2013
Suche das Licht, das im Abendlande aufgeht
Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Suche das Licht, das im Abendlande aufgeht. Occident, 1994 (240 S., 19€). | Bestellen.
„Suche das Licht, das im Abendlande aufgeht“ ist das erste Buch, das Mieke Mosmuller 1994 veröffentlicht hat. Seitdem sind von ihr bereits über dreißig Bücher erschienen – darunter dreizehn Romane –, die alle ein gemeinsames Thema haben: die Spiritualisierung des Denkens, den inneren Entwicklungsweg, der den Menschen mit einer realen geistigen Welt verbindet.
Mit diesem ersten Buch gibt Mieke Mosmuller bereits den Weg, auf dem der Leser innerlich den entscheidenden Schritt verwirklichen kann, der der ganzen Anthroposophie zugrunde liegt: die Verwandlung des toten Intellekts, der Verstandes-Finsternis in „das Licht, das im Abendlande aufgeht“. Sie selbst formuliert es auf dem Buchrücken mit folgenden Worten:
"Gerade dort, wo die Dämmerung eintritt, finden wir das Licht, das Zweifel und Einsamkeit, wie auch Krankheit und Tod erleuchtet. [...] Es ist der Schritt des Selbst-Erlebens des Denkens, der eine Selbsterkenntnis ermöglicht, die einerseits einen wissenschaftlichen Charakter annimmt und die andererseits der Weg zu einer modernen Mystik ist."
Prolog
Im Prolog wird zunächst deutlich, dass die Philosophie ursprünglich ein Ideal hatte: zu einer Harmonie im Denken zu kommen, in der es keinen einzigen dunklen, nicht durchdachten Punkt gibt. Dieses Ideal war zugleich religiös, denn es wurde dem Denken selbst vertraut. Es kommt darauf an, einen zunächst ganz voraussetzungslosen Standpunkt zu finden, von dem aus eine erste Frage gestellt werden kann. Aber daneben kann der Mensch sein Bewusstsein auch von allen übrigen Inhalten lösen und auf den Prozess der Selbstwahrnehmung richten:
"Man findet den Geist, so wie dieser sich in seiner ersten Gestalt offenbart, in der Gestalt der ureigenen menschlich geistigen Aktivität, in der Gestalt des eigenen geistigen Seins." (S. 42)
"Dieses Wahrnehmen der Wahrnehmung ist zur gleichen Zeit ein Denken über das Denken. Hier findet der Mensch das Gebiet, in dem das Denken wirklich lebt; er erlebt die Quelle, aus der alle Aktivität entspringt.
Ich habe mir zur Aufgabe gestellt, durch Philosophie diesen Punkt der Menschwerdung im Denken zu finden und zu beweisen, daß dieser Punkt im Denken eine wirkliche Menschwerdung ist." (S. 43)
Philosophia
In dem Kapitel „Philosophia“ betritt Mieke Mosmuller mit dem Leser das Reich des Denkens. Die Frage ist, welche Bedeutung das Denken hat: Kann der Mensch durch das Denken eine Verbindung mit der Welt, eine wahre Erkenntnis der Welt erreichen? Die erste Frage muss diejenige nach der Erkenntnis selbst sein!
Um aber das Denken kennenzulernen, muss es in Gang gesetzt werden. Es muss wirklich kennengelernt werden – es reicht nicht, Theorien über das Denken zu bilden, denn auch diese können wahr oder falsch sein:
"Der Zweifel kann deshalb nur überwunden werden, wenn es einen wirklichen Unterschied zwischen dem Denken über das Denken und dem Denken über alles Übrige gibt. Und dieser Unterschied muß gerade die Sicherheit sein. Denn im Erkennen alles Übrigen lebt immer Zweifel durch Unsicherheit über den Wert des Denkens." (S. 54)
Der Zweifel am Denken kann deshalb so stark werden, weil man nicht nur „alles denken“ kann, sondern weil das Denken generell abstrakt geworden ist und einen Scheincharakter hat. Es wird nicht als „wirklich“ erfahren. Im Unterschied zu allen Assoziationen, die passiv auftreten, kann das Denken jedoch aktiv in Gang gesetzt werden. Der Unterschied liegt darin, dass dieses wahre, freie Denken willentlich geschehen muss, dass sich hier der Wille mit dem Denken verbindet.
In diesem wirklichen Denken nun findet der Mensch sich selbst als Denker, als schaffendes, tätiges Wesen. Zugleich gibt es in diesem bewussten, willentlichen Denken keinen einzigen undurchschauten Punkt. Alles, was gedacht wird, ist im Denken zugleich auch verstanden. Hier liegt ein alles entscheidender Punkt:
"Der Mensch, der diesen Punkt in seinem Bewußtsein in der Tat gefunden hat – also nicht nur als eine Vorstellung, sondern wirklich als Tat – bringt damit dasjenige ans Licht, das sonst immer alles Übrige beleuchtet, doch selbst stets im Dunkeln bleibt. Wenn das Licht des Denkens sich selbst beleuchtet, wird es aus der Finsternis, wo es immer als Schein erlebt wird, erlöst und es wird zur neuen wahrnehmbaren Substanz, [...] erfaßbar mit dem Denk Sinn, dem Sinn, der das Ich ist. [...]
Der Mensch, der im Alltag hingegeben allem übrigen lebt, gebärt sich selbst, wenn er sich als Wesen im Denken in Erscheinung bringt. Ein neuer Mensch, ein zweiter, höherer Mensch wird geboren." (S. 72f)
Im Folgenden zeigt Mieke Mosmuller, wie die Frage des Denkens bei Hegel, Heidegger, Krishnamurti und Steiner lebte. Dabei macht sie darauf aufmerksam, dass Steiner in seiner „Philosophie der Freiheit“ philosophisch vom gewöhnlichen Denken und Vorstellungsleben ausgeht und auf denjenigen Punkt hinarbeitet, wo der Leser selbst durch die Erfahrung des eigenen Denkens das konkrete Willensleben erreicht; wo das Denken zugleich Wille ist – zu einer erlebten Realität wird. Damit ist der Übergang zur Wissenschaft gefunden, denn:
"Die Ich-Erfahrung ist der Punkt, in dem Realität und Subjektivität völlig zusammenfallen. Wird man in diesem Punkt stark, findet man die Möglichkeit, mit Erhaltung dieser Ich-Erfahrung das Realitätsdenken auf alles Übrige zu richten. So denkt man nicht mehr sich selbst, sondern man denkt die Wirklichkeit. Das Denken tritt aus sich heraus und erfaßt die Dinge von innen." (S. 116)
Wissenschaft
In Abschnitt „Wissenschaft“ untersucht Mieke Mosmuller zunächst das mathematische Denken – ein reines Denken, das nicht mehr über das Denken selbst, aber auch noch nicht über alles Übrige denkt. An den geometrischen Begriffen kann man erleben, dass das Denken über elementare Begriffskategorien wie Quantität, Beziehung usw. verfügt. Auch dieses Denken kann innerliche Erfahrung werden – und gerade indem er es auf diese Weise durch und durch erkennt, gewinnt der Mensch Sicherheit über das Denken.
Dennoch besteht die Wirklichkeit nicht nur aus Zahlen und mathematischen Begriffen. Die empirische Wissenschaft vertritt den anderen Pol, sie geht unmittelbar von „allem Übrigen“ aus und lässt sich durch das Experiment bestimmen. Auch der Arzt geht empirisch vor. Sein Können besteht einerseits in der unbefangenen Wahrnehmung der Phänomene, nachdem er sich zuvor tiefgehend die spezifischen, inhaltsreichen Begriffskategorien der Heilkunst angeeignet hat. Der gute Arzt hat keine voreiligen Hypothesen, sondern lässt sein differenziertes Denken durch die Wahrnehmungen befruchten. In dieser harmonischen Verbindung von Denken und Wahrnehmung lag nun Goethes große Leistung:
"Goethe hat nun die Qualität des mathematischen Denkens – nämlich die Fähigkeit des Denkens, um Urphänomene aufzufinden, umfassende Begriffe, die in der Wirklichkeit in Mannigfaltigkeit in Erscheinung getreten sind und die alle zum Begriff gehörenden Erscheinungen in sich schließen – auch im Denken anhand der Sinneswahrnehmung der lebendigen Natur durchgeführt. [...] Sein Denken folgte ganz offen und kräftig – voll innerer Aktivität – dieser reinen Sinneswahrnehmung und empfing anhand dieser Wahrnehmung, jedoch nicht aus dieser Wahrnehmung, sondern aus dem Geiste heraus, die urphänomenalen Begriffe. Geist des Menschen Goethe und lebendige Wirklichkeit klangen dann zusammen und fanden sich in der wahren Wirklichkeit." (S. 138f)
Nun geht Mieke Mosmuller auf die Meditation ein. Denn in der Regel verlieren wir im Denken über „alles Übrige“ unsere Sicherheit, weil uns dann das Denken selbst entschlüpft und die Frage bleibt, welche Beziehung unsere Vorstellungen zur Wahrheit haben und welchen Wert das Denken im Erkenntnisprozess hat. Das Denken ist zu schwach, um innerhalb des Reichtums der Sinneseindrücke selbstbewusst erhalten zu bleiben. Es muss zuerst erstarkt werden – und der Weg dazu ist die Meditation. Meditation im Sinne der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners bedeutet, das eigentliche Instrument der Wissenschaft – das Denken – überhaupt erst völlig in die Beherrschung zu bekommen. Zugleich wird durch die Übung der Meditation das Denken in Abstraktionen überwunden. Im Laufe dieser fortwährenden Stärkung des Denkens kommt einmal der Punkt, wo die Denkkraft selbst real wahrgenommen wird:
"In diesem Moment schaut der Mensch: der Abgrund zwischen Ich und Welt ist nur im abstrakten Schein des Denkens da. Die entfaltete innere Aktivität im meditativen Denk Erleben hat die Denkkraft, die den Denkinhalt hervorbringt, spürbar, fühlbar gemacht. Diese Kraft nun wird als lebend im eigenen Denken und zugleich als denkende, schöpferische Kraft in der Natur gesehen. [...] Man hat nicht den sämtlichen Inhalt der Schöpfung verstanden, sondern man sieht durch das lebendige Denken die Kraft, die einerseits eine reelle in der Welt schaffende Kraft ist, die dagegen andererseits die Begriffe im menschlichen Bewußtsein beleuchtet. Die bewegende, flutende Denkkraft ist die Vereinigung zwischen dem Ich mit seinen Begriffen und der Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten, weil sie beide ist. [...]
Und wir wissen jetzt, daß dieser in uns vorgehende Prozeß, der zugleich im Wahrnehmen verläuft und den wir bereits im Kindesalter entwickelt haben, der in unserem Bewußtsein lebende Teil einer Wirklichkeit ist, die auch ohne unser Zutun so unterschieden ist, wie wir sie durch das Denken unterscheiden." (S. 148f)
Kann der Mensch aktiv in dem Übergang vom (aktiven) Nicht-Denken zum Denken verweilen, so erlebt er, wie hier der Übergang vom reinen Sein, das zugleich Erfahrung ist, zum Schein liegt, der zwar begriffen, aber nicht mehr Erfahrung ist. Im Gleichgewichtspunkt des Überganges selbst ist diese Trennung aber aufgehoben, denn:
"Dieser Punkt ist begriffene Erfahrung, erlebter Begriff, wenn ich, der Denker, das Denken selber in Gang setze. [...] Wir gehen nicht automatisch in Reflektieren über, [...] wir schauen uns als begreifendes Wesen, wir verstehen das Begreifen als Phänomen. [...]
So wissen wir durch das Erleben des Begreifens, wann wir im Erkennen abstrakt begreifen und wann die Dinge sich in uns begreifen." (S. 167f)
Diese reine Verbindung von Wahrnehmung und Denken, in der wir nicht unser eigenen Vorstellungen und Vorurteile in die Welt hineintragen und in der die Erkenntnis auch nicht zur Abstraktion erstirbt, kann nun auch die menschliche Begegnung selbst beleben. Auf diese Weise wäre wirkliche Ich-Du-Begegnung und soziale Erneuerung möglich.
Liebe
Im nächsten Kapitel entwickelt Mieke Mosmuller ausgehend von der Frage, ob man auch auf dem Gebiet des Guten Sicherheit gewinnen kann, den reinen Begriff der Liebe. Sie führt den Leser von der Besitzgier über die Blutsliebe und die reine Kindesliebe zu immer höheren Formen der Liebe. In Platons „Symposion“ findet man die Philosophie als Liebe zur Schönheit und Reinheit des sinnlichkeitsfreien Denkens, der Weisheit. Indem der Mensch sich selbst als Quell dieser höchsten Gedanken erlebt, findet er sich nach Gottes Ebenbild geschaffen:
"Das Einzige, das wir im Abendland als reelle göttliche Kraft behalten haben, ist nicht der religiöse Inhalt unseres Vorstellungslebens, sondern dasjenige, was wir aus uns selbst zum göttlichen Gleichnis (Ebenbild) machen wollen." (S. 190)
Die erweckte, erlebte Denkkraft kann als denkende Liebe, als liebendes Denken in den Willen hineingeführt werden:
"Wahrhaftige Tugend wird entwickelt, wenn diese liebende Denkkraft unsere Motive empfängt und wir diese Kraft im Bewusstsein der Handlung erhalten können. Diese wahrhaftige Tugend ist die durch Sicherheit über den Ursprung des Motivs aus dem guten Willen, aus dem Besten getragene Liebe zur Tat." (S. 196)
Besinnung
Zu Beginn dieses Kapitels zieht Mieke Mosmuller ein Resumée der weitreichenden Erkenntnisse:
"Das Ich wird an Hand alles Übrigen zum Gedanken. In diesem Ich, das in tätiger Hingabe an der Welt schweigt, denkt sich diese Welt. Das Hereintreten dieser Weltgedanken im wollenden Ich ist die reine Liebe, die zu Taten anfeuert, die ganz mit der Wahrheit des eigenen Ichs und mit der Wahrheit in der Welt übereinstimmen. [...]
Dieses neue Denken kehrt sich nicht – wie das abstrakte Denken – vom Körper und Leben ab, sondern erlebt sich als bewußtgewordene Lebenskraft, die aus derselben Quelle kommt, als die organische Lebenskräfte, und die dieses Organische in all seinen Wirkungen zu erforschen und zu durchdringen vermag." (S. 200f)
Für die an ihr Ende gekommene, erstorbene Philosophie kann es nur eine Zukunft geben:
"Die Philosophie muß aus sich heraustreten und keine reflexive Wissenschaft mehr sein wollen, durch die kräftige Begierde und die feurige Sehnsucht nach einer Weisheit, die im Durchstoßen des Vorstellungslebens gefunden wird." (S. 202)
"Die von mir in dieser Schrift hervorgebrachte Philosophie könnte man eine Radikalisierung des Denkens nennen, als das einzige Phänomen, das ohne Vorstellung unmittelbar gedacht werden kann. Denn es sprießt unmittelbar aus dem Ich hervor. [...] In demjenigen Denken, das vom Ich-Bewußtsein getan wird, finden wir ein Seiendes ohne Seinsvergessenheit. [...] Das Sein finden wir in dem ‚Ich bin’. Und in diesem ‚Ich bin’ finden wir das Sein alles übrigen Seienden." (S. 205)
Epilog
Im Epilog gibt Mieke Mosmuller einen Ausblick auf die Geistesforschung. Das Finden des realen, lebendigen Denkens als wirkliche Kraft führt den Menschen an einen vollkommen neuen Punkt: In der Hinwendung zur Sinneswelt sprechen sich die Weltgedanken in der Denktätigkeit aus; doch in der Hinwendung auf das eigene Innere erlebt man nur die eigene geistige Welt, auch wenn diese bereits übersubjektive, überobjektive menschliche Weisheit geworden ist. Der Philosoph sucht aber Sophia, die göttliche Weisheit:
"Und so taucht eine ganz neue Unsicherheit herauf [...]: Gibt es [...] nun außer dieser Denkwelt, die ich bin und die sich mit Weltgedanken erfüllen kann, eine göttlich-geistige Welt? Dies ist die Einsamkeit in der Verzweiflung. Alles ist Gedanke, und der Gedanke bin ich. Ich lebe in einem wirbelnden, sprudelnden Strom, der ich bin. Ich habe mich gefunden, indem ich mich habe denken wollen. Doch werde ich je etwas anderes finden können als mich selbst? Hier lebt nicht der Zweifel im Denken, hier lebt der Zweifel im Herzen." (S. 221)
Eine Erlösung aus dieser Einsamkeit kann nur ein neuer Schritt geben. Das tätige Denken ist das Urphänomen der Antwort. Es muss sich zuerst ganz in das Wesen der Frage verwandeln, das Ich selbst muss ganz Frage werden. Dies ist die Vollendung der Philosophie: Die Seele wird fragende Sehnsucht in geduldiger Erwartung, der Mensch wird ganz Liebe zu Sophia, das Ich wird Gebet...
"Das Erleben des lebendigen Denkstromes verwandelt allmählich den von uns ausgehenden Willen in ein Organ, das uns befähigt, die reine geistige Welt außerhalb von unseren Ich erlebend zu empfangen. Immer weniger entfaltet der Eigenwille sich in das Denken und immer mehr gibt dieser sich dem Erlebnis hin: Es denkt in mir. Das Erleben des eigenen Geistes erweitert sich zu einem Erleben der geistigen Welt, die sich nicht in dem Denkstrom ausspricht, sondern in dem Erleben dieses Stroms. Der von uns ausgehende Denkstrom greift in ein geistiges ‚Nichts’. Das Erleben des Stromes, das Erleben in der Wesenheit, die in uns denkt, kehrt diesen Strom uns zu." (S. 225f)
Und so kann Mieke Mosmuller am Ende schreiben:
"Die durch den Menschen verwirklichte Liebe zur Sophia bringt Sophia zu den Menschen, sie tritt in sein Herz hinein:
Philosophia wird Anthroposophia." (S. 228)
Das erste Buch dieser Anthroposophin, die mittlerweile so viele Bücher über das reale Streben nach dem Geist und das differenzierte Erleben des Geistes geschrieben hat, ist bereits der grandiose Aufruf, diesen Weg zu betreten.