31.01.2014

Von der Liebe gegenüber dem Mitmenschen

Ein Entwicklungsweg für die Seele, die sich nach ihrer wahren Heimat sehnt.


Inhalt
Vom Verlieren des anderen Menschen
Von der Sehnsucht
Der Beginn in der äußeren Wirklichkeit
Ein weiterer Schritt der Vertiefung
Menschenbild und erlebte Wirklichkeit 


Vom Verlieren des anderen Menschen

Mit welchen Augen, mit welchen Gedanken und Gefühlen blicken wir auf die Passanten, denen wir im Bus, in der Bahn oder sonstwo gegenübersitzen, denen wir in irgendeiner Weise begegnen, vielleicht auch nur in dem Moment, wo sie an uns vorübergehen?

In der Regel überwiegt hier eine große Gleichgültigkeit, oft sogar ein Desinteresse. Vielleicht sieht man jemanden kurz an und empfindet bzw. urteilt halb bewusst oder ganz unbewusst: kein Interesse; egal; nicht weiter sympathisch. Schon dies ist aber eine andere innere Bewegung, als einen Menschen einfach nur nicht zu beachten. Denn wir haben einen Menschen dann für einen kurzen Moment angesehen – und uns dann aktiv wieder abgewandt.

Wir können einmal versuchen, zu empfinden, was dies alles umfasst. Vielleicht ist es nur das gewöhnliche, unbewusste Wissen und Urteil: Mit diesem Menschen habe ich ohnehin nichts weiter zu tun, werde ihm wohl auch nie wieder begegnen. Was hätte es dann für einen Sinn, ihn näher zu beachten? Das müsste man dann ja mit Hunderten anderer Menschen auch tun? Außerdem will man seine Ruhe haben. Die eigenen Gedanken, die eigene Ruhe in der Bahn oder das eigene Handy sind doch viel wichtiger als all diese Menschen um einen herum...

Vielleicht ist es aber sogar ein dezidiertes Urteil über gerade diesen bestimmten Menschen: An diesem Menschen habe ich kein Interesse. Und in Bezug auf die Vielzahl von Menschen, denen wir täglich begegnen, kann sich das Gefühl und das Gefühlsurteil so steigern, dass man sogar eine leise oder deutliche Antipathie gegen diese Vielzahl von Menschen empfindet, die einem alle egal sind, die aber trotzdem da sind: eine lästige Masse von viel zu vielen Menschen, die sich einem durch ihre Anwesenheit aufdrängt, die man aber am liebsten gar nicht hätte. Wie schön, wenn der U-Bahnhof einmal nicht voll von all diesen Menschen wäre! Wie schön, wenn im Zug einmal nicht diese lästige Vielzahl von Menschen säße, die sich in der Masse einfach viel zu laut und viel zu störend verhalten! – Hier sind dann die anderen Menschen also sogar „weniger als egal“, sie werden ... ertragen.

Auf diese Weise beginnt eigentlich eine leise Menschen-Verachtung. Wir sind in unserer heutigen Zeit so selbst-bezogen geworden, dass der andere Mensch tendenziell schon an sich eine regelrechte feine, leise Belästigung darstellt. Wir wollen unsere Ruhe haben, aber gegenüber von uns sitzt eine mittelalte, etwas übergewichtige Frau und kaut Kaugummi. Die Präsenz anderer Menschen drängt sich uns auf, und oft reichen dann schon Kleinigkeiten, um in uns eine Antipathie aufzurufen. Diese muss gar nicht besonders stark oder bewusst sein – es reicht eine leise, kaum merkliche Abneigung, aber da ist sie trotzdem...

Früher konnte man, wenn man im Wald oder in den Bergen auf Wegen ging, die sehr bald sehr einsam wurden, manchmal einem anderen Menschen begegnen – und wenn dies geschah, dann grüßte man sich natürlich. Es war nicht nichts – es war eine Begegnung. Ein anderer Mensch kam einem entgegen, und man fühlte diesen anderen Menschen; fühlte, dass es ein Mensch ist; es war eigentlich nicht möglich, ihn nicht zu beachten. Selbst wenn man darüber nachgedacht hätte, wäre es einem aus tieferen Empfindungen heraus im Grunde gar nicht möglich gewesen, ihn nicht zu grüßen, einfach schweigend an ihm vorüberzugehen... Wenn man sich diese Frage tief genug bewusst gemacht hätte, wäre ein solches Schweigen einem als Verrat am Menschsein des Anderen vorgekommen – als aktive, kalte Missachtung.

Natürlich spielt dabei auch die „Gewohnheit“ eine Rolle, mit der man groß geworden ist; dasjenige, was man „gelernt“ hat: „man grüßt eben“. Aber das ist es absolut nicht nur. Sondern es ist umgekehrt: Auch dies hat eine Quelle. Man grüßt eben nicht einfach nur deshalb, weil das so ist – sondern weil in einem selbst etwas dazu drängt, auch ganz ohne Normen, die man irgendwann vielleicht aufgenommen hätte. In einem selbst gibt es etwas, das einen anderen Menschen, der einem begegnet, nicht unbeachtet bleiben lassen kann, es nicht will.

Doch diese deutliche Empfindung wird übertönt, wenn einem zu viele Menschen begegnen – zu viele auf einmal oder aber zu viele immer wieder. Heute, wo selbst abseits der großen Wege in den Wäldern und in den Bergen immer wieder Menschen anzutreffen sind, wird diese Begegnung immer beliebiger, immer gewöhnlicher und wiederum sogar: immer lästiger. In der absoluten Einsamkeit ist ein anderer Mensch innerlich sogar willkommen; in der Ruhe ist der andere Mensch als solcher geachtet; in der fortwährenden Begegnung wird er schließlich zu einem „Störfaktor“.

Und dieses Gefühl überträgt sich dann sogar auf die einsameren Begegnungen: Dann geht man sogar in der Einsamkeit schweigend vorbei: „Man“ grüßt heute eben nicht mehr... Vielleicht empfindet man im Vorbeigehen dann innerlich noch leise die Ungeheuerlichkeit des Vorganges: Zwei Menschen begegnen sich und gehen aber nur schweigend aneinander vorbei, in gleichsam gewaltsamer Nichtbeachtung, Nicht-Begegnung...! Seelisch-geistig wahrgenommen ist dies wirklich und real ein zweifacher Schlag: den einen teilt man aus, den anderen erleidet man durch den Anderen.

Abstumpfen kann man sehr schnell gegenüber diesen inneren Erlebnissen, dennoch sind sie eine Realität. Wenn man sie überhaupt nicht mehr bemerkt, erreicht die Empfindungslosigkeit und Ignoranz, die Abkapselung gegenüber dem anderen Menschen einen Höhepunkt.

Dieses „Egalsein“ des anderen Menschen – und dann im Weiteren: der gesamten Um-Welt – ist eigentlich die Ursache für alles Schlimme, was in der Welt passiert. Ob es die Hungernden in der Welt sind, die schreiende Ungerechtigkeit in der Verteilung des Wohlstandes oder auch nur in Bezug auf menschen- und familienwürdige Einkommen selbst in den reichsten Ländern der Erde; ob es Mobbing am Arbeitsplatz ist oder auch nur das gewöhnliche distanzierte bis kühle Umgehen miteinander selbst da, wo Menschen sich über viele Jahre hinweg „begegnen“, und vieles, vieles andere: Die Ursache für alles, woran wir leiden, ist eigentlich der Mangel an Interesse am anderen Menschen. Der Mangel an wirklicher Begegnung, der Mangel an echtem Verständnis, der Mangel an Liebe und an Hilfe...

Von der Sehnsucht

Und hier beginnt eigentlich die Umkehr, die Umwendung: in einem tiefen Sich-Bewusstwerden, dass wir hier vor unserer eigentlichen, wahren Sehnsucht stehen...

Wir sehnen uns nach Verständnis – nach einem innigen Verständnis unserer Mitmenschen. Wir wollen, dass wir so akzeptiert und gemocht werden, wie wir sind. Wir wollen uns als ganzer Mensch fühlen können – nicht nur als Nummer, nicht nur als Angestellter, nicht nur als Untergebener, nicht nur als ein anonymer Kollege. Wir wollen menschliche Beziehungen haben. Wir wollen, dass auch in der Arbeitswelt unsere Gedanken, unsere Meinungen, unsere Ideen und Vorschläge, Bedürfnisse und Sehnsüchte, ernst und wichtig genommen werden, von Bedeutung sind. Wir wollen, dass es in der Welt gerecht zugeht, ja menschlich zugeht. Wir sehnen uns nach Verständnis, wenn es uns schlecht geht; wir sehnen uns nach echter Hilfe, wenn wir sie brauchen...

Wenn wir uns auf diese umfassende Sehnsucht tief besinnen, finden wir die Menschlichkeit. Wir finden unsere eigene Sehnsucht nach dieser Menschlichkeit, und werden uns so zugleich ihres Wesens bewusster.

Doch dem anderen Mensch geht es auch so – auch er empfindet diese Sehnsucht...

Und in dem Moment können wir uns einer Frage gegenübergestellt fühlen. Unsere eigene Sehnsucht sehnt sich zunächst nach Menschlichkeit, insofern wir sie erfahren – nach Menschlichkeit, die uns entgegengebracht wird. Aber nun tritt eine Frage an uns heran: Wie sehr sind wir fähig, uns zu einem „Träger“ wirklicher Menschlichkeit zu machen?

Sehnen wir uns nur nach Menschlichkeit, ohne selbst ein Träger des Menschlichen werden zu wollen? Oder ist unsere Sehnsucht nach der wirklichen Menschlichkeit, nach einer Welt, in der diese Menschlichkeit lebt, so stark, dass in uns eine zweite Sehnsucht erwacht: die Sehnsucht, selbst immer mehr das Wesen des Menschlichen in sich aufzunehmen?

Wenn wir dafür überhaupt einmal bewusst geworden sind, können wir erschreckt feststellen, wie sehr wir selbst zunächst absolut nicht diese wirkliche Menschlichkeit wahrmachen, nach der wir (in Bezug auf uns) solche Sehnsucht haben. Und dabei ist es ganz egal, ob dies aus Abstumpfung, aus Reaktion auf die allgemein unmenschliche Umwelt, aus Angst oder welchen sonstigen Gründen auch immer geschieht: Ob wir dazu beitragen, dass das wirklich tief Menschliche in der Welt eine Realität wird, hängt nur von einer einzigen Tatsache ab – ob wir das wirklich Menschliche tun oder aber nicht tun...

Wenn wir innerlich sagen: „Die übrige Welt ist ja auch nicht besser“, so haben wir zwar eine „Entschuldigung“ vor uns selbst, aber diese gleicht einem kleinen, verletzten, bockigen Kinde. Vielleicht ist „die übrige Welt“ ja nur deshalb nicht „besser“ als man selbst, weil auch sie sich fortwährend in diese Entschuldigung flüchtet? Dann tun sich die Menschen tagtäglich gegenseitig das Schlimme an, und jeder schiebt die Schuld auf den Anderen. Man selbst hatte Ärger mit dem Chef – und vermag an diesem Tag kaum irgendjemandem gegenüber besonders freundlich zu sein, auch dem Obdachlosen schenkt man keine Beachtung. „Die übrige Welt ist ja auch nicht besser...“

Auf diese Weise haben wir eine Entschuldigung vor uns selbst – und können in Wirklichkeit doch wissen, dass diese nichts mehr wert wäre, wenn wir aufhören würden, uns selbst zu belügen. Denn egal, wie wenig gut die übrige Welt sein mag: Ob wir selbst besser sein wollen, ob wir selbst das Menschliche in uns wahrmachen wollen und können, darauf kommt es an! Einzig und allein. Die übrige Welt können wir zunächst nicht ändern – aber uns können wir ändern! Und unser Handeln kann die Welt ändern...

Ja, dies ist nicht einmal nur eine bloße Möglichkeit, sondern wenn wir uns ändern, so ist die Welt eine andere, und wenn wir auf diese Weise anders sind und handeln, so wird die ganze Welt eine andere. Jede einzelne unserer Handlungen wird dann eine andere Wirkung haben – und dies wird auf unzähligen verschiedenen kleinen und größeren Wegen die ganze uns umgebende Welt verändern. Dies wiederum wird Auswirkungen auf andere Ereignisse haben – und so weiter. Glauben wir also nicht, dass es auf uns nicht ankäme! Glauben wir also nicht, dass die Frage, ob wir das Menschliche wahrmachen, von irgendeiner geringen Bedeutung wäre. Es ist von der denkbar größten Bedeutung. An dieser Frage entscheidet sich alles.

Gilt dies schon für die Welt, so gilt es für uns selbst erst recht, buchstäblich absolut. Der Unterschied ist geradezu unendlich: Ob wir uns der übrigen Welt anpassen und „mit den Wölfen heulen“, in der Menschlichkeit das übliche untere Mittelmaß einhalten – oder ob wir uns bewusst, ohne jede Rücksicht auf allgemeine Mindeststandards, zu einem wirklichen Träger der Menschlichkeit machen, immer mehr, bis in das Kleinste hinein...

Wir müssen aufhören, das Leben nur wie einen Fluss zu sehen, in dem wir uns zufällig befinden. Wir müssen aufhören, uns als unwesentlich anzusehen; auch aufhören, uns vorwiegend als Opfer oder Objekt der Ereignisse wahrzunehmen. Was wir aus uns machen – nicht bloß aus unserem Leben, sondern aus unserem ganzen Sein, also wer wir sind –, das ist von unendlicher Bedeutung, auch für uns selbst!

Um dies wirklich radikal bis zu Ende denken zu können, braucht man wohl ein entsprechendes Menschenbild. Wer im Tod ein absolutes Ende sieht, wird niemals dahin kommen, in dem einzelnen individuellen Leben und in der Gestaltung und Entwicklung des eigenen Wesens einen absoluten Wert zu erkennen – denn der Tod selbst ist ja dasjenige, was alles letztlich wieder relativiert... Wenn man aber real zu denken vermag, dass das individuelle Wesen des einzelnen Menschen etwas Ewiges ist, so muss man, dies tief genug empfindend, die unendliche Bedeutsamkeit erleben, die jedes einzelne Tun hat, welches dazu führt, das eigene Innere, das eigene Wesen zu verwandeln.

Jede kleinste Veränderung des eigenen Wesens, jede kleinste Entwicklung, wodurch das eigene Wesen dem Wesen des Menschlichen näher kommt, ist von einer unendlichen Bedeutung, denn man wird dadurch ganz real ein völlig anderer Mensch. Entwicklung ist etwas Reales, und es kann nicht in Worten ausgedrückt werden, welchen Unterschied es macht, auf welcher Stufe oder Höhe der Entwicklung man sich befindet. Dies wird man um so erschütternder empfinden, je mehr einem bewusst wird, dass das eigene individuelle Wesen etwas absolut Reales ist – und dass auch „Menschlichkeit“ nicht eine bloße Vorstellung, sondern eine absolute Realität ist.

Der individuelle Mensch hat ein Sein und das wahre Wesen des Menschseins hat auch ein Sein. Das reale Sein des einzelnen Menschen – wer er ist, insbesondere in Bezug auf sein moralisches Wesen, seine wesenhafte Moralität – ist von jenem Sein der vollkommenen Menschlichkeit, der vollkommenen Moralität (im realsten, nicht-äußerlichen Sinne) durch einen absoluten Abstand getrennt. Wenn man aber das Wesen des Menschlichen als eine volle Realität erleben kann, erlebt man es zugleich als wahre Heimat des Menschen. Der Abstand ist kein äußerlicher; ist nichts, was äußerlich überbrückt werden muss, um etwas zu erreichen, was man selbst gar nicht ist. Der Abstand ist ein existentieller, ein unmittelbar berührender, denn jenseits dieses Abstandes liegt gerade die wahre Heimat des Menschen. Nur deshalb empfindet er diese Sehnsucht, die zu dem Tiefsten gehört, was er in sich trägt.

Wenn man dies real erlebt, dann kehrt sich das gewöhnliche Erleben ganz um. Denn nun erlebt man, dass man gerade dann mehr man selbst wird, wenn man sich dieser Heimat nähert – und dass man zunächst, so wie man jetzt ist, weniger man selbst ist... Das eigene wahre Wesen will dieser Heimat entgegenwachsen, will sich zu ihr hin entwickeln; es will nicht sein, sondern werden. Dieses Wesen will sich zu demjenigen Sein hin entwickeln, das es als sein wahres Sein fühlt: ein Sein, welches es noch nicht (oder nicht mehr) hat, welches es aber doch sicher als sein wahres Sein oder zumindest als Ziel seiner wahren Sehnsucht weiß...

Der Beginn in der äußeren Wirklichkeit

Doch wie kehren wir von diesem Erleben in die äußere Wirklichkeit zurück? Wie können wir dieses Erleben mitnehmen in diese andere Wirklichkeit, die „gewöhnliche Welt“ – und wo können wir ansetzen, um in dieser gewöhnlichen Welt mit unserem Streben und Handeln zu beginnen?

Fragen wir einmal anders: Was hindert uns, eine wirkliche, tiefe Menschlichkeit zu entfalten?

Wenn wir uns auf diese Frage besinnen, werden wir ziemlich schnell auf zwei Antworten kommen: Das eine ist unsere Selbstbezogenheit, durch die wir oft oder immer viel zu bequem und unwillig sind, um wirklich etwas Selbstloses zu tun. Das andere sind die anderen Menschen, denen gegenüber wir gar nicht so radikal menschlich handeln wollen... Wer ist uns schon so sympathisch, dass wir ihm mit tiefer Menschenliebe, die über die gewöhnliche Art des Miteinanders hinausgeht, begegnen wollen würden?

Aber hier beginnt schon die Trennung – dasjenige, was uns von dem trennt, was wir eben noch als unsere wahre Heimat erleben konnten. Schon ist sie nicht mehr da. Der reale Eindruck des anderen Menschen hat sie völlig weggewischt. Wir wollen gar nicht mehr! Wenn wir den anderen Menschen sehen, wollen wir gar nicht mehr unendlich gut, edel und moralisch sein – denn der andere Mensch ist es gar nicht wert, wir haben gar kein Ziel für unsere Moralität... Unsere Mitmenschen sind so gewöhnlich, so mittelmäßig sympathisch, dass wir nicht das geringste Bedürfnis empfinden, ihnen gegenüber ein besserer Mensch werden zu wollen.

Hier liegt das größte Hindernis – aber es liegt nicht im anderen Menschen, sondern immer noch in uns. Denn wie könnte es je wahre Menschlichkeit sein, was sich nur auf uns persönlich sympathische Menschen bezieht? Ist ein solches Sympathischsein die Zugangsberechtigung für wirkliche Menschlichkeit? Könnte es je darum gehen, wer eine solche „verdient“; wem gegenüber wir die Neigung haben, „Gutes“ zu tun? Oder wäre eine solche „Menschlichkeit“ nicht gerade der allergrößte, weil subtil verschleierte Egoismus? Ein Egoismus, der das Allerhöchste verrät, weil er es zu etwas Willkürlichem macht, das aus selbstzufriedenem Großmut an diejenigen verteilt wird, die einem selbst genehm und angenehm sind...

Wahre Menschlichkeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie keine Unterschiede macht, weil sie nicht vom eigenen Selbst ausgeht und dieses mit all seinen Sympathien und Antipathien zum Zentrum hat, sondern weil sie – in der anderen Bedeutung und Betonung des Wortes – vom Selbst ausgeht, zum anderen Menschen hin, unterschiedslos, selbstlos zum Anderen hin.

Das Erste also, an dem wir ansetzen können und müssen, ist das eigene Urteilen...

Solange wir über die Menschen urteilen, können wir uns mit der wahren Menschlichkeit nicht verbinden, wird ein Abstand sein zwischen ihr und unserem Sein. Wir können zwar ein Selbstbild pflegen, wonach wir „gut“ und „menschlich“ sind, aber die Realität wird eine andere sein. Wenn wir aber dahin kommen, unser Urteil immer mehr zum Schweigen zu bringen, wird dies der erste große, reale Schritt unserer inneren Entwicklung sein.

Es geht nicht darum, seine Urteilsfähigkeit zu verlieren. Aber es geht darum, dasjenige schweigen lassen zu lernen, was über die wirkliche Realität immer noch das zusätzliche subjektive Urteil und Gefühl decken will. Ein alter Mensch ist nicht mehr so schön wie ein Mensch, dessen Leib in ebenmäßiger Schönheit die Blüte junger Jahre zeigt. Aber das gewöhnliche Urteil sieht nicht nur diese Realität, sondern es ist auch durchtränkt von den Trieben des eigenen Leibes, von den Begierden, die in diesem Leib wohnen und die durch einen schönen fremden Leib erregt werden. Und dieses gewöhnliche Urteil sieht auch nicht, wie das Äußere eines alten Menschen eine ganz andere Schönheit offenbaren kann, nämlich die Schönheit der Spuren eines langen, individuellen Lebens, eines persönlichen Schicksals, eines gegangenen Weges des Menschseins; Spuren, in denen Unendliches verborgen liegt.

Christian Morgenstern schrieb einmal: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Und dies ist die Wahrheit. Die Liebe sieht in allem, wie es wirklich ist, und sie sieht zugleich seinen Zusammenhang mit allem anderen, seinen Weg, sein Gewordensein, sein mögliches Werden – und all dies kann sie mit Liebe umfassen. Selbst das Hässliche hat dann seinen Zusammenhang, sein Schicksal, seine Aufgabe, seinen Wert, seinen Sinn – und kann mit Liebe betrachtet werden. Und kann dasjenige, was mit Liebe betrachtet wird, noch hässlich sein? Nein, denn es wird zugleich durchdrungen von der Schönheit, der Güte, dem goldwärmenden Glanz der Liebe selbst... Und doch enthüllt dieser nur die volle Wirklichkeit, verfälscht sie nicht, sondern ent-fälscht sie gerade, lässt noch im Hässlichsten das Schöne sichtbar werden, das wirklich auch da ist.

Wenn also die Liebe beginnt, eine Realität zu werden, brauchen wir nicht mehr urteilen, denn die Liebe tritt an die Stelle des Urteiles. Es ist keine subjektive Liebe, und wir müssen auch nicht versuchen, sofort allem und jedem gegenüber mit „Liebe“ zu begegnen – sondern es ist eine ruhige Unbefangenheit, die in voller Ruhe darauf wartet, was sich offenbart. Und dasjenige, was sich dann offenbart, als wahre Erscheinung, Sein und Wesen des anderen Menschen, das wird mit Liebe wahrgenommen, in die Seele aufgenommen...

Wenn wir die Liebe entwickeln wollen, müssen wir auch danach streben, die Wahrnehmung immer mehr zu entwickeln und zu vertiefen. Denn die Wahrnehmung führt uns gerade aus uns heraus; in der Wahrnehmung, die ohne antipathisches Urteil bleibt, werden wir einerseits selbstlos und berühren zugleich wirklich das Wesen des Anderen – wenn wir uns durch diese Wahrnehmung zum Wesen führen lassen; durch sie (und durch sie hindurch) von jenem Wesen berühren lassen.

Und je tiefer wir wahrnehmen, desto weniger brauchen wir urteilen, denn auch die vertiefte Wahrnehmung tritt bereits an die Stelle des Urteiles. Denn sobald das gewöhnliche Urteil aufsteigt, hört man auf wahrzunehmen – die Wahrnehmung stoppt, ist „fertig“, und das Urteil erscheint... Wenn man aber intensiv wahrnimmt, ist man nie „fertig“, man kann lernen, immer stärker in der Wahrnehmung zu leben – dann braucht man gar kein Urteil, und man hat auch gar keine „Zeit“ dafür, auch kein Bedürfnis danach. Die Wahrnehmung trägt selbst ihren vollen Sinn in sich – und in sie kann dann immer mehr die Liebe hineinfließen.

Aber wir werden merken, dass wir die Liebe in einer solchen vertieften Wahrnehmung auch bereits haben. Man kann gar nicht ohne die Kraft der Liebe intensiv wahrnehmen. Das intensive Wahrnehmen ist bereits eine reale Form der Liebe. Denn warum sollte die Seele, die Aufmerksamkeit, sich etwas Anderem so intensiv zuwenden? Sie muss dafür ja gerade auf „sich selbst“, auf ihre eigenen Gedanken und Gefühle „verzichten“, anders kann sie nicht wirklich in der Wahrnehmung leben. Wenn sie dies aber tut, wendet sie sich selbstlos einem Anderen zu – und dies ist Liebe, und zwar Kraft der Liebe in reiner Form, ohne Begierde.

Das Äußere eines Menschen, seine Gestalt, aber auch seine Bewegungen, seine Gesten, mag also erscheinen, wie es will. Sobald wir beginnen, es wirklich wahrzunehmen, verschwindet allmählich die Notwendigkeit des Urteils, verschwinden auch allmählich die gewöhnlichen Urteile, die wir bisher an diesen Menschen geknüpft haben. Und wir beginnen, diesen Menschen noch einmal ganz neu wahrzunehmen – und auch immer wieder neu. Und zum ersten Mal wirklich. An die Stelle der irgendwann gleichsam „abgeschlossenen“ Wahrnehmung, die dann immer mehr durch unsere Vorstellung von diesem Menschen ersetzt wurde, tritt nun erst die niemals abgeschlossene, immer lebendig bleibende, gegenwärtige Wahrnehmung, das fortgesetzte innere Tätigsein unserer Aufmerksamkeit. Und wir versuchen, uns nicht in ein Urteil abdrängen zu lassen...

Ein weiterer Schritt der Vertiefung

Nun gibt es aber neben diesem Äußeren auch noch die Handlungen eines Menschen; dasjenige, was er sagt und was er tut – und natürlich auch das, was er denkt und fühlt. Dies stellt unser Streben auf eine neue Probe. Wie können wir uns hier vor Urteilen, vor eigenen Gedanken und Gefühlen, die uns wieder weiter vom wahrhaft Menschlichen entfernen, bewahren?

Ein Weg ist auch hier wiederum die Wahrnehmung. Wann immer wir unsere innere Kraft wirklich in die Wahrnehmung lenken, entziehen wir sie derjenigen inneren Bewegung, die im Urteilen lebt. Dazu kommt dann auch die innere Bewegung unseres Denkens, das sich, statt zu urteilen, auch fragen kann: Warum denkt der Andere so, warum handelt er so? Reine, fragende Verwunderung, Interesse, ohne Urteil. In dieser inneren Bewegung lebt dann die gleiche selbstlose Aufmerksamkeit und Kraft der Zuwendung, der Liebe, wie zuvor im Wahrnehmen, jetzt aber auch im Denken – und beides innig verbunden. Im fertigen Urteil, in der fertigen Vorstellung trennt sich der Gedanke von der Wahrnehmung. Wir aber versuchen jetzt, in der Wahrnehmung zu bleiben – und in einem Denken, dass mit der Wirklichkeit, die sich in der Wahrnehmung offenbart, innig verbunden bleibt.

Gerade dieses selbstlos tätige, fragende Denken ist imstande, die Wirklichkeit zu erkennen. Auch in der Wahrnehmung war es schon das erkennende Element, eins geworden mit der Kraft der Liebe. Jetzt erkennt es mit derselben Kraft nicht nur das Wesen der äußeren Erscheinung, sondern auch die tieferen Beweggründe der äußeren Handlungen...

Es ist nicht gemeint, dass wir jede Handlung gleichermaßen gutheißen müssen. Aber es ist ein unendlicher Unterschied, ob wir eine Handlung nur von unserem Standpunkt aus be- und verurteilen, oder ob wir verstehen können, wie der Andere von ihm aus gesehen zu einer solchen Handlung gekommen ist. Immer tiefer werden wir, wenn wir uns bemühen, verstehen können, wir der Andere eine Sache anschaut; welche vielleicht ganz anderen Bedürfnisse er hat; wodurch er möglicherweise verletzt worden ist; was seine Sehnsucht ist, seine Motive sind.

Selbst wenn wir einen vollkommen anderen Standpunkt haben, ja vielleicht sogar einer bestimmten Handlung entgegentreten, eine bestimmte Anschauung abweisen müssen, können wir dennoch ein tiefes Verständnis für den anderen Menschen haben. Und dies wird auch die Grundlage dafür sein können, sich um ein Überwinden aller Differenzen zu bemühen. Was wenn nicht das Verständnis für den anderen Menschen könnte diese Grundlage sein? Mag er unsere Beweggründe noch lange nicht einsehen können oder wollen – die seinigen können wir einsehen und verstehen – und können auch die Kraft aufbringen, immer wieder die Verständigung zu suchen, ja eine Sehnsucht danach zu haben...

Ein zweiter Weg ist ebenfalls die Wahrnehmung – nun aber die Wahrnehmung unserer eigenen Seele. Wenn wir nach einer immer weiteren Entwicklung der Menschlichkeit streben, müssen wir vor allem unsere eigene Seele sehr gut kennenlernen. Es ist ja diese Seele, die wir verwandeln wollen. Das können wir nur, wenn wir zugleich eine wirkliche, tiefe Selbsterkenntnis erreichen – sonst werden wir uns nur in Illusionen verirren.

Fragen wir uns also, wann immer ein Wort oder eine Tat eines anderen Menschen eine antipathische Bewegung in uns hervorruft, was da eigentlich geschieht. Beobachten wir unser eigenes Inneres! Lernen wir zum Beispiel zu unterscheiden zwischen den Regungen unserer Wahrheitsliebe und einer Empfindung, die aufsteigt, wenn jemand eine andere Anschauung vertritt als wir. Was würden wir fühlen, wenn wir persönlich gar nicht beteiligt wären? Woher wissen wir, dass unsere Anschauung die richtige(re) ist? Was sind unsere Voraussetzungen – was sind die des Anderen? Hat ein antipathisches Gefühl vielleicht schon eine lange Vorgeschichte? Was gehört alles dazu? Ist es mir möglich, davon abzusehen? Was müsste ich innerlich erreichen, um mich von dem Einfluss meiner vergangenen Erlebnisse lösen zu können?

Solche und viele andere Fragen führen uns immer tiefer in unser Seelisches hinein – und bei jeder Erkenntnis können wir ansetzen, unsere Seele allmählich zu läutern, von all dem zu befreien, was uns hindert, was wahrhaft Menschliche immer tiefer aufzunehmen.

Man kann sich auch fragen: Geht es mir um die Wahrheit, oder geht es mir darum, dass ich die Wahrheit vertrete, dass ich dem anderen Menschen einen Irrtum nachweise? Ist mir nur die Wahrheit wichtig, oder soll der Andere für seinen Irrtum und dessen Folgen auch noch „büßen“? Wenn ja, warum? Was sind meine persönlichen Gedanken, Gefühle, Ambitionen, Begierden, Sehnsüchte in dieser Sache?

All diese Fragen führen zu einer wachsenden Selbsterkenntnis – und diese kann uns immer vorsichtiger werden lassen, immer wahrhaftiger, immer zurückhaltender im eigenen Urteilen.

Menschenbild und erlebte Wirklichkeit

Diese beiden Wahrnehmungen – des anderen Menschen und der eigenen Seele – müssen durchdrungen sein von einer dritten Wahrnehmung. Nur diese kann auch den ersten beiden die wirklich notwendige Kraft der Liebe verleihen. Es geht um ein hohes Menschenbild, um eine hohe Antwort auf die Frage: Was ist das Wesen des Menschen?

Wenn hier von einer Wahrnehmung gesprochen wird, so deshalb, weil das, was in gewöhnlichem Sinne zunächst vielleicht Vorstellung oder Idee genannt werden könnte, irgendwann zu einer Wahrnehmung werden muss – zu einem realen Erleben, einer erlebten Realität, und sei es noch so leise, zart, ahnend.

Es reicht nicht, sich vorzustellen, dass der Mensch ein ewiges Wesen sei. Es muss irgendwann dahin kommen, dass dies immer mehr eine Gewissheit wird, die das bloß Vorstellungsmäßige übersteigt. Dahin, dass der Mensch in Übereinstimmung mit dieser Gewissheit denkt, fühlt und schließlich auch handelt; dass er durch diese Gewissheit ein anderer Mensch wird. Dass er mit dieser Gewissheit, mit dieser realen Anschauung den anderen Menschen anschaut. Ein hohes Menschenbild... Bis in die „gewöhnliche“ Wahrnehmung, bis in den wirklichen Alltag hinein muss dies gehen!

Der Mensch als ewiges, sich in wiederholten Erdenleben verkörperndes Wesen, das in jedem Leben danach strebt, sich weiter zu entwickeln, immer mehr wahrhaft Mensch zu werden – was für eine Perspektive eröffnet dies!

Wenn wir es ernst nehmen, dass jeder Mensch vor seiner Geburt noch in der rein geistigen Welt unendlich wesentliche und gute Impulse fasst, um diese im Erdenleben zur Wirklichkeit zu bringen, dann können wir vor der Realität des einzelnen, einzigartigen Lebens nur eine tiefe Ehrfurcht empfinden – und jede Schwäche, wie es sie in jedem Menschen so vielfach gibt, jedes Scheitern, immer als eine Tragik empfinden, ohne sie verurteilen zu müssen. Ein solches Erleben der Wirklichkeit führt gerade dazu, den anderen Menschen auch in seinen Fehlern lieben zu lernen, denn immer tiefer wird das Verständnis, das Miterleben..., ohne Hochmut, ohne Urteil, in wirklicher Demut, die auch um die eigenen Unvollkommenheiten weiß.

Und das Bild wird noch ernster und umfassender, wenn wir empfinden, dass die äußere Welt wirklich nur ein Teil der vollen Wirklichkeit ist. Wie es auch Wesen gibt, die überhaupt nicht unmittelbar im Sinnlichen erscheinen. Wie die Schwächen des Menschen, die ungeheure Tragik, dass die in der geistigen Welt gefassten Impulse oft so weitgehend unverwirklicht bleiben müssen, auch in dem Wirken von Wesen zu suchen ist, die dem Menschen Widerstand entgegensetzen; die gerade das Un-Menschliche anregen, die auch mit der Existenz des Egoismus zu tun haben...

Wie es auf der anderen Seite Wesenheiten gibt, durch die alles, was wir bisher als Wesen des Menschlichen, als Ideale, als Sehnsucht des Menschen beschrieben haben, überhaupt eine Realität hat. Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit, Liebe – das sind weder menschliche Erfindungen noch bloß menschliche Empfindungen, es sind nicht bloß Seelenregungen, sondern all dies kann nur deshalb in der Seele leben, weil es in sich eine wirkliche Realität hat.

Gerechtigkeit ist etwas Reales, und der Mensch bringt sie nicht aus sich hervor – er hat, wenn er sie empfindet, Anteil an ihr; ihre Realität ragt gleichsam in die menschliche Seele hinein. Die Seele kann sich, wenn sie selbstlos wird, zu einem empfindsamen „Organ“ für das Wesen der Gerechtigkeit machen. Dann nimmt sie selbstlos empfindend und denkend wahr, was gerecht ist, und sogar, was Gerechtigkeit ist – so wie die Seele mit dem Auge, darin wirkend ihre denkende Aktivität, selbstlos wahrnimmt, welche Farben sich offenbaren, und sogar, was das Wesen der Farbe ist.

Die Liebe ist etwas Reales. Der Mensch bringt sie nicht aus sich hervor – sondern indem er sie hervorbringt, wird sie ihm geschenkt, hat er Anteil an dem Wesen der Liebe. Die Seele kann sich so rein machen, dass die Liebe in ihr Wohnung nimmt...

Mit einer solchen Welt-Anschauung, die über ein bloßes „Menschenbild“ weit hinausgeht, wird schließlich möglich, was wiederum einst Christian Morgenstern schrieb:

„Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni [im Lichte der Ewigkeit] anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang liegt klar vor ihm.“

Im Lichte der Ewigkeit gehen wir Menschen Seite an Seite wie Bruder und Schwester dem Licht, dem wahren Menschwerden entgegen. Die Menschen sind Brüder und Schwestern, auch wenn sie es noch nicht empfinden. Wer sich auf den hier beschriebenen inneren Weg macht, wird dies immer mehr und mehr empfinden. Und dann wird es auch gelingen, das im Geiste zu Erlebende mit der sinnlichen Wirklichkeit zu verbinden, dann wird jenes auch in diese wirklich hineingetragen werden können und wird diese nicht nur sinnlich bleiben, sondern wird die Seele in der Sinneswirklichkeit immer mehr zugleich auch das Seelische fühlen und sehen, immer mehr auch das Geistige sehen und schauen...

Ein anderes Wort, von Hilde Domin, ist:

          Nicht müde werden
          sondern dem Wunder
          leise
          wie einem Vogel
          die Hand hinhalten.

Darin lebt eigentlich die volle Liebe zum Menschlichen – denn hier wird von der tiefen, immer wieder sich erneuernden Offenheit der Seele gesprochen. Diese Offenheit ist die Frucht einer ernst und innig geübten Unbefangenheit, die immer wieder das Urteil schweigen lässt, und die Frucht der Liebe, die sich allem in selbstloser Hingabe zuwendet, auf dass sich dessen Wesen offenbare – und dies ist eigentlich immer ein Wunder, denn es überschreitet alle physischen Grenzen...

Jeder Mensch ist einzigartig, hat ein einzigartiges Wesen und Streben, Sein und Werden. Jeder Mensch ist ein Wunder. Dies zu empfinden, wird immer mehr die zweite Natur der Seele, wenn sie dahin kommt, die Menschlichkeit „anzuziehen“ und in sich wachsen zu lassen. Dem Wunder leise die Hand hinhalten – das tut sie, indem sie sich selbst zur offenen Hand macht, die in Liebe und Verwunderung das Wesen des anderen Menschen empfangen kann.