihm leben kann, kann über all diese Grenzen hinausgehen, kann unendlich schmerzen, weil man nicht mehr tun kann, obwohl man es möchte, obwohl die Liebe in einem es will...

Aus unserem eigenen Erleben und dem Besinnen dieser Tatsachen kann uns immer deutlicher werden, welche Realität diese Liebe ist. Nicht der Mensch hat Liebe, sondern etwas von dieser Liebe kann im Menschen aufleuchten – und er kann sich in seinem Willen immer mehr von dieser Liebe durchdringen lassen – lassen! –, diese kann schließlich so groß werden, dass sie wie eine Art Sonne im Menschen wird, aus all seinen Handlungen hervorstrahlt und der Mensch weiß: Ich bin zu gering...

Die Liebe ist eine eigenständige Realität – und man muss eigentlich formulieren: Sie begnadet den Menschen. Es ist reine Gnade, dass wir lieben können – stellen wir uns nur für einen Moment vor, wir könnten es nicht! Und doch ist es nur ein Funke, ein kleines Glimmen dieser wirklichen Realität. Was ist dann diese Realität?

Gerade diejenigen Menschen, die diese Liebes-Sonnen-Kraft in sich am tiefsten, am überströmendsten fühlten, haben erlebt und erkannt, dass es ein Wesen ist, das der Träger der Liebe ist – dass die Liebe wesenhaft ist. Und viele haben auch erlebt, dass dasselbe Wesen überhaupt die schöpferische Essenz von allem ist, was ist, das schöpferische, allumfassende Gottes-Liebes-Wesen...

Wie aber konnte dieses Wesen den Menschen so nahekommen, dass man in ihm nicht nur den Schöpfer alles Seienden erlebte (Creator mundi), sondern auch die Quelle aller Liebe, nicht nur die „Liebe Gottes“ zu den Menschen, sondern auch etwas, was der Mensch als eigene Liebe in sich aufnehmen kann, um mit dieser Liebe zu lieben...? Denn es wurde als ein Wesen erlebt, das den Menschen unendlich nahegekommen war, das im Menschen selbst leben konnte, leben wollte...

Dies war möglich, weil dieses Gotteswesen selbst zuerst Mensch geworden war. Weil es nicht nur Schöpfer alles Seienden geblieben ist, sondern sich noch viel inniger mit der Schöpfung verbunden hat. Weil es kosmisch-göttlich war und nun auch Mensch wurde – ein Mensch, der Menschensohn...

Und dieser Mensch, dieser Gott, er ging durch den Tod, erfuhr wirklich als Menschensohn den Tod, und es erwies sich, dass der Tod ihm nichts anhaben konnte, dass er den Tod überwand – und in menschlicher Geistgestalt aus dem Tod auferstand. In dieser Gestalt aber ist er seitdem mit der Erde verbunden, mit der ganzen Erde, unendlich nahe jedem Menschen.

Annäherungen an die Realität des Christus-Wesens

Dass diese eine Realität ist, muss man nicht glauben – aber man kann versuchen, sich dieser Realität zu nähern, sie immer mehr zu begreifen, auch im Gefühl zu erfassen, im eigenen Willen... Niemand soll irgendetwas glauben müssen. Und vielleicht müsste man Bücher, viele Bücher schreiben, um diese Realität noch ganz anders erlebbar zu machen. Selbstverständlich kann sie nicht in wenigen Absätzen für das Denken zugänglich werden, verstehbar werden, begreifbar werden.

Man kann unendlich Vieles bei Rudolf Steiner finden, der die Wissenschaft des Geistes begründet hat und Wege aufzeigte, wie man sich diesen übersinnlichen Wirklichkeiten übend nähern kann. Durch seine Schilderungen werden die Tatsachen, die von konfessionell erstarrten kirchenreligiösen Strömungen nur noch in Form unverständlicher, ausgehöhlter Dogmen überliefert werden, wieder real denkbar und begreiflich. Davon kann man sich nur selbst überzeugen – wenn man die Mühe aufwendet, die verschiedenen Vortragsreihen zu studieren, die Rudolf Steiner zum Christus-Geheimnis geben konnte.

Aber noch über vieles Andere kann man einmal unbefangen nachsinnen, um sich selbst die Frage zu stellen: Um welche Realität geht es hier? Hindern mich eigentlich nur feste Vorstellungen und eine innere Abwehr gegen diese, etwas zu erkennen, anzuerkennen, was eine wirkliche Realität ist?

So steht vor einem das Rätsel eines Paulus. Dieser Mensch hieß ja zunächst Saulus und war ein erbitterter Verfolger der ersten Christen. Er war ein Jude, ein vorbildlicher Pharisäer und ein absoluter Gegner des gotteslästerlichen Irrglaubens, der sich nach – und trotz! – dem Tode eines Menschen ausbreitete, dem er selbst nie begegnet war. Laut Lukas, der auch die Apostelgeschichte verfasste, soll dieser Saulus sogar die Steinigung des Stephanus beaufsichtigt haben. Doch eines Tages geschieht etwas. Paulus ist gerade vor Damaskus. Und hier erlebt er, schaut er plötzlich den Auferstandenen. Und von da an wird er zu einem glühenden Verbreiter des Christentums. Entweder handelt es sich hier um ein absolutes Rätsel – oder um eine wirkliche Realität...

Die Paulusbriefe nehmen neben den Evangelien einen hervorragenden Platz im Neuen Testament ein, denn sie legen Zeugnis ab von einer tiefen, spirituellen Menschenkunde – von der Verwandlung des alten Menschen in einen neuen Menschen, einen geistigen Menschen, der sich mit dem Wesen des Christus verbindet... Paulus entfaltet eine außerordentlich genaue, differenzierte Beschreibung eines Mysteriums – desjenigen Mysteriums, das sich ereignet, wenn der Mensch beginnt, aus dem bloß natürlichen, kreatürlichen Sein herauszutreten und in die ganz andere Wirklichkeit einzutreten, die mit der Christus-Wirklichkeit und -Wirksamkeit verbunden ist.

Diese Realität kann der Mensch, der eine Verbindung zu dieser Wirklichkeit sucht, selbst nach und nach erleben. Alles, was Paulus schreibt, bestätigt sich so allmählich in der eigenen Erfahrung – und so weiß man dann aus eigenem Erleben, dass es hier um eine allertiefste Realität geht.

Mag der zweifelnde Verstand dem zunächst noch entgegenstehen, das tiefere, unbefangene „Gedankenlicht“ hat längst Begriffe für das, was doch ein reales Empfinden und Erleben ist... Der Mensch reißt sich hier los von etwas, was ihn zuvor gebunden hat, und er befreit sich in eine Sphäre, zu der er hinstrebt, weil er hier den Inbegriff der Reinheit, der Läuterung erlebt. In dieser Sphäre, die er immer mehr, immer sicherer als die Sphäre eines Wesens erleben kann, empfindet er, weiß er das Ziel des Menschen. Dieses Wesen ist in seiner Vollkommenheit dasjenige, was der Mensch, der dieses Mysterium der Heiligkeit, der Heiligung spürt ... werden will.

Das Erleben des Auferstandenen durch Paulus ist eines der großen Wunder. Man kann auch einmal darüber nachsinnen, dass auch andere Menschen ganz ähnliche erschütternde Erlebnisse hatten. Rudolf Steiner sagte 1907 voraus, dass in der Zukunft immer mehr Menschen ein Schauen des auferstandenen Christus haben könnten, dass aber ein Beginn in den Jahren um 1935 liegen würde. Und tatsächlich hatten viele Menschen, vor allem in Situationen großer Not, solche Erlebnisse (siehe zum Beispiel das Buch „Ich bin bei euch. Christuserfahrung heute“).

Das keltisch-irische Christentum: Erkenntnis des Auferstandenen

Doch ein weiteres ungeheures Mysterium ist das Folgende. In den ersten Jahrhunderten nach Christus breitete sich das Christentum nach Westen aus. Im Urchristentum lebte ein ungeheurer Impuls der Brüderlichkeit. Menschen erlebten die Verwandlungskraft des Christus-Impulses bis tief ins Innerste – und konnten sogar für ihren (wissenden) Glauben sterben. Sie wurden den Löwen zum Fraß vorgeworfen und auf andere grausame Weise getötet – und sie gingen freiwillig in den Tod, wissend, dass sie dort nicht allein sein würden, dass sie „in Christus sterben“ würden, in das Leben des Christus hinein.

Doch dann wurde dieses Christentum im römischen Reich schließlich anerkannt, es wurde gleichsam Staatsreligion – und nun verband sich mit diesem Christentum der Impuls der Macht. Der Impuls, der nicht von dieser Welt war und sein sollte, verband sich mit der Macht dieser Welt. Das römische Weltreich war der Inbegriff der Macht – und die Kirchenführer, Bischöfe und sehr bald der Papst handelten unter dem Schutze und mit weltlicher Macht...

Im 7. Jahrhundert wurden Missionare dieses römischen Christentums bis weit in den Norden geschickt, in das Gebiet der germanischen Stämme und weiter bis nach Britannien. Doch sie kamen in Gebiete, in denen das Christentum schon lebte! Diese römischen Missionare fanden ein freies, geistiges, brüderliches Christentum vor, das ... auf irisch-keltische Mönche zurückging, die von Norden durch Europa gezogen kam, um den Impuls des Auferstandenen weiterzutragen. Dieses keltische Christentum wurde von der römischen Kirche von Anfang an bekämpft. Es war sehr verschieden von dem bereits jetzt in Macht und Dogmen erstarrenden römischen Christentum – es hatte einen ganz freien, jubelnden, brüderlichen Impuls, und es war nicht erdenfeindlich, Christus war zugleich der „Herr der Elemente“, die ganze Natur war von Ihm durchleuchtet...

Das römische Christentum stützte sich auf die irdische Macht – das irisch-keltische Christentum stützte sich auf nichts als den Christus-Impuls selbst, wie er im einzelnen Menschen wirksam wurde und in ihm Menschen überzeugte... Das römische Christentum verwies auf den sündigen Menschen und war in seiner Verkündigung trotz seiner Machtfülle gerade weltverneinend – die irischen Mönche erlebten, dass Christus sich gerade mit der ganzen Erde verbunden hatte, in allem lebte...

Doch das eigentliche Mysterium ist, dass es für die äußere Forschung bis heute ein Rätsel ist, wie das Christentum nach Irland kommen konnte! Es war längst da, bevor die ersten Missionare Irland erreichten – und dieses ganz andere Christentum bekämpften... Dieses Rätsel löst sich erst, wenn man die Mitteilungen Rudolf Steiners ernst nimmt – und noch dann bleibt es ein Mysterium.

Rudolf Steiner schildert die alten keltischen Eingeweihten, die Druiden. Diese hatten ein tiefes, auf einem unmittelbaren Erleben beruhendes Wissen über die Geheimnisse der Natur, der Elemente. In der Sonne erlebten sie ein geistiges Geheimnis, das sie gerade dann wahrnahmen, wenn sie sich in kleine runde Steinbauten zurückzogen, die das äußere Sonnenlicht nicht durchdrang. Diese priesterlichen Eingeweihten der Kelten mussten von dem Geheimnis des sich immer mehr der Erde nähernden hohen Sonnenwesens gewusst haben. Und als dieses Wesen Mensch geworden war, durch den Tod gegangen war und schließlich fern im Osten für die seelisch-geistige Wahrnehmung der Jünger entschwand, da verband sich dieses Sonnenwesen als der Auferstandene mit der ganzen Erde, durchdrang die Elemente, die Atmosphäre. Und im fernen Nordwesten schauten die keltischen Druidenpriester, die tief in das Wesen und Weben der Elemente eingeweiht waren, in diesem nun das Wesen des Auferstandenen!

Die ganze Erde war erneuert, das Sonnen-Liebes-Wesen hatte den Leib der Erde zu Seinem Leib erkoren, war überall, in Wolken, Luft und Wasser, im Licht, im kleinsten Halm auf Erden – Christus, der Herr der Elemente!

Und so wurden die Kelten christlich – wie Saulus. Und sie brachten dieses Christentum nach Europa. Ganzen Regionen brachten die irischen Mönche ein leuchtendes, kosmisches Christentum, ohne alle Gewalt, nur durch das eigene Christ-Sein und Wirken aus diesem heraus – bevor dann vom Süden her die römische Mission herankam, auf dieses schon bestehende Christentum stieß und alles daran setzte, es römisch zu machen... Im 9. Jahrhundert gingen die letzten Reste des irischen Christentums unter und verschwanden; ein anderes Christentum, das sich mit der weltlichen Macht verbunden hatte, hatte gesiegt.

Die Gegenmacht des Zweifels

Wenn man alles dieses zu erleben versucht, nachdem man zuvor versucht hat, sich von allen festen Vorstellungen zu befreien, kann der Zweifel wirklich allen Boden unter den Füßen verlieren. Natürlich kann er sich schon kurz darauf durchaus wieder sehr stark geltend machen, dieser Zweifel, so schnell gibt er den Menschen nicht auf... Doch man kann gerade in diesem Ringen, das sich auf dem Schauplatz der Seele abspielt, wiederum manches erleben.

Was hat es mit dem Zweifel auf sich? Man kann erleben, wie der Zweifel sehr stark im Kopf verankert ist. Er hat nichts von Gefühl – er wirkt gerade so, dass er dasjenige beiseitedrängt, was die allertiefsten Gefühle geben könnte...

Auf der einen Seite der Seele lebt die Unbefangenheit, die Sehnsucht nach einer zarten Reinheit, einer Befreiung von allen Vorurteilen, der Wille zu einer Hinwendung zu dem, was sich als Wahrheit der Seele nähert, sich ihr zeigt, immer wieder anders erlebbar wird, offensichtlich wird, vielleicht längst ein wissender Glaube geworden ist... Doch sobald sich der Intellekt geltend macht, bringt er den Zweifel mit und beide vertreiben das zarte Erleben, das sichere Wissen...

Wir erleben hier Grundkräfte, die in der Seele wirksam sind – und wir erleben ihr Verhältnis zueinander. Auf der einen Seite: Empfindung, Erkenntnis, reines Erkennen, heiligste Gefühle, und weiter ... ein neues seelisch-geistiges Leben, Wille zur Hingabe an das Erkannte, zur Läuterung... Alles, was mit der Empfindung der Geburt eines neuen, eines geistigen Menschen zu tun hat. – Und auf der anderen Seite: Intellekt, Zweifel, Verneinen alles dessen, Auslöschen all dieser Empfindungen und Erkenntnisse. Die unmittelbare Gegenwirkung. Eigentlich ein Nichts, etwas Negatives, nur ein Nicht-Anerkennen – und doch so machtvoll, dass das Andere, das doch so reich, so tief, so lebens-zukunfts-tragend ist, dagegen nicht bestehen kann, noch nicht...

Wenn wir aber zu dem tief eindrücklichen Erlebnis gekommen sind, dass wir die eine Kraft gar nicht mehr anders denken können und wollen als eben wesenhaft – wenn eigentlich alles andere weniger erklärt, weniger mit unseren Erfahrungen und Besinnungen übereinstimmt –, dann stellt sich die Frage: Was ist diese andere Kraft? Was ist dieser „Geist, der stets verneint...“?

Hat dieses Auslöschende des Zweifels, dieses Abstrakte, Kopfige, Gefühllose des Intellekts nur damit zu tun, dass wir mit dem physischen Leib, mit dem Gehirn denken? Und ist das andere Erleben, das die übersinnliche Realität spürt, erkennt, dadurch möglich, dass sich der Mensch hier im Erkennen und Empfinden von seinem physischen Leib bzw. seinen Wirkungen löst? Oder wirkt hier noch etwas anderes?

Fest steht eines, was unmittelbar erlebbar wird: Das kopfige gefühls-tote Zweifeldenken ist nicht in der Lage, jene geistig webende, lebendige Wahrheit und jene heilige Sphäre zu erfassen – und es ist geradezu die Gegenkraft dieser Sphäre.

Wir könnten dies zunächst als Erkenntnis so stehenlassen und darüber weiter nachsinnen. Doch wenn wir dies lange genug getan hätten, würde sich wohl schließlich eine weitere Frage aufdrängen. Falls sie nicht von selbst aufsteigt, können wir sie uns stellen:

Wenn das Eine so gewiss und sicher als wesenhaft erlebt und gedacht werden kann, immer mehr, als eine umfassende Liebes-Geistes-Sphäre, die ein Wesen ist ... muss dann nicht auch in der Gegenkraft Wesenhaftes gedacht werden? Kann nicht auch in der Gegenkraft Wesenhaftes erlebt werden? Ein Wesen, das mit Unterstützung des Physischen bewirkt, dass das Andere, das Lebendig-Geistige, zurückgedrängt wird? So erfolgreich, dass es nicht mehr empfunden wird, nicht mehr gedacht werden kann ... dass Gefühlsarmut und Zweifel das eben noch Dagewesene vollständig „unmöglich“ machen, indem sie in voller Stärke sich an dessen Stelle setzen?

Diese Frage muss jeder selbst für sich zu beantworten versuchen. Das vielleicht Wichtigste ist, Fragen dieser Art überhaupt fortwährend offenzuhalten, innerlich immer wieder neu zu stellen, sie nicht wieder in die Vergessenheit, die Nicht-Aufmerksamkeit hinabgleiten zu lassen. Denn hier beantworten sie sich nicht – hier bleiben sie unbeantwortet, während man sehr schnell meinen kann, Fragen, die man nicht mehr spürt, nicht mehr erlebt und sich stellt, seien beantwortet, seien „klar“, existierten gar nicht... Für das Bewusstsein existieren diese Fragen dann tatsächlich nicht mehr, aber real sind sie noch immer offen...

Negative Gefühle

Wenden wir uns einem anderen Bereich der menschlichen Erfahrung zu: den verschiedenen Gefühlsregungen, und nun vor allem den negativen Gefühlen.

Mit diesen Gefühlen kehren wir ebenfalls wieder in den Bereich menschlich-allzumenschlicher „Normalität“ zurück, entfernen uns von der reinen, ja heiligen Sphäre, in die wir uns zuvor vertieft hatten – entfernen wir uns von der Wirklichkeit des Guten, von der Sphäre der wesenhaften Liebe. Dies kann man empfinden; man kann es erleben wie einen „Hinabstieg“, ein Zurückkehren von etwas Hohem, Heiligem, wo dies keinen Platz, keinen Zugang hat, zu dem Niederen, Unheiligen, aus dem Alltag Bekannten.

Was sind negative Gefühle? Wir können an den Ärger denken, der sich einstellt, wenn etwas nicht nach unserem Willen geht – wenn etwas nicht gelingt; wenn jemand etwas anderes denkt, sagt oder tut, als wir es gerne hätten. Ärger kann sich steigern und verfestigen – dann wird es Hass. Wir können aber auch an die Antipathie denken, Abneigung gegen etwas, gegen einzelne Züge an einem Menschen – und dies kann schnell zu einer kaum noch differenzierten Antipathie gegen den ganzen Menschen werden. Dann gibt es außerdem den Neid, der natürlich ebenfalls mit Antipathie verbunden ist.

All diese negativen Gefühle richten sich negativ gegen etwas, was außerhalb von uns ist. Wie entstehen solche Gefühle? Auch dies kann in einer Selbstbesinnung vertieft erlebbar werden. Was genau geschieht? Im Gefühlsleben entsteht eine negative Färbung, eine negative Kraft, weil in der Außenwelt etwas ist – vorhanden oder passiert ist –, das nicht mit dem übereinstimmt, was wir uns wünschen, was wir erwarten, verlangen. Wir sind das Zentrum, der Maßstab dieses Geschehens, und was diesem Maßstab widerspricht, das erweckt antipathische, negative Gefühle.

Aber wer ist der Akteur in diesem Geschehen? Wer bringt diese Gefühle hervor? Das ist eine entscheidende Frage – allein schon für die Frage nach der Freiheit des Menschen, aber auch nach dem Wesen des Menschen und der menschlichen Seele. Die Sprache kann hier bereits sehr irreführend sein und von den notwendigen Fragen ablenken. Wenn etwas negative Gefühle „weckt“, scheint dieses Etwas die Ursache und auch, noch konkreter, das aktive Element zu sein. Gleiches gilt, wenn wir sagen, dass etwas negative Gefühle „auslöst“.

Selbst wenn wir diesem Etwas nicht die strenge Rolle des verursachenden Akteurs, der aktiven Ursache zusprechen wollen, wird das ganze Geschehen oft als eine Art unvermeidlicher, normaler psychischer Mechanismus betrachtet und hingenommen. Zwar spürt man auch den eigenen Anteil der inneren „Seelenfunktionen“, und doch scheint es trotzdem eine Art kaum zu beeinflussendes Ursache-Wirkungs-Gefüge zu sein. Dann steht man eigentlich auf dem Standpunkt, der etwa lauten könnte: Die Seele hat solche Gefühle eben (wenn ihr das und das begegnet).

Nun müssen wir genau unterscheiden und sehr sorgfältig vorgehen. Es kann sein, dass wir das genaue Geschehen nicht durchschauen – oder dass wir es nicht durchschauen wollen, dass wir es uns bequem machen wollen und bei dem bleiben wollen, was wir mehr oberflächlich erleben oder auch uns selbst einreden. Wenn wir diese Aspekte wirklich überwinden können und uns sorgfältig fragen können, wie das Geschehen wirklich ist, können wir es immer deutlicher erleben. Indem wir selbstlos, das heißt, wirklich unbefangen und mit innerer Wahrhaftigkeit, die inneren Seelenvorgänge beobachten, werden wir Folgendes finden.

Gefühle und die Frage der Freiheit

Wir müssten die menschliche Freiheit im Gefühl, im Fühlen, vollständig leugnen, wenn wir auf dem Standpunkt beharren würden, dass wir für unser Fühlen nicht verantwortlich sein könnten. Menschliche Freiheit würde im Fühlen nicht existieren, wenn es unmöglich wäre, auf sein Gefühl zu wirken, wenn es vollkommen von dem determiniert wäre, was der Seele begegnet und wie sie dann eben – fühlt. Dann wäre das äußere Agens tatsächlich die allmächtig wirkende Ursache und die Seelenregung eigentlich nur eine Fortsetzung der Außenwelt in das Innere des Menschen hinein. Die Gefühle, die ein Mensch hätte, wären dann eben gerade nicht „seine“ Gefühle, sondern das, was einer äußere Ursache als Wirkung verursacht – zwar in der menschlichen Seele, aber ebenso notwendig, wie ein Stein zu Boden fällt.

Nun sagt der Mensch aber, er habe Gefühle, es seien seine Gefühle. Und merkwürdigerweise tut man dies gerade auch bei negativen Gefühlen des Ärgers oder der Antipathie. Man argumentiert, man fühlt und erlebt dann etwa folgendermaßen: Der Andere macht mich ärgerlich, aber mein Ärger ist völlig berechtigt, denn was der Andere getan hat, war „unmöglich“. Aber was ist nun richtig? Hat der Andere mich ärgerlich gemacht – oder habe ich mich über das Verhalten des Anderen geärgert? Mit solchen Formulierungen schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Es sieht einerseits so aus, als sei der Ärger ganz objektiv völlig berechtigt, als „müsse“ sich ein Mensch über ein solches Verhalten einfach ärgern, zweitens soll es aber der freie, eigene Ärger sein, das bewusste freie Äußern des eigenen Unwillens, ein freies, selbstständiges Urteil darüber, dass das Verhalten des anderen „unmöglich“ ist. Und drittens weist man dennoch wieder alle Verantwortung von sich: Der andere macht mich ärgerlich.

Hier sind die verschiedensten Widersprüchlichkeiten miteinander vereint. Einerseits erhebe ich mich mit meinem Urteil (und Ärger) über den Anderen, andererseits verschleiere ich meine eigene Rolle darin, indem ich den Freiheitsaspekt sprachlich gerade völlig unsichtbar mache. Dadurch klingt es wie eine Naturnotwendigkeit – wodurch der Andere erst recht wie automatisch „schuldig“ dasteht. „So ein Verhalten macht nun einmal ärgerlich – das würde jedem so gehen.“

Nun, wenn das so wäre, dann wäre die Freiheit ausgelöscht. Man würde wie ein Automat ärgerlich werden. Wenn das der Preis für die Unangreifbarkeit des eigenen Ärgers ist, dann sollte man als Mensch doch lieber das Risiko eingehen, Verantwortung für seine Gefühle zu übernehmen...

Die Sätze klingen so furchtbar ähnlich: „Dein Verhalten macht mich ärgerlich.“ Und „Ich habe mich über dich geärgert“. Doch klar unterschieden könnten die Alternativen etwa lauten: „Dein Verhalten löst einfach ganz objektiv Ärger aus!“ oder aber: „Ich habe beschlossen, dein Verhalten nicht gut zu finden und darüber Ärger zu empfinden.“

Wer ist nun der Akteur? Der Mensch ist überhaupt nur in dem Maße frei, wie er sich selbst bestimmen kann. Freiheit existiert da nicht, wo man die Verantwortung für die eigenen Gefühle der Außenwelt zuschiebt. Frei im Fühlen ist der Mensch da, wo er selbst fühlen kann, was er fühlen will (dass es durchaus auch objektive Gefühle geben kann, müssen wir hier zunächst außer Betracht lassen, weil wir zunächst noch keinerlei wirkliche Unterscheidungsgrundlage haben).

Der Mensch, der seine Gefühle einfach nur „hat“, ist – fremdbestimmt. Die äußere Welt bestimmt ihn, und auch die Gefühle haben eigentlich ihn, nicht umgekehrt. Das nimmt man nur sehr ungern zur Kenntnis, denn man identifiziert sich nun einmal mit „seinen“ Gefühlen – und man ist nicht bereit, das Bewusstsein der Freiheit aufzugeben, selbst dann nicht, wenn die Tatsachen dagegen sprechen... Ein Eindruck der Außenwelt „erweckt“ in uns Ärger – aber der Ärger wird dann sofort zum inneren „Eigentum“ erklärt, zu unserem Ärger. Die eigenen Gefühle werden gehegt und gepflegt, selbst da, wo man sie sogar selbst gleichsam zu einer Naturnotwendigkeit erklärt, aber nur deshalb, um dem Anderen noch zweifelsfreier die Schuld geben, die Schlechtigkeit seines Verhaltens beweisen zu können...

Die Frage nach Ursprung und Sinn negativer Gefühle

Aber betrachten wir einmal die Gefühle noch mehr als Phänomen an sich. Der Mensch kann negative Gefühle haben (bzw. sie können ihn haben). Angenehm sind diese Gefühle nicht – selbst wenn es angenehm sein kann, sich über etwas Negatives in der Außenwelt zumindest „aufregen“ zu können, seinen Ärger „abreagieren“ zu können. Aber selbst dafür muss der Ärger ja schon da sein. Wenn wir uns über etwas (scheinbar oder wirklich) Negatives gar nicht ärgern müssten, so gäbe es ja gar keinen sich aufstauenden Ärger, dem man Luft machen müsste. Negative Gefühle sind negativ – aber wir können ihr Entstehen in uns zunächst oft nicht verhindern. Das ist der Sachverhalt.

Im Menschen lebt also fortwährend die Möglichkeit, dass er in seiner Seele negative Gefühle empfindet. Was hat dies eigentlich für einen Sinn? Woher kommt dies?

Nun, wenn man die Dinge einfach so hinnimmt und sich hier nicht vor ein Rätsel gestellt sieht; wenn man den Menschen einfach so nimmt, wie er sich darstellt, dann ist es nicht möglich, so zu fragen. Aber auch diese Frage stellt sich doch ganz objektiv, ob man sie sieht oder nicht. Meist lebt man ja schon mit der einen oder anderen Erklärung – auch wenn diese einem gar nicht bewusst wird. Schon Aristoteles sagte, Philosophie beginnt mit dem Staunen. Da, wo man keine Fragen hat, sieht man die Fragen entweder noch nicht oder aber nicht mehr, weil man schon mit Urteilen darüber lebt, die einem aber oft gar nicht mehr bewusst sind.

Wie kommt es, dass man überhaupt negative Gefühle haben kann?

Wir haben gesehen, dass die höchsten Gefühle des Guten, die sich ganz dem Anderen zuwenden, als innig verwandt mit einem Wesenhaften erlebt werden können, das dieses Gute seinem Wesen nach ist. Man kann zu dem Erleben kommen: Wenn es dieses Liebes-Wesen nicht gäbe, so könnte der Mensch diese Empfindungen gar nicht haben, die Möglichkeit zu diesen Empfindungen ist diesem Wesen zu verdanken – und also im Grunde auch ihre Wirklichkeit... Mit jeder Empfindung wirklicher Liebe, die ich habe, hegen darf, habe ich Anteil an jenem Wesen, dem ich dies gleichzeitig verdanke. Man verdankt diesem Wesen gleichsam die Möglichkeit und auch die „Substanz“ der Empfindungen der Liebe.

Kann man so empfinden, wird auch das, was man als inneres Seelenleben empfinden kann und wonach man sogar streben will, als ein Geschenk der göttlichen Welt empfunden. Die Freiheit des Menschen wird dadurch nicht beeinträchtigt – im Gegenteil, sie wird in höherem Maße überhaupt ermöglicht. Denn das Innerste des Menschen kann die volle Freiheit im eigenen Streben finden. Die Richtung des eigenen Strebens ist in die volle Freiheit des Menschen gegeben – er selbst soll und muss sich die Richtung geben! Und doch kann man im Streben nach dem, was man als Höchstes erkennt, nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten, gerade die Verwirklichung des Menschseins im tiefsten Sinne empfinden.

Man kann empfinden, wie man gerade dadurch sein Menschsein immer mehr verwirklicht – und wie die Tatsache, dass dies möglich ist, dass man an der Verwirklichung dieses Menschseins arbeiten darf, dass man selbst diese Entwicklung in die Hand nehmen darf (und muss), eigentlich die größte Gnade ist. Dem Menschen ist das Menschsein gerade dadurch geschenkt, dass er die Aufgabe geschenkt bekam, Mensch zu werden. Das gerade macht sein Menschsein aus – dass er nicht fertig ist.

Also die Gefühle und Willensimpulse des Guten, die sich vertiefenden Empfindungen des Schönen, nach denen man streben darf, kann man als ein Geschenk der göttlichen Welt betrachten. So wird man eigentlich umhüllt und getragen von der göttlichen Welt Mensch – und dennoch im ureigenen Streben. Dieses Streben ist um so eigener, ureigen, als der heutige Mensch die göttliche Welt zunächst ja völlig verloren hat! Nichts leuchtet an Göttlichem in der Außenwelt, nichts im Inneren. Gefunden werden muss diese göttliche Welt erst wieder. Dies gerade ist ebenfalls die ganz freie Tat des Menschen! Unendliche Hindernisse müssen ja erst wiederum beiseitegeräumt werden, um dieses Hohe und Heilige von neuem als verbunden mit der göttlichen Welt, hervorgehend aus einer göttlichen Welt zu erkennen, zu empfinden. Und Hindernisse auch, um dieses Heilige überhaupt erstreben zu wollen...

Auf der einen Seite steht also dieses Hohe und Heilige als Offenbarung und als „Substanz“ der göttlichen Welt – dem sich das „heilige“ Streben des Menschen in voller Freiheit zuwenden kann, während er gerade dadurch seinem wahren Menschentum immer mehr entgegengeht. Was aber steht nun auf der anderen Seite?

Die negativen Gefühle haben uns ihren Sinn noch immer nicht offenbart. Doch wenn wir uns auf sie besinnen, so kann zumindest deutlich werden, dass der Mensch sich durch sie von der Außenwelt distanziert, in einen Gegensatz zu dieser tritt. Negative Gefühle werfen den Menschen auf sich selbst zurück, die Außenwelt empfindet er in einem Gegensatz zu sich selbst, zu dem, was er gerne will.

Man stelle sich einmal für einen Moment vor, dass es keine negativen Gefühle gäbe. Man versuche sich einmal ein wenig hineinzufühlen, in was für einer Situation der Mensch dann wäre, was für ein Lebensgefühl, was für eine Verbindung zur Welt er dann hätte. Könnte er je ein so deutliches, ausgeprägtes Bewusstsein seiner selbst entwickeln, wenn er nicht immer wieder derart stark auf sich selbst zurückgeworfen würde? Mit jeder negativen Empfindung stößt die Außenwelt den Menschen gleichsam ab, stößt ihn in sich selbst zurück. Jedesmal entsteht gleichsam ein „Schock“ im Bewusstsein, dessen Inhalt ist: Die Welt ist nicht wie ich... Kein harmonisches Verbundensein, sondern Abstoßung, Trennung – aber dadurch auch: Ichwerdung, Aufwachen für das Ich. Aufwachen. Immer wieder...

Aber dieser menschheitsgeschichtlich nun längst erwachte Mensch ist nun eben auch objektiv in die Einsamkeit hineingestoßen. Ich und Welt sind nun wirklich wie durch einen Abgrund getrennt. Und alle negativen Empfindungen vertiefen den Abgrund, reißen ihn jedes Mal wieder von neuem auf.

Und doch können wir hier eine bewusstseinsgeschichtliche Notwendigkeit erleben, eine wirkliche „Mission“ des Negativen. Die Möglichkeit und auch das reale Auftreten negativer Empfindungen konnte, sollte dazu beitragen, dass der Mensch zu sich selbst erwacht. Auch dies können wir immer tiefer, immer realer empfinden lernen.

Damit könnte auch dieses „Negative“ eine Gabe der guten göttlichen Welt sein. – Wir werden uns diesen Fragen etwas später wieder zuwenden.

Die verlorene Frage heutiger Wissenschaft

Zunächst wollen wir uns einmal in die herkömmlichen Anschauungen vertiefen. Hat die heutige „wissenschaftliche“ Weltanschauung irgendeine wirkliche Erklärung für die Gefühle?

Nun, es gibt heute längst nicht mehr die eine wissenschaftliche Weltanschauung. Wissenschaft hat sich längst aufgelöst in eine Vielzahl nicht nur von Fachgebieten und Unterfachgebieten, sondern auch von Anschauungen, Meinungen, Forschungsergebnissen, Thesen, Vermutungen, Schulen und Strömungen. Allein schon dies kann den Glauben an eine einheitliche, im herkömmlichen Sinne „wissenschaftliche“ Welterklärung sehr bescheiden werden lassen...

Die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichsten Erklärungsansätze der Erscheinungen unserer Welt wird nur dadurch überdeckt, dass man selbstverständlich nie die volle Vielfalt dieser Ansätze überschaut – und vor allem dadurch, dass „die Wissenschaft“ als Methode noch immer eine ungeheure Autorität genießt. Nach wie vor hat man das Vertrauen, dass Wissenschaft die Welt erklären kann und auch wirklich erklärt.

Das Problem aber bleibt: Die Erklärungen dieser Wissenschaft widersprechen sich oft in höchstem Maße – weil Wissenschaft aus unterschiedlichen Wissenschaftlern „besteht“, die höchst verschiedene Ansichten und „Erklärungen“ haben, um nicht zu sagen: anbieten.

Warum genießt „die Wissenschaft“ dann ein solches Vertrauen? Weil es etwas gibt, dem man vertrauen kann, können muss, wenn man überhaupt irgendein Vertrauen haben soll. Und dieses Etwas ist das Denken.

Wissenschaft hat eigentlich – eigentlich! – die Aufgabe, vollkommen vorurteilsfrei und unbefangen zu beobachten, wahrzunehmen, und dann diese Beobachtungen mit dem Denken zu durchdringen, zu ordnen, zu verstehen... Das Denken soll sein Licht auf die Wahrnehmung werfen, damit sich das Wahrgenommene aussprechen kann, seinen tieferen Sinn, seinen Zusammenhang offenbart.

Die Ergebnisse einer solchen Wissenschaft dürften sich eigentlich nicht widersprechen. Zumindest müsste der Wissenschaftler innerlich genau beobachten, wo er mit seinem Denken die Zusammenhänge erfasst, wo er also wirklich das Wesen der Dinge erkennt – und wo er andererseits mit seinem Denken in einer spekulativen Sphäre verbleibt, die nicht wirklich an das Wesen der Dinge herandringt. Diese wäre dann das große Feld der Spekulation, der Vermutungen, der Thesen, des Unfertigen, eigentlich des Vor-Wissenschaftlichen. Spekulation wäre allenfalls Vorarbeit, Prolegomenon zu einem wirklichen Eindringen in das Wesen der Dinge – aber vielleicht auch Hindernis für dieses...

Doch die heutige Wissenschaft geht ja so überhaupt nicht vor, sie beginnt ja bereits immer schon mit Thesen, Hypothesen, die eigentlich auch das Endergebnis der Forschung sind: bewiesene Hypothesen, bewiesen so lange, bis eine andere Hypothese mehr Beweiskraft entwickelt. Einen Begriff vom Wesen der Dinge hat die heutige Wissenschaft ja gar nicht. Es soll eigentlich weniger erkannt als vielmehr „erklärt“ oder auch gedeutet werden.

Jede Erkenntnis der heutigen Wissenschaft bleibt äußerlich – man erkennt die äußeren Zusammenhänge, die kausalen Wechselwirkungen und so weiter, aber die Bedeutung der Dinge und das Wesen der Dinge bleiben unerkannt – weil man diese Frage gar nicht mehr stellt. Die Wissenschaft hat darauf verzichtet, so zu fragen. Es ist eigentlich eine Erkenntnis-Resignation. Man beschränkt sich auf die äußere Erkenntnis; auf die Erkenntnis der Zusammenhänge der Einzelheiten, bis ins Kleinste, aber gerade dadurch geht der Zusammenhang, der das Ganze ist, verloren. Es ist, als ob das Wesen der Dinge und ihre tiefere Bedeutung gar nicht existierten...

Der Mensch und das Wesen einer Farbe

Der heutige Wissenschaftler kann einem als Physiker genau sagen, welche Wellenlängen die Farbe Gelb umfasst – aber dass das Licht Wellencharakter habe, ist bereits eine Theorie, zugleich auch ein mathematisches Modell, was ist damit eigentlich gesagt? Hat es für den Menschen irgendeine Bedeutung, wenn er im Lichte der warmen Herbstsonne steht und die Offenbarungen dieses Herbstlichtes erlebt, dass Gelb „diese und jene Wellenlänge hat“? Nicht die geringste Bedeutung hat dies! Nicht das Geringste sagt es über das Wesen des Gelb aus! Wenn man aber den Physiker nach dem Wesen des Gelb fragen würde, dann würde er einen möglicherweise verständnislos anschauen, den Sinn der Frage gar nicht begreifen...

Aber wie kommt es zum Beispiel, dass uns das Gelb so warm erscheint? Wie kommt es, dass dann zum Beispiel eine Landschaft, in der auf den Feldern das Korn reift, in der die milde Herbstsonne durch die sich färbenden Blätter hindurchleuchtet, in der alles wie von einem milden Licht durchstrahlt scheint – und auch tatsächlich durchstrahlt ist –, so unendlich tief auf uns wirken kann, dass man das Gefühl bekommt, wie wenn die ganze Welt von einer milden, geradezu gnadevollen, auch innerlich, „seelisch“ leuchtenden Wärme durchströmt ist?

Das, was wir als „warme Farben“ bezeichnen, wirkt warm – jede Farbe ganz und gar spezifisch, mit völlig anderen Qualitäten. Der Mensch kann diese Qualitäten empfinden – doch der Wissenschaftler hat dafür keine Erklärung. Gerade das, was er eigentlich erreichen will, was das Ziel seiner Bemühungen ist, hat er hier nicht – eine Erklärung. Er kann nicht sagen, warum das Gelb warm wirkt...

Vielleicht kann er nicht einmal sagen, dass es so ist. Denn es kann sein, dass seine eigenen Theorien sich vor sein unbefangenes Empfinden schieben und sich die eigenen Theorien über das Fühlen legen, so dass er vielleicht sogar sagen wird: Warum warm? Die Farben sehen doch alle gleich aus? Nun – seine eigene Seele wird ihn vielleicht doch schnell wieder korrigieren. Denn spätestens dann, wenn er in zwei ganz verschiedene Zimmer geht, eines in „warmen“ und eines in „kalten“ Farben, wird er den Unterschied wahrscheinlich doch deutlich bemerken.

Ein heutiger Wissenschaftler fragt nicht nach dem Wesen der Dinge – er fragt nicht nach dem Wesen des Gelb. Und er hat keine Erklärung dafür, dass das Gelb warm erscheint. Aber vielleicht bräuchte er diese auch gar nicht. Goethe, dieser wunderbare Naturforscher, der dem Wesen der Dinge näherkommen wollte, sagte: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Das heißt: Eine Theorie ist gar nicht nötig, man lasse die Dinge sich selbst aussprechen! Jede Theorie führt von diesem Wesen der Dinge ab!

Wenn wir also das Gelb als „warm“ empfinden – und zwar beim Gelb ein sehr spezifisches seelisches Wärmeempfinden haben –, so gehört genau diese spezifische Qualität zum Wesen des Gelb. Es braucht keine Erklärung – und schon ohne Erklärung sind wir unendlich viel weiter als der Wissenschaftler, der unendlich komplizierte „Erklärungen“ über das Wellenlängenspektrum des Gelb geben kann, aber kaum noch fähig ist, die Qualität des Gelb zu erleben!

Wenn wir uns in uns selbst vertiefen, wenn wir erleben, welche Qualität das Gelb entfaltet – sobald es in unserer Seele wirken darf, diese Qualität entfalten darf –, so lernen wir unmittelbar das Wesen des Gelb kennen. Erst dann! Und was wollen wir noch mehr? Natürlich kann es uns interessieren, wie das Gelb in den Blütenblättern, in reifen Früchten usw. zustande kommt, welche Farbstoffe es darin gibt, wie ihre Molekülstruktur ist und so weiter. Aber gibt uns dies irgendein einziges Wissen über die Wirksamkeit des Gelb in unserer Seele? Dieses Einzige, was für den ganzen Menschen eine Bedeutung hat, steht eigentlich ganz außerhalb des Gebietes der heutigen Wissenschaft.

Naturwissenschaft, Psychologie und die Gefühle

All dies können wir lernen, tiefer zu empfinden – und dann wiederum den Anschauungen der heutigen Wissenschaft über die Gefühle gegenübertreten.

Wie gesagt, gibt es hier keine einheitliche „Schule“ und Lehre – auch und erst recht nicht für das Gebiet der menschlichen Seele. Sehr oft aber wird schon diese Seele an sich geleugnet. Es wird bestritten, dass der Mensch so etwas wie eine Seele habe. Was aber dann? Auch darüber legt man sich oft nicht wirklich klare Rechenschaft ab. Auch da hört man nicht selten einfach auf, zu fragen, ohne zu bemerken, dass die Fragen ja bleiben...

Die ganz reduktionistisch-materialistischen Strömungen betrachten den Menschen wie auch alle anderen Lebewesen als völlig determinierte Erscheinungen, denen vor allem Physik, Chemie und Biochemie zugrunde liegt. „Gefühle“ sind dann etwas, was man am liebsten als Erscheinung gar nicht hätte, weil sie bisweilen so schwer zu erklären sind, aber da es sie nun einmal gibt, sind sie natürlich in jeder Hinsicht nur Folge hormonaler Spiegelschwankungen im Blut, die wiederum auf das Gehirn wirken, wo dieses Phänomen wie alles andere, was der Mensch im weitesten Sinne sein „Bewusstsein“ nennt, entsteht.

Einem solchen reduktionistischen Wissenschaftler fällt nicht mehr auf, dass Tiere nicht in demselben Sinne Gefühle haben wie der Mensch. Körperlichen Schmerz verspüren zwar auch Tiere, und wenn Raubtiere sich streiten, könnte der Eindruck von „Neid“ entstehen, wie auch äußerlich das Bild von „Liebe“ entstehen mag, wenn man Vögel ihre Jungen füttern sieht. Doch gerade dieser Wissenschaftler weiß ja, dass bei Tieren all dies auf Instinkt beruht – es sind instinkthafte Verhaltensweisen, denen keine Gefühle zugrunde liegen, die sich in einer Seele offenbaren.

Die Frage ist, wie dieser Wissenschaftler seine eigenen Gefühle der Zuneigung etwa zu einem kleinen Kind – nicht dem eigenen! – erklären würde. Oder ein Gefühl inniger Dankbarkeit – unter welchen Umständen auch immer. Es gibt doch kein „Dankbarkeitshormon“? Dies sind doch wirklich seelische Geschehnisse, die nicht von körperlichen Prozessen determiniert werden? Dies zeigt sich schon daran, dass man so etwas wie Dankbarkeit überhaupt empfinden können muss – viele Menschen verlieren solche Gefühle in der heutigen Zeit. Sie verlieren nicht ihren Körper, nicht ihre Hormone, sondern ihr seelisches Empfindungsvermögen, diejenige seelische Innerlichkeit, die etwas rein Menschliches ist.

Wie betrachten weniger reduktionistische Wissenschaftsströmungen diese Realitäten? Nehmen wir die heutige Psychologie in denjenigen Strömungen, die sehr vom Individuum ausgehen und ein sehr humanistisches Menschenbild haben. Hier wird der Mensch nicht auf molekulare Mechanismen und Kausalitäten reduziert, sondern als Mensch und als Individuum ernst genommen. Diese psychologischen Schulen kennen die einzelnen Erscheinungen der menschlichen Seele, kennen auch seelische (Ursachen-)Zusammenhänge, die ein tieferes Verständnis der menschlichen Empfindungen und Reaktionen ermöglichen. Das Seelische wird hier als ein ganz eigener Bereich betrachtet: es ist die Welt des Psychischen. Diese Welt hat ganz eigene Gesetze.

In der modernen Psychologie kennt man zum Beispiel die sogenannte „Bedürfnispyramide“. Der Mensch hat bestimmte Bedürfnisse, die erfüllt sein müssen, um sich wohl zu fühlen. Dazu gehören die körperlichen Bedürfnisse wie z.B. Nahrung und Wärme, aber auch seelische Bedürfnisse wie Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung. Doch die Beschreibung dieser Bedürfnisse ist noch weit umfassender. Genannt werden auch das Bedürfnis nach Erfolg, nach Unabhängigkeit und Freiheit, nach Selbstverwirklichung und nach – Transzendenz.

Im Grunde kennt diese moderne Richtung der Psychologie also sogar die tiefsten, spirituellen Bedürfnisse des Menschen, die geradezu den Gegenpol der körperlichen Bedürfnisse bilden. Damit hat die Psychologie den Menschen eindeutig als körperliches und seelisch-geistiges Wesen erkannt, die beschriebenen Bedürfnisse beziehen sich ganz klar auf die Dreiheit von Körper, Seele und Geist. Jedoch bleibt es dann meist bei diesen Nennungen der verschiedenen Bedürfnisebenen, ohne dass man auf die ungeheuren Konsequenzen dieser Dreiheit tiefer eingehen würde.

Die moderne Psychologie behandelt den Menschen durchaus als Menschen, hat ein weitreichendes Wissen über das Feld der Seele, kennt sogar die geistig-spirituelle Dimension des Menschen – handelt aber zumeist sehr pragmatisch. Eine weltanschauliche Position wird öffentlich nicht bezogen, das Menschenbild bleibt diffus und unkonturiert, und so kann die nach wie vor reduktionistische Naturwissenschaft weiterhin das herrschende Weltbild bestimmen. Im Grunde stehen sich Naturwissenschaft und Psychologie unvereint gegenüber. Die Psychologie erkennt seelisch-geistige Bedürfnisse und Phänomene des Menschen, die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit chemisch-biologischen Zusammenhängen, die sie als das Wesentliche betrachtet – und so wird auch das Seelisch-Geistige noch immer sehr oft auf dieses Physische zurückgeführt...

Das Meer der Gefühle – und der Mensch

Die Psychologie stellt bestimmte Phänomene also fest, aber sie bezieht keine „Stellung“. Dadurch bleibt sie weiterhin außerhalb des Menschen, sie taucht nicht in die Wirklichkeit des Menschen ein. Was bedeutet das Bedürfnis des Menschen nach Freiheit und Selbstverwirklichung, worauf verweist es? Was bedeutet das Bedürfnis nach Transzendenz, worauf verweist es – was bedeutet all dies für ein wirkliches Bild vom Menschen? Was ist der Mensch, das Wesen des Menschen?

Wir haben gesehen, dass der Mensch in einer Spannung lebt: zwischen Gewordensein und Werden, zwischen Selbstbezug und Selbstüberwindung durch das Streben nach dem unfassbaren Wärmelicht der Liebe. Was gehört noch zu dieser Spannung?

In dem Gewordensein gibt es auch die negativen Gefühle, die wir schon betrachtet haben. Wir sahen, wie sich der Mensch durch diese in sich absondert, sich von der Welt trennt. Es handelt sich also um den genauen Gegensatz zu der Bewegung der Liebe. Somit sind die negativen Gefühle und die Absonderung des Menschen in Selbstbezogenheit bis hin zum Egoismus der Gegenpol zur Liebe. Ein umfassender Egoismus ist im Grunde eine dauerhafte Antipathie gegenüber der Welt: „Die Welt ist nichts, ich bin alles“.

Die Psychologie führt negative Gefühle zumeist auf ein Unerfülltsein von Bedürfnissen zurück. Wenn ein Mensch also im dichten Gedränge Stress bis hin zu heftigem Ärger empfindet, so sind unter anderem seine Bedürfnisse nach Ruhe und Harmonie gravierend verletzt bzw. im Mangel. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass negative Gefühle auf einem leidvollen seelischen „Durst“ beruhen.

Doch nun hat jede Handlung auch einen moralischen Aspekt. Wenn ein Mensch im Gedränge einen anderen Menschen, von dem er sich versehentlich angerempelt fühlt, mit einem wütenden Schimpfwort belegt, weil er selbst „mit den Nerven am Ende“ ist, so ist dies aus der eigenen leiblich-seelischen Not und Stresssituation heraus sehr verständlich. Auf der anderen Seite ist ebenso deutlich, dass man dem anderen Menschen damit wirklich Unrecht tut – vielleicht tiefes Unrecht. Denn auf der einen Seite wird sich auch dieser Mensch in einer ähnlich schlimmen Situation „leidender Bedürfnisse“ befinden, zum anderen kann man nicht wissen, was jenes wütende Wort in der Seele gerade dieses Menschen an Leid und Verletzung anrichtet...

All dies ist also auf der einen Seite sehr verständlich, vor dem Hintergrund der heutigen Psychologie ein sogar zu erwartendes Ereignis – und doch hat es zum einen eine moralische Komponente und zum anderen eine Freiheitskomponente. Man muss nicht so handeln. Denn wenn es einen psychologischen „Bedürfnismangel-Mechanismus“ mit einem entsprechenden Determinismus gäbe, so müsste auch der andere Mensch ebenso reagieren. Auch dieser müsste wütend schimpfen – und aufgrund der Beschimpfungen, die nun noch viele andere Bedürfnisse verletzen, müssten wir uns entweder sehr bald „die Köpfe einschlagen“ oder voreinander weglaufen...

Selbstverständlich kennen wir Eskalationen dieser Art – aber wir bezeichnen sie als „nicht vernünftig“, denn wir bemerken sehr genau, dass in allen derart allzu deterministisch ablaufenden „Konfliktmustern“ das wahrhaft Menschliche überrollt wird von etwas, das unterhalb dieser menschlichen Stufe steht. Und bis in die Sprache hinein wird dies klar erkannt. Man sagt dann, man ist/war „nicht mehr Herr über sich selbst“, man konnte sich nicht mehr beherrschen, das heißt, Biologie und psychische Mechanismen siegten über die Vernunft und über den Menschen.

Und es gibt weitere Phänomene. Es gibt einen bereits angedeuteten Verlust der Empfindungsfähigkeit. Nur die Spitze des Eisberges sind Jugendliche, die einzelne Menschen krankenhausreif schlagen und sogar dann noch zutreten, wenn jemand wehrlos am Boden liegt. Der Verlust der Empfindungsfähigkeit wird rasant begünstigt durch unzählige Erscheinungen unserer heutigen Welt – durch Computerspiele, die die Ausschaltung jeglicher Empathie voraussetzen; durch ein Wirtschaftssystem, das immer krasser auf Egoismus beruht und diesem zum Erfolg verhilft; durch eine Medienwelt, die immer mehr auf Entertainment und Selbstdarstellung, aber auch auf Unbeteiligtsein, Coolness, Action, ja Brutalität und Grausamkeit setzt. Man muss nur einmal in eine Videothek oder sogar nur eine Bahnhofsbuchhandlung gehen – und wird sehen, dass das Grausame, Unmenschliche geradezu „Hochkultur“ hat. Das Unmenschliche befindet sich auf dem Vormarsch...

Das Problem ist, dass heute nahezu nirgendwo tiefer gefragt wird, was es mit diesen Phänomenen auf sich hat. Sind es etwa nur Folgen bestimmter „Tendenzen“, die aus irgendeinem Grunde eingesetzt haben und die sich nun verselbständigen, weil damit Geld zu machen ist? Aber auch Tendenzen müssen irgendwo herkommen. Und sie könnten sich nicht ausbreiten, wenn man ihnen nicht folgen würde.

Es gibt einen Impuls zur Grausamkeit, sonst würden entsprechende Bücher nicht geschrieben, entsprechende Filme nicht gedreht werden – und erst recht hätten sie sonst keine Hochkunjunktur! In früheren Zeiten wäre man durch ein einziges solcher „Werke“ bis ins Innerste schockiert worden, hätte es entsetzt von sich gewiesen – heute verkaufen sie sich millionenfach, nimmt ihre Inhalte in seine Seele auf...

Auf dem Weg in die Freiheit

Die entscheidende Frage ist nun: Gehört dies alles zum Menschen? Ist es menschlich zu erklären, rein menschlich? Oder stellt sich hier gerade etwas dem Menschlichen entgegen, versucht den Menschen mit aller Macht von seinem eigentlichen Wesen fernzuhalten...?

Wir haben bereits gesehen, dass im Menschen selbst widerstreitende Tendenzen möglich sind. Wenn man großen seelischen Stress empfindet, vermag man es für gewöhnlich nicht, freundlich zu sein, sondern die Gereiztheit äußert sich in aufgestauter oder offen geäußerter Antipathie. Ganz ähnlich verhält es sich bei unerfüllten körperlichen Bedürfnissen, etwa bei starkem Hunger oder starker Müdigkeit. All dies verursacht körperlichen und/oder seelischen Stress und lässt in der Seele Empfindungen von Antipathie, Aggression, Hass aufkommen.

Diese Empfindungen und Impulse widersprechen den Idealen, die unser geistiger Mensch hat; die unsere Seele dann haben kann, wenn wesentliche Bedürfnisse erfüllt sind oder aber auch unabhängig davon ... wenn der Mensch einen intensiven Weg der Selbsterziehung gegangen ist!

Es ist niemals ein Determinismus, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation handelt – ob er zerstörerischen, destruktiven Impulsen folgt oder nicht, ob er solche überhaupt hat oder nicht. Es gibt Menschen, die durch kleinste Geschehnisse bis zur Weißglut gereizt werden – und es gibt Menschen, die wesentlich schlimmeren Schicksalsmomenten mit großer Ruhe bzw. Bescheidenheit, ja Ergebenheit begegnen. Es geht hier sowohl um das Wesen eines Menschen, als auch um sein reales Wollen in einem bestimmten Moment.

Hier beginnt der Bereich der menschlichen Freiheit – und zunächst des Ringens um diese Freiheit.

Die Psychologie kennt heute das Gebiet des Seelischen durchaus weitgehend als ein eigenes Gebiet, das nicht reduktionistisch auf leibliche Prozesse zurückgeführt werden kann. Doch wenn im Seelischen ganz ähnliche Mechanismen zu beobachten sind, wie sie die Wissenschaft als Ursache-Wirkung-Kausalitäten in der Physik und Chemie kennt, ist mit dem bloßen Phänomen des Seelischen für die Frage der Freiheit noch nichts gewonnen... Erst da, wo sich der einzelne Mensch von den zunächst allgemein beobachtbaren Mechanismen auf seelischem Gebiet Schritt für Schritt befreien kann, erringt er sich das Gebiet der inneren Freiheit.

Dann aber steht er mehr und mehr erkennend zwischen den beiden Polen, in die jeder Mensch hineingestellt ist, ob erkennend oder nicht: die Welt der Ideen und Ideale, die Welt des Geistes, die zugleich die wirkliche Welt des Moralischen (der moralischen Intuitionen) ist – und auf der anderen Seite die Welt der Leiblichkeit, der seelischen Gesetzmäßigkeiten, all jener Prozesse, die den Menschen in seinem Handeln zu determinieren drohen, ihn nicht zu einem wahrhaft individuellen, aus Freiheit handelnden Menschen werden lassen.

Man kann sich einmal auf diejenigen Momente besinnen, in denen einem das eigene Handeln hinterher leid tut, in denen hinterher die reine Stimme des eigenen Gewissens spricht, oder man kann auch sagen, die Stimme des eigenen höheren Ich, des eigenen wahren, reinen Strebens. Oft kann man schon im Handeln bemerken, dass das eigene Tun falsch ist, das heißt, dass man selbst es als falsch beurteilt, erkennt. Und nicht selten erkennt man dies sogar vorher, schon während ein Impuls zu einer sehr von Antipathie geprägten Handlung aufsteigt (ein solcher steigt ja meist recht plötzlich auf) – und man tut die Handlung trotzdem noch...

Aber das alltägliche Handeln ist dennoch zunächst sehr in Gewohnheiten und eher geringer Bewusstheit gefangen. Oft wird man sich über sein eigenes Tun kaum Rechenschaft ablegen. Und selbst wenn man die eine oder andere Handlung bereut, wird man oft nicht die innere Kraft haben, es beim nächsten Mal anders zu machen, sondern werden die naheliegenden, verführerisch sich anbietenden Verhaltensmuster, der eigene Ärger usw. einmal mehr so stark sein, dass man sich wiederum „hinreißen“ lässt, in derselben Weise zu handeln...

Entschieden anders wird dies erst, wenn man beginnt, diese Dinge entschlossen mit Bewusstheit zu durchdringen. Mit diesem Impuls, etwas zu ändern, beginnt der Pfad der Selbsterziehung. Dieser Impuls ist von Beginn an ein doppelter: Er enthält den Impuls zur Bewusstheit – und die Sehnsucht, etwas zu ändern. Man würde kaum den Impuls empfinden, sein eigenes Handeln mit Bewusstsein zu durchdringen, wenn man nicht den Impuls spüren würde, zu einem anderen Handeln zu kommen. Und andererseits würde man kaum den Impuls zu einer Wandlung des eigenen Verhaltens spüren, wenn einem nicht schon in irgendeiner Weise deutlich bewusst wäre, wie man im Moment handelt...

Wenn man einen solchen Impuls aus eigener Erfahrung kennt und sich in ihn vertieft, um ihn möglichst tief zu erleben, kann man immer deutlicher erleben, was hier eigentlich vorliegt. Es ist ein Impuls, zu einem anderen Handeln zu kommen, das mit dem übereinstimmt, was man als Ideal erkannt und zugleich frei und innerlich erwählt hat. Man hat in sich ein Erkennen des Guten – und man hat die Sehnsucht nach diesem. Man hat die Sehnsucht, sich mit dem Guten zu verbinden. Dies aber ist gleichbedeutend damit, das Gute in seinen eigenen Willen aufzunehmen.

Zunächst ist die Sehnsucht nach dem Guten eine Sehnsucht „nach oben“ hin, zu einem wesenhaft Geistigen. Um sich jedoch nicht nur zu diesem Guten zu erheben, es nicht nur zu erkennen, sondern sich auch wirklich mit ihm zu verbinden, gibt es nur einen Weg: Es muss auch eine Bewegung „nach unten“ stattfinden. Der ganze Mensch lebt mit seinen Mitmenschen hier auf Erden. Er muss das Gute bis in seinen Willen hineinführen, er muss das Gute sich mit ihm verbinden lassen, er muss seinen Willen dem Guten öffnen, damit dieses in ihn einströmen kann...

In der wirklich spirituellen Selbsterziehung geschieht dieser Prozess voll bewusst, in der Meditation. Hier sind die beiden Bewegungen nicht getrennt, verlaufen sie gewissermaßen nicht nacheinander, sondern vereinen sich innig. Noch immer gibt es die beiden Aspekte dieser Bewegung, doch in jedem von ihnen lebt zugleich auch der andere. In die Sphäre des Guten kann sich der Mensch auch erkennend nur dann real erheben, wenn er in dieses Erkennen die Kraft seines Willens einströmen lässt. Dann wird das Denken zugleich zu einem Erleben, zu einer inneren Realität, zu einer realen Berührung des Erkannten... In dieser wesenhaften Berührung lebt schon der moralische Wille des Menschen – und hier durchdringt er sich immer mehr mit Moralität.

Immer deutlicher kann dem Menschen, der diesen Weg sucht und diesem Weg folgt, erlebbar werden, dass hier sein höheres Wesen wirksam wird und ist, sein wahres Ich. Hier wirkt der höhere, der wahre Wille des Menschen. Der Erdenmensch, wie er bis jetzt geworden ist, und das wahre Wesen der Individualität beginnen, sich zu verbinden. Und diese Verbindung geschieht im Zeichen des Geistes, der die wirkliche Heimat der Individualität ist.

Die wahre Individualität lebt im Reich des Guten, des Wahren, des Schönen – und was dem an leiblichen und seelischen Hindernissen entgegentritt, ist nicht die wahre Individualität...

Das Reich der Hindernisse

So sieht sich der Mensch immer realer zwischen zwei Pole gestellt. Der eine Pol ist der des Geistes, das Reich der Idee und der moralischen Intuitionen – ihn erlebt der Mensch immer mehr als seine wahre Heimat, die Heimat seines wahren Wesens, mit dem er sich immer mehr „identifiziert“ und dem er immer stärker zustreben will. Der andere Pol ist die niedere, vorgefundene, unverwandelte Wirklichkeit des Menschen – alles, was nicht das rein Geistige ist oder die Kraft hat, dieses Reine, Geistige im Irdischen zu offenbaren: als Taten des Wahren, Schönen und Guten, als reinste, geläuterte Seelenimpulse im Denken, Fühlen und Wollen.

Der andere Pol ist der gewöhnliche Egoismus, die Selbstverhaftetheit, die die Seele zu einem tief selbstbezogenen Dasein führt, auch zu einem bloß irdischen Denken, Fühlen und Wollen, während die Realität des Geistes völlig „ausgeschieden“ wird. Dieser andere Pol ist dasjenige, was die Seele wirklich dumpf, blind und taub für das Licht der Geistes-Realität macht – blind, taub und widerstrebend. Denn selbst wenn die Seele etwas vom Geistesreich zu erfassen beginnt, wird sie aus ihrem selbstbezogenen Eigensein (und Eigensinn) heraus einen starken Widerwillen gegen jede Läuterung empfinden. Sie will sich nicht dem Geist ähnlich machen, sie will nicht selbstlos werden...

Aber das ist nur ein Teil der Seele. Der andere Teil will zum Geiste streben. Dieser Teil der Seele erkennt im Geiste seine wahre Heimat – und erkennt in jenem Eigensinn ... die Ursünde der Gottesverneinung. Es ist genau jener Impuls, durch den sich einst Luzifer von der göttlichen Welt aussonderte. Er wollte selbst etwas sein, er wollte mit seinem Sein nicht den hohen, guten Mächten und den höchsten Gotteszielen dienen, sondern er wollte ein eigenes Reich errichten, seine eigenen Impulse ausleben. Diesen Impuls pflanzte er der werdenden, noch ganz geistigen Mensch-heit ein – und es geschah der Sturz in die Selbstheit mit all seinen Folgen. Verfestigung, Materie, Krankheit, Tod...

Der reinste Teil der Seele, der sich immer mehr als der eigentliche Mensch heraushebt und sich seiner selbst bewusst wird, sieht sich zwischen diese beiden Seiten gestellt: das Reich des Geistes erlebt er immer mehr als seine Heimat, nach der er immer mehr Sehnsucht empfindet. Und das  Unverwandelte erlebt er immer mehr als den dunklen, zähen, widerspenstigen Boden der Geistesferne, des Geistesschlafes, des Geistestodes. Und die Seele erlebt, wie dieser Widerstand, diese Trübung fortwährend auch aus dem Leiblichen kommt, wie es das Irdisch-Leibliche ist, das die Seele im Eigensinn, im Egoismus festketten will.

Der niedere Teil der Seele kann diesen Eigensinn dann in sein „Leben“ aufnehmen und ihn regelrecht „kultivieren“. Aus dem Körper stammt die geistferne Gefangenschaft im Bloß-Irdischen, im Grob-Sinnlichen, aber der niedere Teil der Seele kann dadurch auch selbst immer mehr grob-sinnlich werden, immer unempfänglicher für jeden realen geistigen Impuls, immer unwilliger auch. Er lebt ein selbstzentriertes, irdisches Leben, immer ausschließlicher, immer mehr auch die letzten leisen Ahnungen des wahren Wesens der Seele vergessend.

In dem Maße nun, wie die Seele ihre eigentliche Heimat tiefer und tiefer erlebt, wird es für sie eine Realität, dass diese Welt das Reich von Wesen ist. Das reine Reich des Geistes, wo die Seele das Wahre, das Schöne, das Gute, alles, dem ihre Sehnsucht gilt, in seinen Ursprüngen weiß – dieses Reich wird ihr ein Reich göttlich-geistiger Wesenheiten. Das, wonach sich die Seele sehnt, sind Offenbarungen dieser Wesen. Das Seelen-Geistes-Wesen des Menschen ist selbst ein Wesen, es erlebt sich mehr und mehr real als eine Individualität, als Geistes-Wesen – wie könnte es je eine Sehnsucht nach dem Geistesreich empfinden, wenn dieses nur abstrakt ein „Gebiet von Ideen“ wäre? Als Heimat empfindet der geistig erwachende Mensch diese Welt – und diese Heimat ist zugleich Reich hoher, höherer, höchster Wesenheiten!

Indem der Mensch tief in das Besinnen und Erleben des Mysteriums selbstloser Liebe eintaucht, kann er gerade hier das höchste Wesen erahnen, empfinden lernen. Doch die unendlich tiefen Zusammenhänge, die ein immer weiteres Verständnis, ein immer umfassenderes Ahnen ermöglichen, wird man nicht einmal im Ansatz alle selbst erfassen können – aber man hat die wunderbare Möglichkeit, die Mitteilungen des Geistesforschers Rudolf Steiners auf sich wirken zu lassen. Durch sie eröffnet sich wirklich eine ganze Welt von Verständnis, von immer tieferem Herantasten, Heranahnen, was wiederum in unendlichem Maße die Sehnsucht vertiefen, das innere Streben befeuern und ihm die Richtung geben kann.

Das Erleben der Widersachermächte

Und wiederum der andere Pol... Das Unverwandelte, das Irdische, das Widerspenstige – auch dies erscheint der Seele immer weniger als etwas abstrakt „Zufälliges“ oder als ein „Unglück“, eine „Laune der Natur“. Das Reich des Geistes hat für sie eine absolute Realität gewonnen, eine höhere Realität, als es die gewöhnliche Welt ist, die die Seele nicht mehr als ihre (wahre) Heimat empfindet. Damit aber gewinnt auch diese gewöhnliche Welt eine ganz neue Realität. Sie wird nun ja immer mehr in ihrem ganzen „Hindernis-Wesen“ erlebt! Und so wird sie immer mehr ganz real das Reich der „Mächte der Hindernisse“.

Hinter dem Bloß-Irdischen, hinter dem Sinnlichen und Leiblichen, das mit unzähligen einzelnen Wirkungen und Kräften die Seele in seinem Reich halten will bzw. ganz real hält, erahnt die Seele immer konkreter, immer wirklicher das Wirken von realen Mächten, die ganz direkt als Widersacher der göttlich-geistigen Welt wirken. Das ganze Wirken ihrer Welt ist darauf gerichtet, den Menschen nicht aufwachen zu lassen. In all den Hindernissen, in allem Hemmenden, in allem Unverwandelten und Unwilligen offenbart sich immer mehr eine bestimmte Macht mit all ihren Hilfsmächten... Früher trug diese das Licht des Menschen verfinsternde Macht einen bestimmten Namen: „Der Fürst dieser Welt“.

Auch diese Ahnungen werden erst konkret möglich bzw. erfahren eine unendliche Vertiefung, wenn man sich den unerschöpflichen Ausführungen der Anthroposophie Rudolf Steiners zuwendet, um durch sie zu einem immer weitreichenderen Verstehen zu kommen. Ihre Wahrheit erweisen sie im eigenen Wahrheitsempfinden, denn die Seele hat ein Gefühl für die Wahrheit. Sie fühlt sich von unwahren oder bloß spekulativen Beschreibungen gewissermaßen zurückgestoßen, während sie in solchen Beschreibungen, die versuchen, geistige Wirklichkeiten zum Ausdruck zu bringen, diese Wirklichkeiten zu erahnen beginnt... Dies kann auch nicht anders sein, wenn sie diese Wirklichkeiten vor ihrer Inkarnation in einen Erdenleib selbst unmittelbar erlebt hat und sie im Grunde noch immer fortwährend erlebt, nur jetzt sehr unbewusst...

Die Schilderungen Rudolf Steiners über das Wesen der Seele, des Geistes, der geistigen Welt und der Widersacher öffnen dem Menschen im Grunde hunderte von Augen für ein tieferes Verständnis – und zugleich vielfache Wege der inneren Übung, Pfade der Läuterung und der Geistesschau für die Seele, die sich auf den Weg zu ihrer wahren Heimat machen will.

Wahrhaft augenöffnend, in immer wieder neuen Aspekten, ist allein schon die Tatsache der Doppelnatur der Widersachermächte. In zweifacher, ganz unterschiedlicher Weise wirken diese. Nur die eine Macht will den Menschen überhaupt nicht aufwachen lassen, ganz in die Sinneswelt „verbannen“, immer weiter in die Sinnensucht hineinziehen, auch in das Maschinelle, das Technische, das Elektronische hineinziehen. Die andere Macht will den Menschen sehr wohl aufwachen lassen und zu sich selbst führen, sogar immer mehr zu sich selbst – aber eben nur zu sich selbst. Diese Macht will die Selbstheit des Menschen immer weiter verstärken und ihn auf diese Weise aus dem „Zusammenklang der Geister“ herausgelöst halten.

Und dies ist nur ein Aspekt der Widersachermächte. Überall offenbaren sie sich als Polaritäten. Man denke nur an die unüberschaubare Vielfalt von Abirrungen im Seelischen: kalte Abstraktheit oder fiebriger Fanatismus; Angst oder Hochmut; Geiz oder Verschwendungssucht; Distanziertheit oder Distanzlosigkeit – und man kann selbst zahllose weitere Beispiele finden. In all diesen Phänomenen wird das wahrhaft Menschliche verlassen, zu der einen Seite oder zur anderen...

Hier wird im ganz Konkreten das Wirken der Widersacher erahnbar. Immer sind es Impulse, die vom Menschlichen abführen, die diese Mächte nahelegen. Der Mensch findet diese Möglichkeiten oder sogar Tendenzen in seiner Seele vor – aber er erkennt zunächst nicht die Ursprünge, er weiß nicht, was hier wirksam wird und sein innerstes Seelenwesen fortwährend auf einen bestimmten Weg bringen will...

Freiheit und Liebe

Voll bewusst – immer bewusster – in dieser geistig durchschauten Wirklichkeit stehend, erlebt der Mensch sein wahres Wesen und findet die Realität der Freiheit. Erst in diesem klaren Sich-Hineingestellt-Fühlen zwischen die Impulse des (Nur-)Irdisch-Sinnlichen, des Selbstischen und der geistigen Welt, die zugleich die wahrhaft moralische Welt ist, wird sich der Mensch bewusst, was der Mensch ist – und was das Wesen der Freiheit ist. Erst hier, an diesem Punkt, wird es dem Menschen möglich, die Freiheit zu einer inneren Realität zu machen. Damit aber beginnt der bewusste Weg seiner Individualität, in viel tieferem als nur dem gewöhnlichen Sinne. An diesem Punkt beginnt der Mensch, sein Schicksal, sein geistiges Werden, voll bewusst in die Hand zu nehmen.

Diese langen Ausführungen hatten das Ziel, möglichst voraussetzungslos ein Erahnen oder Erleben zu ermöglichen, dass es sich bei alledem um geistige Realitäten handelt. Niemand muss oder soll an das hier angedeutete wesenhafte Geistige „glauben“. Und doch kann vielleicht erlebbar geworden sein, dass man erst mit konkreten, differenzierten Begriffen über eine solche geistige Welt zur Wirklichkeit des Menschen und der vollen ihn umgebenden Welt vorzudringen vermag. Für mich ist es eine sichere Tatsache, dass man ohne einen Begriff vom höheren Ich des Menschen, von den Widersachermächten, von Christus an die Wirklichkeit nicht herankommt. Denn mit und hinter diesen Begriffen beginnt die Wirklichkeit. Ohne Begriffe von dieser Wirklichkeit ist sie nicht erkennbar – und scheint deshalb nicht existent. Doch die wirklichen Begriffe öffnen das Tor der Erkenntnis...

Ein Wichtiges muss noch ausgesprochen werden, denn hier drohen noch einmal tiefe Missverständnisse.

Viele Menschen wehren sich gegen solche geistigen Wirklichkeitsbegriffe, weil sie diese noch mit alten Begriffen von „Moral“ in Verbindung bringen. Früher wurden Vorstellungen vom „Teufel“ dazu benutzt, über Menschen Macht auszuüben. Das Moralische und auch das Unmoralische, die objektiven Abirrungen, sind eine Realität. Doch über diese reine Realität legten sich die Impulse der Macht und des Urteils. Dies geschah im Umkreis der Kirche, im Namen des Christentums – doch diese Impulse gehören längst zum antichristlichen Reich der Widersacher.

Die frühe Menschheit hatte sicher als Menschheit eine moralische Führung gebraucht – auch die mosaischen Gesetzestafeln, die zehn Gebote, gehören dazu. Doch Christus brachte hier eine vollkommene, in der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit einzigartige Wandlung – die bis heute nicht wirklich erfasst ist. Christus brachte das Gesetz der Freiheit, die Führung des Geistes. Von nun an ist es jedem Menschen möglich, sich selbst die Führung zu geben, denn die Sehnsucht der Seele zu Christus hin ist die Führung... Und jede äußere Macht, die dem Menschen darüber hinaus noch etwas sagen zu müssen meint, stellt sich im Grunde gegen den Christus-Impuls, denn dieser will im Inneren wirksam werden.

Dass auch keine Instanz mehr berechtigt ist, äußerlich über einen Menschen zu urteilen – und dass dies auch keine Kirche oder ein Kirchenoberhaupt sein können die meinen, als „Vertreter Christi auf Erden“ zu wirken –, das offenbart Christus selbst in der Begegnung mit der Ehebrecherin. Zu all denen, die über sie urteilen wollen, sagt er: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Und als sie alle fortgingen, die Alten zuerst, sagt Christus zu der Frau: „Hat dich niemand verurteilt?“ Die Frau aber erwidert: „Herr, niemand.“ Und er antwortet: „Auch ich verurteile dich nicht. Gehe hin und sündige fortan nicht mehr.“

Die Realität der Widersachermächte, die den Menschen immer wieder in die Abirrung vom rein Menschlichen führen, soll erkannt werden – weil durch die klare Erkenntnis das Wesen des Menschen und die Freiheit gefunden werden können, um immer mehr verwirklicht zu werden... Doch die Erkenntnis dieser Mächte darf nicht dazu dienen, andere Menschen zu beurteilen – und sei es auch nur in Gedanken. Jedes Urteil muss immer mehr empfunden werden als ein Sich-über-den-Mitmenschen-Stellen. Und dieses sollte als eine Versuchung der Widersacher, als ein wirkliches Abirren vom Menschlichen empfunden werden...

Diese jahrhundertelange, furchtbare Tradition, andere Menschen moralisch zu beurteilen – mit Maßstäben, die zu tun hatten mit „Geboten“, mit „Sünde“, mit „Teufel“, und mit denen die Macht verbunden war, diese Urteile fällen zu können, denen man sich zu beugen hatte –, diese furchtbare Tradition hat in den Menschen eine sehr berechtigte tiefe Abwehr gegen alle Urteile dieser Art entstehen lassen. Diese Abwehr entspringt aus einem tiefen Empfinden, dass der Mensch sich heute selbst seine moralische Führung geben muss.

Aus diesem Grunde wenden sich viele Menschen gegen jede Vorstellung von „Widersachern“, die den Menschen „in Versuchung führen“. Und allzu schnell verbindet man damit auch das Bild eines wehrlosen Hineingestelltseins, erscheint der Mensch als hilfloser Spielball dieser Mächte. Ist auf einmal alles, was man tut, „gut“ oder „böse“ – und wiederum sind es andere, die beurteilend darauf schauen? Die unmittelbare, starke Abneigung dagegen, ist sehr verständlich.

Der sanft leuchtende Pfad

Es ist für das heutige Bewusstsein auch eine zutiefst unangenehme, ja sogar erschreckende Vorstellung, dass der Mensch hier seine empfundene Autonomie aufgeben muss. Die moderne, gleichsam völlige Freiheit und Beliebigkeit – „alles ist möglich, alles ist erlaubt“ – verengt sich auf einmal wieder zu einem schmalen Pfad, links und rechts dessen wir nicht mehr das wahrhaft Menschliche verwirklichen... Wird hier nicht wieder einem neuen Moralismus und moralistischen Rigorismus das Wort geredet?

Nun, darauf können wir nach dem Vorangegangenen eine klare, vollkommen frei lassende Antwort geben. Die reale Existenz einer Sache wird dadurch nicht aufgehoben, dass man sie nicht erkennen möchte. Mann muss die Realität des wirklich Moralischen nicht anerkennen – es ist dennoch eine Realität. Man muss den tiefsten Begriff des Menschlichen nicht fassen – er ist eine Realität. Jeder ist frei, sie anzuerkennen oder nicht – und jeder muss selbst beurteilen, zu welchen Erkenntnissen er bereit ist und auch, was er tut.

Wenn man diese Realitäten jedoch anerkennen will, nicht nur, weil es Realitäten sind, sondern weil ihnen die größte innere Sehnsucht gilt, wird man keine Schwierigkeiten haben, anzuerkennen, dass die scheinbare Beliebigkeit menschlichen Handelns tatsächlich in jedem Moment zu etwas sehr Konkretem wird. Und es zeigt sich, dass tatsächlich links und rechts sich immer dichteres Gestrüpp, immer modrigere Sümpfe auftun, während nur in der Mitte zwischen beidem ein schmaler, sanfter Pfad führt, auf dem eine milde Sonne leuchtet...

Das wahrhaft Menschliche ist keine einfache, simple Frage, es ist auch kein Spiel, auch keine Sache, über die man sich „mal eben“ einige Gedanken machen kann oder auch nicht – es ist eine Frage allergrößten Ernstes und allergrößter Verantwortung. Diesen Ernst, diese Schwere der Frage kann man empfinden oder auch nicht, das ist in die Freiheit jedes Einzelnen gestellt. Doch die Frage nach dem wahrhaft Menschlichen ist, je ernster man sie nimmt, nun einmal die tiefste aller Fragen. Nimmt man sie zu leicht, nimmt man den Menschen – also sich selbst – zu leicht. Aber dadurch hat man dann auch ein leichtes Leben...

Was hiermit vor allem gesagt sein sollte, ist, dass die wirkliche Erkenntnis geistiger Realitäten den Menschen nicht gefangen nimmt, beschränkt und begrenzt, sondern dass hier gerade der Punkt wirklicher Befreiung liegt – nicht einer Befreiung in die Beliebigkeit der heutigen Sinneswelt, sondern eine Befreiung hin zum wahren Wesen des Menschen, zum Erwachen für die Wirklichkeit des Geistes.

Wer eine Abneigung gegen die Vorstellung der Widersacher hat, der prüfe zunächst seine eigenen Vorstellungen – und sein eigenes Verständnis vom Menschen. Wenn dieses Verständnis nichts ist, was er weiter vertiefen möchte, oder wenn er sich unabänderlich von allem, was hier in diesen langen Ausführungen gesagt wurde, „eingeschränkt“ oder „bevormundet“ fühlt – dann sei die „Befreiung“ von diesen Gedanken ebenfalls in seine Freiheit gestellt.

Das Wissen um das höhere Ich und um die Kräfte, die den Menschen von diesem abhalten wollen, kann den Menschen zu einem klaren, selbst gewählten Weg führen, auf dem er strebt, diesem höheren Ich entgegenzugehen, sich immer mehr mit diesem Ich zu verbinden, immer mehr aus seinem wahren eigenen Wesen heraus zu handeln. Zugleich wird der Mensch damit einem anderen Wesen entgegengehen, denn dieses ist mit dem wahren Wesen jedes einzelnen, individuellen Menschen innig verbunden, seit es selbst als Mensch durch den Tod ging.

Das wirkliche Ziel eines solchen Weges, den ein Mensch geht, der seiner wahren Heimat, dem Reich des Geistes entgegenstrebt, ist letztlich zugleich jenes Wesen, das das Wesen der Liebe ist. Und das Wesen der Liebe ist so umfassend, das die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen dadurch niemals aufgehoben werden kann. Die realen Impulse des Geistes sind so unendlich, dass jeder individuelle Mensch ein einzigartiger Träger der Liebe werden kann... Man kann dieses Wesen suchen, um sich von seinem Wesen durchdringen zu lassen, und man wird sein Ich nicht verlieren, sondern gerade wahrhaft finden. Das Geheimnis dieses Ich und auch das der Liebe kann immer größer und größer gedacht, empfunden, erlebt, gewollt werden...

Das Ziel des hier zweifellos in großer (eigener) Unvollkommenheit angedeuteten Weges ist diejenige großartige Wirklichkeit, die mit den Begriffen der Freiheit und der Liebe berührt wird. Es ist die großartige Wirklichkeit des Menschen, in seinem wahren Wesen. Diese Wirklichkeit hat nichts zu tun mit irgendeinem Urteil über andere Menschen, nichts mit irgendeinem Zwang, nichts mit irgendeinem Überzeugenwollen. Und das hier Geschriebene war der Versuch, etwas dazu beizutragen, dass andere Menschen sich selbst überzeugen können, von dem einen oder anderen des Ausgeführten, und daran etwas für ihren eigenen inneren Weg haben mögen.