03.10.2013

Die Frage nach dem Ewigen

Gedanken im Zusammenhang mit dem Werk "Todtenkränze" von Johann Christoph von Zedlitz.


Was ist der Mensch, wenn alles vergänglich ist? Hat irgendein Streben einen Sinn? Haben große Taten, hat der größte Ruhm einen Sinn, wenn der Mensch ja doch einst – oder schon längst – im Grab liegt und nicht mehr ist?

Natürlich liegt in einer solchen Frage schon eine bestimmte Richtung der Betrachtung. In ihr liegt bereits das Urteil, dass dies so sei, und die ganze Sicht eines Menschen, der die Frage so stellt und schon vorab halb beantwortet, ist ganz auf das Irdisch-Sichtbare gerichtet, deutlich zu der Meinung hin tendierend, dieses sei das einzig Wirkliche. – Und wie sehr kann ein Mensch mit dieser Frage ringen, wenn er von materialistischen Überzeugungen bereits angekränkelt, wenn auch noch nicht ganz durchdrungen und „imprägniert“ ist! 

Ein sehr berührendes Ringen offenbart sich in einem Werk des heute sehr unbekannten Joseph Christian von Zedlitz (1790-1862). Zedlitz, Zeitgenosse von Eichendorff und Byron, schrieb unter anderem die tief romantische Erzählung „Waldfräulein“. Auch war er der Verfasser der österreichischen Volkshymne, die von 1836 bis 1854 in Gebrauch war. Als sein Hauptwerk gelten jedoch die „Todtenkränze“ (1828), deren Inhalt und Verlauf wir hier verfolgen wollen.

Gleich in der ersten Strophe wird der Leser mitten in das dramatische Thema hineingenommen – die Frage nach und der Zweifel an dem Wert und der Bedeutung dessen, was in der Seele des Menschen an Idealen, an Sehnsucht, an Gewissen lebt:

1. | Mich hatte Waldesdunkel eingeschlossen,
Und in Betrachtung lag ich tief versunken,
Von Bildern meiner Träume rings umwoben:
Was soll, o Herz, die Gluth, von der du trunken: –
So rief ich laut, und meine Thränen flossen –
Was willst du denn, von Sehnsucht stets gehoben,
Mit deinem wilden Toben?
Verzehrst du dich, um Schatten zu erfassen,
Und willst für ein Phantom von Seyn und Leben
Das Leben selbst mit deinen Freuden geben!

Willst du, dein eigner Feind, dich selber hassen?
O, gib sie auf, die täuschenden Gestalten,
Sie scheinen nur und sind nicht fest zu halten!


Doch in derselben Seele erhebt sich eine andere Stimme, die in dem, was hier in der Seele wirkt, etwas Göttliches empfindet und weiß:

2. | Nein! – tönt es wider aus der Seele Tiefen –
Was dich auf Flügeln oft empor getragen,
Das mit des Himmels Flammen dich durchglühet,
Was dir so stürmend in der Brust geschlagen,
Es waren Gottes Stimmen, welche riefen,
Sein sel’ger Athem, der in dir gesprühet!

Die Blumen, die erblühet,
Gekeimt, gewurzelt in des Daseyns Grunde,
Von jenem Strahl erwärmet und beleuchtet,
Vom Thau der hohen Wehmuth angefeuchtet,
Sie bricht der Sturm nicht einer bösen Stunde!
Was du gefühlt, es war unsterblich Leben,
Nicht Schatten, die zerrinnen und verschweben!


Doch wieder verwandelt sich dies unmerklich in eine Frage, in einen Zweifel:

3. | Des Ruhmes Eiche, die zum Himmel strebet;
Der Liebe Rosen, die erglühend bluten
Im grünen Blätterbrand, aus dessen Grunde
Der Nachtigallen Lieder wehn und fluthen;
Das schlanke Reis, das ob dem Haupte schwebet
Der hohen Sänger, die mit wahrem Munde
Der ew’gen Zeichen Kunde
Zum süßen Klang der goldnen Harfe hauchen:
Die edlen Zweige alle, umgebogen
Zu Kronen, auf den Locken uns zu wogen,
In Duft und Glanz die Stirne uns zu tauchen –
Die Kränze wären nicht der Schmuck des Lebens,
Und der sie fand, er lebte doch vergebens? –


Dramatisch stehen sich wie ein Gegensatz die unausweichliche Vergänglichkeit und das Reich der Ideale gegenüber:

4. | [...]
Seht hin! – Was einst gebrannt in lichten Farben,
Wie es erbleicht, wie alle Schimmer starben,
Verwesungshauch an jedem Leben hanget,
Und nur allein unsterblich sich verkündet
Das Ideal, das unsre Brust entzündet!


Und schon hier, ganz zu Beginn, finden wir im Grunde das Bekenntnis von Zedlitz, seine Antwort auf die aufgeworfene Frage: Das, was im Menschen als Kraft der Begeisterung lebt, verbürgt die göttliche Herkunft des Menschen. Sie ist der Quell alles Lebens und alles dessen, was dem Leben Wert gibt, was Wertvolles und Wesentliches hervorbringt:

5. | Ein Kern des Lichts fließt aus in hundert Strahlen,
Die gottentflammte Abkunft zu bewähren,
Begeistrung ist die Sonne, die das Leben
Befruchtet, tränkt, und reift in allen Sphären!

In welchem Spiegel sich ihr Bild mag malen,
Mag sie im Liede kühn die Flügel heben,
Mag Herz zu Herz sie streben,
Sie sucht das Höchste stets, wie sie’s erkennet! –
Längst im Gemeinen wär’ die Welt zerfallen,
Längst wären ohne sie zerstäubt die Hallen
Des Tempels, wo die Himmelsflamme brennet;

Sie ist der Born, der ew’ges Leben quillet,
Vom Leben stammt, allein mit Leben füllet. –


Ein vernichtendes Urteil dagegen trifft die „Lauen“, die diese innere Kraft nicht empfinden, sondern sich träge von der Sucht nach äußerlichem Wohlgenuss einschläfern lassen:

6. | Was auf der Erde Großes je geschehen,
Im Busen derer ist es nicht entsprossen,
Die antheillos sich schaukeln auf den Wogen
Der üpp’gen Lust, von hohlem Schaum umflossen!

Das Auge, das die neue Welt gesehen
Auf jenem andern, fernen Erdenbogen,
Das durch die Nacht geflogen,
Die unbekannte, die sie überdecket.
Das sie gesehn, mit Wunderglanz erfüllet,
Als dichte Schleier sie noch eingehüllt,
Und unbeschiffte Meere sie verstecket.
Das innre Auge war’s, das sie erschauet,
Begeistrung war’s, vor der den Schwachen grauet!


Doch nun tritt eine neue, gesteigerte Dramatik ein. Nicht mehr innere Stimmen sind es, nicht mehr die Seele selbst, die hier mit sich ringt, sondern eine reale schattenhafte Gestalt tritt mächtig auf, deren Wesen es ist, der Seele jede Hoffnung nehmen zu wollen, alles Göttliche zu leugnen:

7. | „Wahnwitz’ger Träumer!“ tönt’s in meiner Nähe, –
Und wie mein Aug’ ich, thränenschwer, erhebe,
Dehnt neben mir die riesenhaften Glieder
Ein Schemen, grauenvoll, so daß ich bebe!
Wer bist Du, rief ich, Geist, den ich hier sehe?
„Der Geist des Grabes?“ also tönt es wider! –
„Ich kam zu Dir hernieder,
Daß ich Dich führe, wo die Thoren modern,
Die, so wie Du, einst träumten Lichtgedanken;

Bis daß der Boden, der sie trug, zu wanken
Begann, und wild die Flamm’ empor zu lodern,
Die ihre Brust gefüllt. Sie hat verzehret
Das Feuer, das auch sie einst treu genähret.“


Und dieser Schemen, dieser Geist des Grabes, fährt fort:

8. | „An ihren Gräbern will ich Dich dann fragen:
Sind diese, die hier liegen, zu beneiden? –
Du hast mit wonn- und wehmuthvollen Schauern
Die Namen oft genannt, Dich dran zu weiden;
[...]
Die Kränz’ und Kronen, die so reich Dir dünken,
In ihren Locken sah ich sie einst blinken,
Als sie berauscht noch von dem Lebensweine!
Auf, folge mir! Dann sollst Du selbst erkennen,
Ob Wahrheit, was Du fühlst, ob Trug zu nennen!“ –


Und nun ergreift der Schemen den Erzähler und führt ihn in nächtlichem Flug über Wälder und Ströme, über Städte und Weiler hin zu den Orten, wo große Geister der Weltgeschichte oder zumindest ihre Gebeine die Totenruhe halten. Zuerst führt der Geist ihn in die Krypta des Karthäuser-Klosters bei Jitschin in Nordböhmen, wo sich die Grablege Wallensteins befindet:

13. | „Sieh dieses Haupt, verweset und zerfallen!“ –
So sprach der Geist: – „Der Mann war hoch gehalten,
Deß Seele dieß Gehäuse hier einst hegte.
Kein König, sah man ihn wie Kön’ge schalten,
Von seinem Herrscherwort die Welt erschallen!
Wenn auch sein Blick nur drohend sich bewegte,
Da, stumm und lautlos, regte
Kein Athem sich in dreißigtausend Kriegern;
Und Helden, die den Tod mit Lachen sehen,
Sie konnten nicht vor seinem Auge stehen,
Wenn zürnend er entgegen trat den Siegern! –
So taucht’ er auf wie blut’ge Himmelslichter,
Des eignen Glückes Schöpfer und Vernichter!“


Dann führt ihn der Geist des Grabes über weite Meeresflächen auf eine Insel, zu dem Grab Napoleons:

25. | Daneben lag zerstreuet auf dem Boden
Ein Königszepter und zerbrochne Kronen,
Und Hermelinschmuck, wie bei Herrscherleichen.
Dieß Alles war vom Schicksal ohne Schonen
Umhergeworfen, wie zum Hohn dem Todten.
Entfärbt sah man den Purpursammt nun bleichen,
Und wüst entstellt die reichen
Wahrzeichen hingeschwundner Herrlichkeiten!


Der Erzähler trauert angesichts dieser Tragik und verteidigt den Gestorbenen gegen all jenen feigen Hohn und Spott, der sich erst nach dem Tod dieses Herrschers hervorwagte. Dann aber weist er auf das tiefe Glück von Liebenden hin – und der Schemen entführt ihn weiter, an das Grab der von Petrarca besungenen Laura. Und er weist darauf hin, dass auch die Liebe nur Rausch sei, dass darüber hinaus schon im Leben nur Leid walte:

39. | „Und dennoch sag’ ich Dir, daß mehr der Thränen
Geflossen sind aus Laura’s süßen Augen,
Mehr Vipern an Petrarca’s Brust gehangen,
Die Ströme seines Blutes draus zu saugen,
Ihn zu zerfleischen mit den gift’gen Zähnen,
Als je genetzet zarte Rosenwangen,
Je eine Brust umschlangen! [...]
40. | [...] Und dieser Rausch, Wahnsinn so lang’ er währet,
Durch Eures Blutes Wallungen genähret,
Der, wenn er nicht mehr wächst, auch schon geendet,
Der, meinst Du, sey des Lebens höchste Krone?“ –
So sprach der Geist, mit Mitleid halb und Hohne!


Und weiter führt er den Erzähler, zum Grabe von Romeo und Julia. Die Liebe stirbt entweder früh und tragisch – oder aber die Leiber welken dahin und vergehen allmählich, immer aber sicher, der Schnitter Tod ist unerbittlich:

50. | [...] Gebrochen muß der Baum vom Sturme werden,
Und wird er’s nicht, so schaun wir bald entstellet,
Vertrocknet, laublos seine Wipfel stehen!
Vergessen und Vergehen!
Das ist ihr Ende! Steht sie voll in Aehren,
Kommt sie der Tod zu mähn; wo nicht, zerstäubet
Sie allgemach, daß kaum die Hülse bleibet;


Der Erzähler entgegnet dem Geist mit seinem Glauben an das Schöne, an die Verbindung mit dem Göttlichen, an die Wonne des schöpferischen Wirkens. Und doch kann er hier Schein und Wirklichkeit nicht klar trennen, würde er scheinbar auch den Wahn in Kauf nehmen:

51. | Mißgünstiger Geist! warum willst Du mich höhnen?
Warum – antwortet’ ich – willst Du mir rauben,
Was mich beglückt, was mir die Welt geschmücket,
Was in mir lebte wandellos: den Glauben
An jene Gaben, die das Seyn verschönen? –
Und wär’ es so, hätt’ uns ein Wahn berücket,
Phantome uns entzücket:
Ein Glück doch lebt, lebt, weil’s, bewußtes Träumen,
Entbehren kann, was ist; weil, vielgestaltet,
Es Schein und Wahrheit bindet und entfaltet,
Die Erd’ emporhebt zu den Himmelsräumen,
Und mit allmächt’gem, schöpferischem Werde
Den Himmel jauchzend niederführt zur Erde!


Weiter führt ihn der Geist über das Meer nach Rom, in das Kloster von San Onofrio, wo sich das Grab Torquato Tassos befindet. Diesem Dichter, der ein tragisches Leben führte, wozu schließlich auch lange Jahre der Armut, Gefangenschaft und zunehmenden „Geisteskrankheit“ gehörten, sollte auf Betreiben des Papstes schließlich doch noch am 25. April 1595 eine feierliche Dichterkrönung zuteil werden – doch Tasso starb mit nur 51 Jahren am Tage davor.

Der Erzähler hat Mitleid mit Tasso, dessen Genius schon im Leben zumeist gar nicht erkannt wurde:

64. | O, flieh, Torquato, laß Dich nicht bethören! –
Weil Deinem Haupte Kränze sie gewunden,
Weil Du vielleicht ihr Auge feucht gesehen,
Meinst Du, sie fühlen mit, was Du empfunden?
Weil sie Dein Werk nicht ohne Rührung hören,
Glaubst Du, bewegt, daß sie Dein Herz verstehen,
Auf Deinen Bahnen gehen? [...]
65. | Unsel’ger Irrthum, der Dich hat geblendet!
Ein Gaukler bist Du, ihre Zeit zu würzen,
Um, vorgerufen nach dem üpp’gen Mahle,
Den trägen Lauf der Stunden zu verkürzen!
Man schickt Dich fort, wenn Du Dein Lied geendet! –


Die Krankheit Tassos führt dazu, dass er noch zu Lebzeiten sogar dem Spott verfallen muss:

68. | Doch nicht der Tod, die Schmach ist Dir bereitet!
Damit Dein Name früher als Dein Leben
Vernichtet sey, und Du ein Ziel dem Hohne,
Dem Pöbel zur Verachtung Preis gegeben;


Und doch kann dies niemals den bleibenden Wert seiner Dichtungen mindern, der auch immer wieder erkannt werden wird:

69. | Doch, ob sie’s wünschen mögen und erstreben,
Der Funke bleibt Dir, den Dir Gott gegeben!
Bald steht die Welt erstaunt, was Du gedichtet,
Begierig athmet sie die Wunderklänge
Begeisterter, unsterblicher Gesänge! –


Und nun deutet der Dichter auf jene Sphäre, in der real dasjenige geschieht, was Ewigkeitswert hat:

75. | [...] Es naht der Zug, zur Feier Dich zu rufen –
Da sieht man todt Dich an der Pforte Stufen! –
76. | Zu andrem Feste hatte Dich indessen
Der abgerufen, der die Kränze spendet;

Der, wenn der Tag der Herrlichkeit erschienen,
Mit goldner Tuba seine Boten sendet!
Zum Kapitol, nach Sonnen auszumessen,
Geleiten Dich die Geister, die dort dienen
Am Throne von Rubinen! –
Dort wird ein Kranz die Stirne Dir umgeben,
Von Lorbeer nicht, von abgewelktem, fahlen,
Ein lichter Sternenkreis mit tausend Strahlen
Soll Dir, verklärend, ob dem Haupte schweben;


Weiter führt ihn der Geist zum Grabe Byrons, der in seinen Werken stets einsame Helden beschreibt, denen das Glück versagt bleibt. Byron selbst starb im griechischen Freiheitskampf, an dem er teilnahm.

Doch nach alledem regt sich im Dichter-Erzähler erneut das Empfinden der Wahrheit. Auch weist er nun darauf hin, dass es neben denjenigen Taten und Impulsen, die etwas wahrhaft Bleibendes haben, auch ähnliche Impulse geben kann, die sich aber an das Niedere im Menschen knüpfen:

90. | Arglist’ger Geist, Du sollst mich nicht berücken!
Gab ich zur Antwort. – Jene Grabeshügel,
Zu denen Du mich leitend hast getragen,
Auf rascher Lüfte leichtbewegtem Flügel,
Wohl glaub’ ich, daß sie wunde Herzen drücken!
Doch warum zeigst Du diese? laß mich fragen. –
In den vergangnen Tagen,
Wie in den unsern, hat die Welt gesehen
Befleckt den Lorbeer durch der Ehrsucht Streben,
Sah Liebe sich unsel’ge Bande weben,
Und Phantasie das Leben mißverstehen!


Nun aber deutet der Dichter ganz direkt auf jene Impulse im menschlichen Wesen, die wirkliche Beziehung zum Ewigen haben:

91. | Und darf der Kranz nur Lieb’ und Lieder lohnen?
Bestrahlt der Ruhm nur bloß den Schmuck der Waffen?
Gnügt einzig denn, daß für die Pflicht man sterbe?
Für sie zu leben und für sie zu schaffen,
Ist es so wenig, daß an jene Kronen
Kein Anrecht sich ein großes Herz erwerbe?
Bleibt von dem reichen Erbe
Entfernt der Edle, der für’s Recht geglühet? –
Wer für das Glück von kommenden Geschlechten
Treulich gewacht in schlummerlosen Nächten,
Wer für die Mitwelt rastlos sich gemühet,
Wer ihr Gedeihn, das eigne nie, ermessen,
Wird ihm kein Kranz? bleibt er vom Ruhm vergessen?


Der Geist des Grabes führt den Erzähler nun noch nach Westminster Abbey, zum Grab Georg Cannings, der 1827 für kurze Zeit britischer Premierminister war und dann starb – ein Jahr, bevor die „Todtenkränze“ erschienen. Und nun spricht der Geist von der Sinnlosigkeit alles Strebens nach Recht, Freiheit und Tugend:

103. | „Und hat die Welt viel besser sich befunden
Als er gelebt, war anders sie gestaltet,
War sie gesegneter, war sie in Frieden,
Hat Glück und Ruhe mehr als itzt gewaltet? – –
Und ist denn Wohl und Heil mit ihm geschwunden,
Steht nun die Erde, seit er weggeschieden,
In Flammen, ist hienieden
Nicht Recht, nicht Ordnung, Tugend mehr zu schauen? –
Nicht Freiheit braucht der Mensch, er braucht der Schranken,
Und wenig nur wird er es denen danken,
Die seinem Geist die Himmelsleiter bauen,
Daß er sich schwing’ auf morgenhellem Gleise
Von Licht zu Licht in immer höh’re Kreise!“


Und zuletzt führt der Geist an das Grab von Kaiser Joseph I., der 1711 im Alter von 32 Jahren während einer Pockenepidemie starb. Erneut spricht der Geist des Grabes von der Gleichgültigkeit von Wahrheit und Irrtum, man solle die Welt fern dieser Fragen ihren Gang gehen lassen:

116. | „Dieß ist das Glück, das große Seelen lohnet,
Dieß ist der Preis für jedes hehre Streben,
Das sich sein Ziel auf Sonnenhöhen stecket! –
Wer’s gut meint mit der Welt, der läßt sie eben
Auf breitgetretner Spur, wie sie’s gewohnet!
Wenn nach dem Schleier, der die Wahrheit decket,
Die Hand er ausgestrecket,
Hat sich der Mensch doch Zweifel nur gewonnen!
Ob echt, ob falsch, er grüble nicht, er glaube!
Gleich viel für dieß Geschlecht von Koth und Staube,
Trinkt es der Wahrheit, trinkt’s des Irrthums Bronnen,
Und immer bleibt’s am sichersten geborgen,
Wenn Träumer nicht, es aufzuklären, sorgen!“ –


Doch leuchtend steigt jetzt das Bekenntnis des Dichters auf, der den Geist nun auch bei seinem anderen wahren Namen nennt:

117. | Hinweg von mir, mit Deiner schnöden Lehre,
Du Geist der Lüge, der des Hohen spottet,

Und doch sein himmlisch Leben muß erkennen,
Das schaler Weltwitz noch nicht ausgerottet!
Und Eure Zahl, wenn Legion sie wäre,
Wie dürft Ihr wagen, Träumer die zu nennen,
Die gottbegeistert brennen,
Das edle Menschenbild, das Ihr geschändet,
Aus der Erniedrigung, des Wahnes Ketten,
Zu seiner Würde reinem Glanz zu retten!

Kommt einer nur herab, von Gott gesendet,
Ein einziger wie der, in hundert Jahren,
Er gnügt, die Welt vor Eurer List zu wahren! –


Wo immer sich Begeisterung mit reinen Impulsen verbindet, entsteht etwas, was mit der göttlichen Welt in Zusammenhang steht. Es geht nicht um große Taten, es geht um das reale Streben der Seele. Auch nicht der äußere Ruhm ist entscheidend, ohnehin liegt das Gelingen nur bei Gott:

118. | [...] Was göttlich lautern Herzen sich verkündet,
Es wird bestehn, trotz aller Macht der Schlechten,
Begeist’rung wird’s mit edler Gluth verfechten,
Mit Gluth von reiner Flamme nur entzündet!
Urewig ist’s, wie Ihr es mögt bestreiten,

Was einmal wahr, bleibt wahr zu allen Zeiten! –
119. | Nicht die erobern nur, auch die erhalten,
Sind werth, daß sie der ew’ge Nachruhm kröne! –
Wie viele edle Schwerter sah man schwingen,
Damit das Recht endlich die Welt versöhne! –
Ob sich die Blüthen oder nicht entfalten,
In Gottes Händen lieget das Gelingen,
Doch edel sey das Ringen! – –


Und jetzt zieht der Erzähler auch den Schleier äußeren Truges von der Tragik vieler Lebensläufe fort. Nicht auf äußeres Glück kommt es an. Das Glück und der innere Wert eines Lebens, eines Leidens, werden auf ganz anderem Plane entschieden:

123. | Denn oft ist, was die Menschen Schmerzen nennen,
Für Jene Wonne, die in Flammen leben,

Und, wie Gewande von Asbest sich reinen
Im Element, vor dem die Schwachen beben;
So auch, obgleich nur Wenige sie kennen,
Gibt’s Thränen, die den Augen, die sie weinen,
Wie Maienthau erscheinen!


Dies jedoch werden nur diejenigen Menschen erfahren können, die eine reale Verbindung mit der Sphäre des Ewigen empfinden. Vor dem Hintergrund dieser Sphäre verlieren alle irdischen Kategorien ihre Gültigkeit, erweisen sich als bloßer Schein – während der Geist des Grabes und der Lüge gerade diese höhere Welt als Schein glauben machen will, das bloß Irdische als einzige Realität hinstellen will.

Der Erzähler jedoch weiß, dass die Begeisterung, die sich mit den höchsten Zielen und Strebensimpulsen verbindet, von vornherein nicht von dieser Welt ist, sondern eine Gabe des göttlichen Reiches selbst. Und er malt die Schrecken aus, die Wirklichkeit würden, wenn diese Gottes-Gabe aus den Seelen verschwinden würde:

125. | Und Weh’! wenn einst von dieser Erde scheiden
Begeist’rung sollt’, und sich zum Himmel schwingen!

Dann wird die alte Nacht uns wieder decken,
Ein Todesgrau’n durchs Mark der Schöpfung dringen!
Dann wird kein Trost die arme Seele weiden!
Der Frevel wird Verzweiflung, bleichen Schrecken
Aus ihren Höhlen wecken,
Der blut’ge Mord wird schreiten durch die Straßen,
Und Gott wird seyn das Ich! Mit Blut begossen,
Wird frech die üpp’ge Saat des Lasters sprossen,
Und, ungezügelt, wird der Wille lassen
Und thun was ihm gefällt! Kein Recht wird walten,
Kein Band der Liebe mehr die Menschen halten!

126. | Und Ehre wird, und Großmuth wird verschwinden,
Die Freundschaft wird ein eitel Mährlein scheinen;
Des Blutes Wallung wird zu schnödem Bunde,
Nicht Lieb’ und Treue mehr die Herzen einen, [...]
Verstummen wird im Munde
Des Sängers jedes Lied! Kein Wort wird tönen
Für der getretnen Unschuld heil’ge Sache,
Kein muth’ges Herz ersehn zu ihrer Wache,
Wenn Willkür, Haß und Uebermuth sie höhnen!
Dann folgt der Mensch, gleich wildem Thier der Wüste,
Dem blinden Drang nur wechselnder Gelüste! – –


Ohne das Streben nach dem Wahren und Guten wird der Mensch wie ein Tier nur den aufsteigenden niederen Trieben und Lüsten folgen. Ohne die Sehnsucht nach dem Guten, nach dem Göttlichen, gilt: Und Gott wird sein das Ich. Gemeint ist das niedere Ich, das keinerlei göttliche Ideale empfindet, sondern sich selbst mit all seinen unverwandelten Trieben an jene Stelle setzt, an der es die reinsten und höchsten Impulse empfinden könnte und sollte...

Immer wird der Mensch sich dieser Sphäre verbinden können, wenn er jene reine Begeisterung in sich zu entzünden weiß, die gleichbedeutend ist mit dem Streben nach Läuterung, dieses bereits mit umfasst. Gerade dies führt dazu, dass das äußere Leben fernab der breiten Straße den Ruhm der Welt oft gerade nicht finden wird, denn die Welt flieht und fürchtet den Pfad der Läuterung und der Selbstlosigkeit: 

128. | Und nicht an Priestern wird’s dem Tempel fehlen,
Und nicht an Treuen, die den Thron umstehen!
Doch wer sich Dir [der Begeisterung] geschworen zum Vasallen,
Der sey bereit auf rauhem Pfad zu gehen;
Des Weges Mühn darf er sich nicht verhehlen,
Denn breite Bahn nicht führt in Deine Hallen!
Soll Euch der Kranz umwallen,
Schlagt Euer Ich an’s Kreuz, und lernt ertragen!

Wie jene Tempelritter alter Zeiten,
Die, arm, noch zwei auf Einem Rosse reiten,
Sollt einen Strick Ihr und ein Schwert nur tragen!
Nicht Selbstsucht darf die Herzen Jener rühren,
Die Gottes Kreuz auf ihrem Mantel führen! –


Auf diesem Wege ist das wahre Glück zu finden – und dieses Glück durchzieht bleibend auch alles äußere Leiden:

129. | Doch Alle, die den Flammentrank getrunken,
Sind glücklich, ja, sie sind’s, ich will’s beschwören;
Denn ihren Ursprung haben sie empfunden,
Den göttlichen, unmöglich zu zerstören! [...]

Die einen hohen, himmlischen Gedanken
Genähret mit dem Marke ihres Lebens,
Die sich ein würdig Ziel gesetzt des Strebens,
In Wirken, Lieben, Leiden, ohne Wanken,

Sie waren selig, selig zum beneiden,
Und ihre Schmerzen wogen tausend Freuden! –


Ein letztes Mal versucht ihn der Geist des Grabes, indem er darauf hinweist, wie oft das Erstrebte überhaupt nicht erreicht wird, so dass das ganze Leben ein Scheitern wäre:

130. | „Und bist Du glücklich?“ – hört’ den Geist ich sprechen: –
„Du, der den Klügern schmäht, der frei von Sorgen
Im Schatten breiter Ruhe sich gebettet,
Zufrieden, wenn der feiste Leib geborgen? [...]
Sprich, bist Du glücklich, Du, deß ganzes Leben
Nach weitem Ziel ein leer vergeblich Streben?“ – [...]
132. | „Und was gewannst Du denn, daß Kalebs Traube
Du sahst und nicht gekostet? [...]
Daß Du für Traum die Wirklichkeit gegeben?“ –


Und die Antwort des Dichters ist: die innere Kraft, die Wirklichkeit und selbst das Scheitern zu tragen; gegenüber der äußeren Wirklichkeit ein unabhängiges, starkes, eigenes inneres Leben zu haben:

Den festen Muth, die Wirklichkeit zu tragen! –
Ich kann es sehn, wie das Verdienst im Staube;
Den Dünkel kann ich sehen, glanzumgeben,
Das hohle Haupt erheben;
Die Narren sitzen an der Weisen Stelle;
Die Tugend schmachten, elend und verlassen,
Indeß das Laster und der Unwerth prassen,
Und weg sie scheuchen von des Glückes Schwelle;
Den schlechten Baum gedeihn, vom Blitz getroffen
Den edlen Stamm – ich kann es sehn und – hoffen! –


Am Ende weist der Dichter auf jene Wesenheit, die die höchste Wirklichkeit ist:

133. | Und so laß mich die bess’re Zukunft grüßen,
Die in mir lebt, die ich im Geiste schaue!
Hin muß ich ziehn, dem jungen Tag entgegen,
Dem Sterne folgend, dem ich mich vertraue! [...]
Denn Einer, weiß ich, kreiset in den Sternen,
Und locket Harmonien aus ihrem Reigen,
Schwebt auf den Wassern, heißt die Stürme schweigen
Und läßt den Pharus leuchten in den Fernen!
Ihm fällt umsonst kein Saatkorn aus den Händen,
Ist’s Zeit, wird er die Ernte auch vollenden! –


Da muss der Geist der Lüge von ihm scheiden, und er selbst findet sich wieder allein, während die ihn umgebende Natur selbst wie vom Glanz der Ewigkeit überhaucht erscheint:

134. | [...] Da fand ich mich im selben Grün der Bäume,
Von Matten fern begränzt und blum’gen Heiden;
Dem Phönix ähnlich mit dem Gluthgefieder,
Ging hehr die Sonne nieder;
Hellgrüne Lichter spielten in den Zweigen,
In Rosen schien die Gegend zu zerrinnen,
Als wollte die Natur ein Fest beginnen,
Und strahlend sich im Prachtgewande zeigen!
Der Schemen aber, wie des Rauches Wehen,
Zufloß in Luft, und ward nicht mehr gesehen! –


Am Menschen selbst ist es, sich mit der Sphäre des Ewigen zu verbinden oder aber sein Leben nur dem zu verschreiben, was irdisch und vergänglich ist. Vergänglich ist die irdische Leiblichkeit, unvergänglich alles, was sich von dieser Vergänglichkeit reinigt, um an dem Anteil zu haben, was ewiges Sein und Wesen hat.

Der Mensch ist dazu bestimmt, an diesem Reich Anteil zu haben, denn er selbst hat ewiges Wesen, auch wenn der trügerische Schein einen undurchdringlichen Schleier darüber webt. Der Leib ist nur das vergängliche Kleid, er vergeht und wird einst abgelegt, doch ein neues Kleid wird angezogen... In der Welt des Irdischen kann der Mensch sein eigenes Wesen nicht finden, denn sein Wesen ist „nicht von dieser Welt“, es trägt in diese Welt etwas hinein, was in ihr allein niemals wäre.

Doch Zedlitz lebte in einer Zeit, in der die Ahnung des Geistes allmählich wie in einem realen Sonnenuntergang des Geistes unterging. Die Romantiker und die leuchtenden Geister des deutschen Idealismus verwandelten auch im Geistigen die „Landschaft“ in ein allumfassendes Abendglühen, „als wollte die Natur ein Fest beginnen“. Doch danach begann die dunkle Nacht des Materialismus, verlor der Mensch völlig das Erleben der Wirklichkeit des Geistigen, erschienen ihm alle Ideale tatsächlich nur wie Schemen, wie Illusion, wie „romantische Vorstellungen“.

Rudolf Steiner, ein Jahr vor Zedlitz' Tod geboren, hat die Wirklichkeit des Geistes dann wieder wie die strahlende Sonne eines neuen Tages offenbart, hat die Tore zu einem neuen, voll bewussten Erleben dieses Geistigen weit aufgestoßen. Seitdem muss der Mensch nicht mehr dem Geist des Grabes, der Lüge und des Zweifels verfallen. Seitdem kann er wissen, was das Wesen der Ideale ist, der Ideen, die ihm zum Ideal werden können; das Wesen dessen, was in ihm selbst sich der Welt des Wahren, Schönen und Guten innig verwandt fühlt und die Ideen zu den eigenen Idealen macht, um „immer strebend sich zu bemühen“.

Diese Welt des Ewigen ist nicht weit weg, der Mensch hat in sich einen Zusammenhang mit ihr. Und die göttliche Welt ist sogar selbst dem Menschen so nahe gekommen, wie es überhaupt nur möglich ist. „Es lebte Christus einst auf Erden...“ – was in diesen Worten aus den Mysteriendramen Rudolf Steiners liegt, das muss nur vollkommen ernst genommen werden, dann wird diese Welt zu dem eigentlich Realen, und der Zweifel verblasst wie ein Schemen, „wie des Rauches Wehen“. Die Läuterung der Seele ist dann noch immer ein langer, umfassender Weg, aber er wird mit Seelenfreude und Willen zum Geist betreten.