2013
Vom Geheimnis der Stärke
Gedanken anlässlich einer Schulzeitung mit dem Thema „extrastark“.
Was ist Stärke? Versuchen wir einmal, das Wesen dieses Begriffes real selbst innerlich zu erleben, innerlich erkennend zu „ertasten“. Das Geheimnis der Stärke, ihres Wesens, beginnt schon beim Lesen; bei der Frage, wie wir lesen. Wir kommen dem Geheimnis näher, wenn wir unser Lesen so verlangsamen und zugleich vertiefen und intensivieren, verstärken (!), dass wir die Begriffe, die sich entfalten, wirklich mitdenken können – und dieses Mitdenken kann als reales Erlebnis eine unendliche Vertiefung erfahren. Es geht um den radikalen Unterschied zwischen Lesen und Denken, ja, zwischen zwei Arten von Denken.
Das heutige Denken des abstrakten Intellekts hat keinerlei innere Kraft und Realität. Es huscht über die Dinge hinweg, die dadurch dann zwar verstanden werden, aber dies geschieht ganz oberflächlich und abstrakt. Man stelle sich einmal den Unterschied vor zwischen einem Menschen, der eine Wiese anschaut und dabei tiefste, vielfältigste Eindrücke hat, die seine Seele so erfüllen können, dass man über diese inneren Erlebnisse ein ganzes Buch schreiben könnte, um sie alle in Worte zu fassen und durch die Sprache mühsam und sehr unvollkommen miterlebbar zu machen – und einem Menschen, dessen Blick kurz über die Wiese hinhuscht und der (selbst wenn er verweilt) eigentlich nichts sieht, weil sein Blick das Wesen und das Wesentliche gar nicht zu berühren vermag, auch die unendliche Vielfalt gar nicht wahrnimmt und daran kaum irgendeine ... Empfindung anschließt.
Es geht um ein Denken, das mit dem Wesen der Dinge wieder in Berührung kommt. Dies ist nur möglich, wenn es selbst eine innere Realität bekommt, wenn es Kraft entfaltet. Das Denken muss selbst wesenhaft werden. Es muss von einem Etwas, das eigentlich ein Nichts ist, weil es nicht mehr Realität hat als ein vager Lufthauch, von dem wir nicht wissen, woher er kommt und wohin er geht, ja, den wir überhaupt nicht bemerken, zu einem wirklichen Etwas werden: zu einer Realität, die stärker wird als alles andere; die in gewisser Weise realer wird als die Dinge um uns, der Stuhl, der Tisch, der Computer...
Von allein geschieht dies nicht, denn von allein ist dieses Denken nur zu dem kraftlosen Schein geworden, der es heute ist: der moderne Intellekt. Rudolf Steiner hat hier auf allergrößte Zusammenhänge hingewiesen, wodurch man diese Entwicklung verstehen und ihren tiefen Sinn erkennen und erleben kann, aber das soll uns jetzt nicht interessieren. Jetzt geht es einzig um die Frage, wie dieses Denken wieder zu einer Kraft werden kann. Und es ist wohl deutlich, dass dies nur durch uns geschehen kann – durch den Denker selbst. Hier liegt ein absolut entscheidender Punkt. Man besinne sich auf diesen Punkt, und man wird das absolut Entscheidende daran entdecken können...
Wir sind mit dem Denken so zuinnerst verbunden, dass wir ihm unser ganzes Bewusstsein verdanken – sowohl das Bewusstsein an sich als auch sein ganzer Inhalt. Wenn wir nun dem Denken Kraft verleihen könnten, es zu einer wirklichen Realität machen, so beginnen wir, auch unser eigenes Wesen erst wirklich zu erwecken. Es ist ganz real eine Art zweiter Geburt, die da geschieht – und auf diese Geburt eines zweiten, des höheren Menschen hat Rudolf Steiner immer wieder hingewiesen. Hier liegt der Kern der Anthroposophie, denn diese ist eigentlich nichts anderes als das Mysterium des Menschen: Der Mensch, der wahrhaft sein Wesen ergreift – um das Wesen der Welt zu finden. Man muss dies groß genug denken und erfahren können, immer größer und tiefer. Was hier in Worte gefasst ist, ist nichts Abstraktes, Theoretisches, es umgreift die ganze Welt, alles, was ist...
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Wir kennen Offenbarungen äußerer Stärke, von körperlicher Kraft, physischer Kraft. Das, was sich unseren Sinnen zeigt und sich im Physischen manifestiert, prägt heute unsere Wahrnehmung und unser ganzes Weltbild. Doch wenn wir uns davon einmal zurückziehen, gleichsam unsere Sinne verschließen und uns ganz auf unser Inneres besinnen, finden wir auf diesem Weg ganz andere Formen von Stärke.
Dem rein Physischen am Nächsten liegt der Bereich der Lebenskräfte. Auch diese können stark oder schwach sein. Dort, wo sie zurücktreten, können sich aber wiederum ganz andere Kräfte entfalten... Dann finden wir den Bereich des Seelischen, der Seele. Was ist hier Stärke? Was ist hier Kraft? Die Seele lebt in den Seelenkräften des Denkens, des Fühlens und des Wollens. Man besinne sich einmal in aller Ruhe ganz innerlich auf die Frage nach dem Wesen jeder einzelnen dieser drei Seelenkräfte. Jede unserer äußeren Wahrnehmungen ist bereits vom Denken durchdrungen, von Begrifflichkeit, von unserem Erkennen dessen, was um uns und in uns ist... Wann aber entwickelt das Denken Stärke? Wann besitzt das Fühlen innere Kraft? Und was heißt es, den Willen stark zu machen?
Bei dieser inneren, wahrhaften „Seelenforschung“ entdecken wir, dass die Seelenkräfte sich gegenseitig durchdringen. Wirkliche Kraft kann das Denken nur entwickeln, wenn der Denker – das Ich, das reale Zentrum der Seele – den Willen in das Denken bringt. Dies ist der alles entscheidende Punkt, mit dem alles anders wird, als es vorher war. Bewusst den Willen in das Denken bringen – dies bedeutet die wahre Geburt des wirklichen, des aktiven Denkens und die wahre Geburt des Denkers, unserer selbst. Erst in dieser Willensentfaltung, der bewussten Entfaltung des Willens im Denken, finden wir eine voll bewusste innere Aktivität, mit der wir selbst innerlich vollkommen eins sind. Es ist ein Erwachen des Willens in vollkommen bewusster Form. Der Mensch ergreift damit den Willen und sich selbst von innen.
Und dies nun – dieses vollkommen bewusste, ganz und gar aktive Denken, in dem kein einziger Begriff gedacht wird, den man nicht selbst entfaltet (und das kann ebenso heißen: selbst vollkommen durchdringend aktiv mit-denkt) –, dieses aktive, reale, „echte“ Denken ist die erste Offenbarung des Geistes. Durch dieses Denken hindurch, das nun erstmals eine Realität wird, kann der Mensch zum Geist finden – zu dem umfassenden Geistigen, das die ganze Welt durchwaltet, unerkannt, aber erkennbar, wenn der Mensch langsam ein Erkennender wird, indem sein eigener Geist in die Verwirklichung tritt, sich zu entfalten beginnt. Wenn der Mensch beginnt, im Denken eine wirkliche Realität zu erleben; wenn auch die Gedanken beginnen, wirkliches Leben zu gewinnen, gleichsam Wesen zu werden, nicht einfach nur abstrakte Begriffe oder gar bloße Worte bleiben – dann erlebt der Mensch in dieser Welt der Begriffe und in dem Phänomen des Denkens selbst die erste Offenbarung der Geistwelt. Und diese Welt kann sich dann immer weiter offenbaren – das ist Anthroposophie...
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All das, was mit diesen Worten anfänglich und ganz unvollkommen beschrieben und angedeutet ist, könnte und müsste noch viel umfassender ausgeführt werden – um es noch verständlicher zu machen, um es weiter zu entfalten, um es zu vertiefen...
Doch es soll zum Schluss noch ein anderer Aspekt berührt werden. Alles, was wir bisher angedeutet haben, kann der Mensch in sich selbst erfahren; ja, es ist sogar besser, wenn er sich in Stunden oder Momenten der Ruhe mit den Sinnen von der Welt abschließt, um die Wirklichkeiten, um die es hier geht, in seiner eigenen Seele zu finden und zu entfalten, zu stärken... Doch dann gibt es auch die Frage nach dem, was uns mit der Welt verbindet; was den Menschen mit dem anderen Menschen verbindet. Wie und wann entsteht eine Gemeinschaft? Wann entwickelt eine Gemeinschaft Stärke, wirkliche innere Stärke? Wann wird eine Gemeinschaft wahr?
Wir alle wissen um die Antwort, denn wir alle tragen diese Antwort tief in uns. Gemeinschaft wird dann wahr, wenn alles in wahrhaftiger Weise zusammenwirkt – wenn dies geschieht und gewollt wird, aktiv innerlich gewollt. Wenn das Verbindende eine Art wärmender Sonne wird, nach der man gleichsam dürstet, an der man sich stärkt und für die man sich zugleich auch voll verantwortlich fühlt, liebend...
Es ist furchtbar, wenn über Gemeinschaft geredet wird, während die Disharmonien in Wirklichkeit immer größer werden. Wirkliche Gemeinschaft kann nur wachsen, wenn man sich eines bewusst ist: Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der eigenen Seele die Gemeinschaft und der einzelne Andere wirklich auferstehen können und wenn in der Gemeinschaft des Einzelnen Kraft und Wesen sich herzlich aufgenommen entfalten kann. Es gibt Worte Rudolf Steiners („Heilsam ist nur...“), die genau diesen Gedanken enthalten, und man kann über sie tief meditieren. Werden sie gesprochen, wenn in einer Gemeinschaft in Wirklichkeit das Gift der Disharmonie wirkt, so werden sie durch die Unwahrhaftigkeit Teil dieses Giftes. Heilend können sie nur wirken, wenn man sie wahr und gleichsam staunend aufnehmen kann, um die reale Sehnsucht nach einer solchen Gemeinschaft immer stärker werden zu lassen. Dann aber wächst auch der Wille, diese Worte wahr zu machen...
Eine Gemeinschaft wird stark, wenn sie real wird. Bevor dies geschieht, ist sie in gewisser Weise ebenso ungeboren wie der Mensch, der noch nicht das Mysterium des Denkens erlebt hat, die Geburt des Denkens durch die Verbindung des abstrakten, schein-haften Denkens mit dem wirklichen, bewusst entfalteten Willen, der in das Denken hinaufgeführt wird. Das ist eine wirkliche Vermählung der innersten Seelenkräfte, aus der heraus der Geist geboren wird. Er ist dann noch immer ein Kind, aber er kann wachsen. Und so ist es auch mit der Gemeinschaft...
Es gibt nur eine Bedingung für die Geburt des aktiven Denkens: den inneren Willen dazu. Und es gibt nur eine Bedingung für den Geburtsmoment einer wirklichen Gemeinschaft: den wirklichen Willen zu einer solchen. Dann wird nicht mehr gefragt werden: Wozu soll ich das tun? Warum sollen wir uns treffen? Müssen wir das überhaupt? Sondern dann wird man die starke Sehnsucht danach spüren, dann wird man es wollen – und wird zugleich sein Bestes dazu beitragen wollen, dass alles, was auf diese Weise versucht wird, auch gelingt; dass es fruchtbar wird, dass es Lebenskräfte in sich trägt und hervorbringt; dass es der Gemeinschaft Stärke verleiht. Wenn die Seele des Menschen ihrem Willen diese Richtung geben kann, wird das Wesen der in einer solchen Gemeinschaft lebenden Liebe immer leuchtender hervortreten...
Alles, was es braucht, ist die Entdeckung, die Geburt des guten Willens in der eigenen Seele. Der Wille ist das Geheimnis der Stärke. Der gute Wille ist das Geheimnis einer Gemeinschaft...