25.05.2014

Von der Beziehung zum Auferstandenen

Gedanken für junge und jung bleiben wollende Menschen...


Zunächst ist das religiöse Element des Lebens oftmals ein isoliertes. Wenn man an Gott und an Christus glaubt, ist dies etwas, was vielleicht noch etwas wichtiger ist, als den Weg zum nächsten Edeka zu wissen, und doch ist es nur ein Teil des Lebens – ein für sich stehender, vom übrigen Leben recht isolierter Teil. Man betet vielleicht am Abend ein Gebet, vielleicht spricht man sogar vor dem Essen einen Spruch – doch ... was bedeutet der Glaube an Gott und Christus eigentlich für das Leben?

Was würde sich verändern, wenn man abends nicht mehr beten, vor dem Essen keinen Spruch mehr sprechen würde, wenn man nicht mehr an Gott glauben würde – was würde sich verändern? Das ist doch die entscheidende Frage...

Geht es nur um die Sicherheit, dass man nicht „allein“ ist; dass der Mensch mehr ist als ein Natur-Wesen? Das könnte man vielleicht sogar glauben, wenn man Gott mehr oder weniger ganz beiseite lässt. Jedenfalls könnte man Gott sogar noch mehr vergessen, als man es ohnehin schon tut, und immer noch darauf vertrauen, dass man von mehr umgeben ist als von toter Materie und leerem Raum...

Wozu braucht man Gott? Ist es nicht so, dass das Leben auch sehr gut ohne ihn verläuft – ja, dass es im Grunde Tag für Tag tatsächlich ohne ihn verläuft? Wo ist Gott? Eine Minute lang betet man am Abend – das ist dann zumindest ein Gedanke an Gott, ein Moment, wo der Glaube an ihn ein wenig lebendig wird. Aber dieser Moment währt nur eine Minute – und was dann, was dominiert das ganze übrige Leben? Wo ist Gott während des ganzen Tages? Und wo ist der Glaube an Gott während des ganzen Tages, ist er auch da vorhanden – und wenn ja, was bedeutet er?

Es mag unbewusst neben dem Leben herlaufen, dass man „weiß“, dass es Gott gibt – und dass einem dieses Wissen nicht ganz bedeutungslos ist –, aber die Lebenswirklichkeit ist doch eine vollkommen andere. In der vollen Wirklichkeit wird Gott während des Tages doch eigentlich völlig vergessen, und nicht nur vergessen, er interessiert für die meisten Tätigkeiten des Tages eigentlich nicht... Gott ist völlig unwichtig und belanglos, wenn man in die Schule geht, mit seinen Freunden oder Freundinnen quatscht, wenn man nachmittags Sport oder Musik macht, im Internet chattet, zu einem Geburtstag geht, Filme schaut, Abendessen ist und all die anderen Dinge macht, die man jeden Tag oder an besonderen Tagen macht.

Gott ist dabei völlig unwichtig und auch völlig vergessen. Erst kurz vor dem Schlafengehen erinnert man sich wieder, wenn man dann sein Gebet spricht. Eine Minute für Gott, eine Minute, wo der eigene Glaube an Gott in der Seele spricht... Spricht er in der nächsten Minute immer noch? Wie lange spricht er, bevor er dann von neuem völlig vergessen wird? Dann schläft man ein, man wacht wieder auf, ein neuer Tag beginnt – ein neuer Tag, an dem Gott völlig vergessen ist und unwichtig bleibt, bis man wieder ins Bett muss...

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Es gibt keinen Zwang, an Gott zu glauben – oder anders an ihn zu glauben, als man es tut. Niemand zwingt einen – es ist ganz allein eine Angelegenheit der eigenen Seele. Und doch sollte sich die Seele selbst, je älter man wird, immer klarer darüber werden, was sie eigentlich tut – und was sie eigentlich nicht tut...

Selbsterkenntnis, das ist es, was die Seele unbedingt braucht, wenn sie ihr Leben bewusst führen will, wenn sie auch ihr eigenes Sein und ihre Entwicklung bewusst in die Hand nehmen will.

Man kann sich ein ganzes Leben lang sehr wohl fühlen und niemals erkennen, was man eigentlich tut und was man nicht tut, und ob man eigentlich wirklich zufrieden damit ist. Die Seele kann sich aber auch innerlich Fragen stellen und sich ihres eigenen Tuns ein wenig mehr bewusst werden, als es gewöhnlicherweise geschieht. Dann nimmt sie ihr eigenes Sein und ihre eigenen Gewohnheiten nicht einfach so hin – sondern sie fragt sich bewusst, wie sie eigentlich lebt, was sie tut, was sie denkt, was sie fühlt und was sie will ... und ob sie das alles so will oder ob sie manches anders will, als es im Moment ist...

Eigentlich ist es nicht die Seele selbst, die sich Fragen stellt, sondern es ist das innerste Menschenwesen, das noch „über“ der Seele steht, das ihr eigentlicher bewusster Mittelpunkt ist, sich aber zugleich auch von ihr trennen und sie beobachten kann. Dieses eigentliche Wesen des Menschen ist das „Ich“. Es ist nicht identisch mit der Seele, denn es kann sogar die Gewohnheiten der Seele verändern, ja es kann dem Seelenwesen schließlich eine völlig neue, vielleicht sogar entgegengesetzte Richtung geben, wenn es das will. Dies ist das Ich...

Dieses innerste Menschenwesen ist etwas, das erst im Laufe der Zeit wirklich erwacht – so erwacht, dass es auch auf Erden ein Bewusstsein bekommt. Dies ist die tiefere Bedeutung des Wortes „erwachsen“. Im geistigen Sinne bedeutet das Wort auch ein Erwachen – ein solches Erwachen, dass das Menschenwesen empfindet, das es nicht identisch mit der Seele ist, sondern eigentlich Herrscherin der Seele sein soll und kann. Dass also nicht die Seele mit ihren gegenwärtigen Neigungen, Gewohnheiten, Gelüsten, Gedanken und Gefühlen das „schlafende“ Ich beherrscht – sondern dass umgekehrt das Ich die Seele führt und sie auf solchen Wegen führt und in eine solche Entwicklung hineinführt, wie es dem tiefsten Willen dieses Ichs entspricht.

Das Erwachen des Ich geschieht aber schrittweise – und in dem Maße, in dem das Ich noch nicht erwacht ist, wird doch immer wieder Seele und Ich verwechselt werden und der Mensch Dinge tun, denken und fühlen, die noch immer nicht vollkommen seinem wahren Wesen entsprechen...

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Die Seele führt also ihr gewöhnliches Leben, wie sie das nun einmal tut und wie es sich entwickelt hat. Sie geht in die Schule, sie spricht mit ihren Freunden bzw. Freundinnen, sie macht Sport und Musik, sie chattet im Internet, isst zu Abend und so weiter, spricht vielleicht am Abend ein Gebet, macht dann vielleicht noch dies und das, schläft schließlich ein und steht am nächsten Morgen wieder auf... Es ist natürlich nicht nur die Seele, sondern es ist die Seele im Körper. Mit Hilfe des Körpers tut die Seele dies alles. Das Ich aber, das diese alles nicht nur erleben würde, sondern sich dessen auch einmal voll bewusst werden würde und sich auch Fragen stellen würde, ob es dies alles wirklich so will und was der wirkliche Wert des einen oder des anderen ist – dieses Ich schläft dabei...

Aber die Seele – ich bleibe jetzt doch einmal dabei, nur von der Seele zu sprechen, obwohl hier gerade immer der Übergang zum eigentlichen Ich gemeint ist –, die Seele kann sich einmal fragen, was der Glaube an Gott für sie wirklich bedeutet, welche Bedeutung er für sie hat...

Und wenn sie auf diese Frage eine Antwort empfindet; wenn sie das Gefühl hat, eine Antwort auf die Frage zu haben, was Gott und ihr eigener Glaube an Gott ihr bedeutet – dann kann sie einmal objektiv ihr tägliches Leben anschauen: das Aufstehen, die Schule, die Freunde, die Musik, der Sport, das Essen, das Hausaufgabenmachen, das Chatten, das Shoppen, das Faulenzen, Lesen, Musikhören, Spielen, Streiten, Sich-Langweilen, Filmeschauen – alles, was sie überhaupt tut. Und dann kann sie sich noch einmal die Frage stellen, nun aber im Anschauen dieses ihres wirklichen Lebens: Was bedeutet mir eigentlich Gott? Welche Bedeutung hat Gott in alledem?

Hat Gott eine wirkliche Bedeutung? Würde die Seele anders aufstehen, anders in die Schule gehen, mit Freunden sprechen, Musik und Sport machen, essen, chatten, faulenzen, lesen und Filme schauen, wenn sie nicht an Gott glauben würde? Glaubt sie in diesen Momenten – die alle zusammen den ganzen Tag ausmachen – eigentlich an Gott oder tut sie es nicht? Welche Rolle spielt Gott für sie während ihres ganzen Tages und ihres ganzen Lebens, außer in den einzelnen Minuten des Gebetes – und selbst da, welche Rolle spielt Gott für die Seele in diesen Minuten?

Es geht also um die echte Frage, welche Realität Gott für die Seele ist. Bedeutet der Glaube einen Unterschied? Macht es – selbst wenn die Realität Gottes den ganzen Tag vergessen zu sein scheint, wenn man nicht an sie denkt – einen Unterschied, ob man „eigentlich“ an Gott glaubt oder nicht? Gibt dies auch den anderen Handlungen der Seele eine etwas andere Färbung, einen etwas anderen Charakter, eine etwas andere Gesinnung, ein etwas anderes Sein? Ist also selbst da, wo Gott vergessen zu sein scheint, die Realität der Seele dennoch eine andere, als wenn sie gar nicht an Gott glauben würde? Glaubt die Seele an Gott auch da, wo sie ihn aktuell vergisst? Ist die Seele selbst eine andere, wenn sie an Gott glaubt – auch da, wo sie ihn gerade vergisst? Auch da, wo dieses Vergessen fast den ganzen Tag ausmacht? Oder ist es gar kein völliges Vergessen?

Die Frage ist also: Was macht der Glaube? Was macht der Glaube an der Seele anders macht er etwas anders?

Oder stehen diejenigen Menschen, die nicht an Gott glauben, auf genau die gleiche Weise auf, wie diejenigen, die an Gott glauben? Gehen sie auf die gleiche Weise in die Schule, sprechen sie auf die gleiche Weise, hören sie in gleicher Weise Musik, chatten sie gleich und essen, faulenzen und lesen sie gleich? Ist der einzige Unterschied der, dass die einen abends noch eine Minute ein Gebet sprechen und die andere nicht...? Oder gibt es in allem noch einen vielleicht feinen, kaum greifbaren Unterschied – und wenn ja, worin liegt dieser?

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Das genau ist die Frage: Wird der Mensch ein anderer, wenn er an Gott glaubt? Wird seine Seele anders? Denkt und fühlt sie anders, als sie es ohne diesen Glauben täte? Handelt sie dadurch auch anders?

In einem Gebet heißt es: „Sprech’ ich mit dem Munde, folg’ ich Gottes Willen...“. In wenigen Worten wird damit etwas Ungeheures gesagt! Und wie leicht sagt sich dies, ohne dass man auch nur irgendetwas davon wahr macht. Wie leicht ist dies im Alltag immer wieder völlig vergessen, gerät man in Streit, lässt ein unfreundliches Wort fallen, beschimpft sich gegenseitig...

Die Seele weiß innerlich genau, was das Gute ist – und was nicht das Gute ist. Und doch geht sie jeden Tag und jeden Moment immer wieder über ihr eigenes tieferes Wissen hinweg... Sie geht damit auch über „Gottes Willen“ hinweg, der sogar derselbe ist wie dasjenige, was in der Seele selbst spricht – und dennoch ist der Impuls zum Streit, zum Schimpfen, zu einem lieblosen Wort in dem Moment stärker und die Seele folgt diesem und nicht dem Guten... Macht es also einen Unterschied, ob sie überhaupt an Gott glaubt; ob sie jeden Abend wieder diese Worte sagt, während sie sich doch nicht daran hält...? Tun nicht andere Menschen ebensosehr ab und zu – oder vielleicht sogar öfter – das Gute, auch wenn sie gar nicht an Gott glauben?

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Bevor wir diese Frage wirklich beantworten können, müssen wir uns etwas anderes bewusst machen.

Der Glaube ist in seiner gewöhnlichen Gestalt etwas, was ohnehin vor der Gefahr steht, immer mehr abzunehmen, gewissermaßen zu „vertrocknen“ und zu vergehen, bis er nach und nach irgendwann nicht mehr da ist – vielleicht noch da, aber eigentlich nicht mehr, weil er nur noch eine lächerliche, kümmerlich Gestalt hat, die vielleicht noch aus Tradition aufrechterhalten wird, die aber am liebsten auch noch fallengelassen werden würde... „Gott? Ja, daran habe ich auch einmal geglaubt...“

Das also ist die Gefahr: dass der Glaube den Weg alles Irdischen geht – den Weg der Vergänglichkeit.

Aber dies genau ist der Punkt, in dem sich die Frage zwischen dem wirklichen Glauben und dem un-wirklichen, nutzlosen Glauben entscheidet! Denn wenn es um das Göttliche geht – wie könnte da je das Irdische zureichend sein? Wo der Glaube nur irdisch ist, wo er nur schwach und somit vergänglich ist, da ist er doch überhaupt nicht in der Lage, sich zum Göttlichen, zu dessen Realität zu erheben! Da bleibt er nur in der Vorstellung; die Vorstellung hat wiederum fast nichts mit dem realen Leben zu tun und so geht sie an diesem Widerspruch den Weg alles Irdischen, sie geht allmählich zugrunde. Der bloß vorgestellte Glaube ist noch irdischer als das Leben selbst – und gegenüber diesem realen, lebendigen Leben kann er eigentlich nur völlig verblassen. Weil er von Anfang an eigentlich blasser war als das Leben selbst, ist es im Grunde sogar eine Erlösung, wenn er irgendwann völlig fallengelassen wird, denn gegenüber dem Leben war er ja doch nur eine Illusion, nichts Wirkliches...

Dass der Glaube gewöhnlich so schwach ist, ist im Grunde schon ein Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt. Denn der Mensch fühlt sehr deutlich den Unterschied zwischen diesem schwachen Glauben und dem realen Leben. Was so sehr gegenüber dem Leben verblasst, kann doch eigentlich keine Wirklichkeit haben – und recht hat sie, die Seele, die so empfindet! Aber nicht Gott, sondern ihr eigener Glaube hat keine Wirklichkeit!

Es müsste die Seele doch eigentlich sehr beeindrucken, wenn Gott selbst der Seele voraussagt, wie schwach ihr Glaube bleiben wird, wenn sie sich nicht um den wahren Glauben bemüht.

Im Matthäus-Evangelium spricht Christus es sogar zweimal aus:

„Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ (Mt 13,12)

„Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ (Mt 25,29)

Dies ist keine göttliche Ungerechtigkeit, sondern eine Tatsache im Reiche des Seelischen. Dasjenige Seelische, das sich vom Irdischen und vom bloß Vorstellungsmäßigen zu wenig lösen kann, das wird immer wieder in dieses zurückfallen – und seine Vorstellungen werden den Weg alles Irdischen gehen. Selbst das, was die Seele anfangs an Glauben hatte, wird sie verlieren, es wird ihr genommen werden.

Dem steht aber der andere Teil des Christus-Wortes gegenüber: Diejenige Seele, die einen solchen Glauben hat, der sich vom Irdischen wirklich befreien kann, der über die bloßen Vorstellungen hinausgeht und sich zu einem realen Glauben erhebt, der das Göttliche ahnt, auf das Göttliche wahrhaft vertraut, es empfindet, sich in ihm geborgen weiß – in dem also das Glauben mehr und mehr zu einer unerschütterlichen Überzeugung, zu einem Wissen wird – eine solche Seele wird lebendig in das Erleben des Göttlichen hineinwachsen, immer mehr. Der Glaube, der real geworden ist, wird immer mehr wachsen, diesem Glauben wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben...

Nichts anderes besagen auch andere Gleichnisse des Menschensohnes – etwa die Gleichnisse von den Samen, die auf Stein oder zwischen die Dornen fallen, und jenen Samen, die auf den guten Boden fallen. Wir alle kennen dies auch aus der Wirklichkeit. Wenn man im Frühling in den Wald geht, kann man unzählige keimende Buchen- oder Eichenkeimlinge sehen – aber die meisten von ihnen vertrocknen schnell, weil ihnen genügend Feuchtigkeit fehlt, weil sie zu wenig Licht haben oder weil ihre innere Kraft nicht groß genug war.

In der Frage des Glaubens aber hat die Seele wirklich alles in der Hand. Der Same kann nichts für den Boden, nichts für den fehlenden Regen, nichts für die brennende Sonne. Die Seele aber soll sich selbst zum Boden bereiten – und sie hat es in der Hand, dies auch zu können, wenn sie es wirklich will. Dann kann die äußere Welt noch so viele Hindernisse in den Weg leben – die Seele kann all diese Hindernisse umarbeiten und gegen alle Hemmnisse an sich selbst zur guten Erde machen...

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Es gibt unzählige Menschen, die im mittleren Lebensalter, mit vierzig oder fünfzig, irgendwann endgültig ihren „Kinderglauben“ ablegen – und dann auch noch stolz darauf sind, nun endlich ein Stadium der Reife erlangt zu haben. Irgendwo tief innerlich lebt auch in ihnen eine Art Wehmut über diesen Verlust, doch äußerlich verkaufen sie diesen der Welt und sich selbst gegenüber als Lebensweisheit, Reife, Erwachsenwerden – und was des Missbrauchs der Begriffe mehr ist...

Was hier geschieht, ist nichts anderes als ein Aufgeben des eigentlichen Wesens der Seele. Solche Menschen verholzen in ihrer Seele endgültig. Sie fühlen sich dadurch stark, so wie der Baum sich stark fühlt, dessen äußere Rinde abstirbt, um um so standhafter zu sein – doch sie vergessen, dass der Baum innerlich gerade ein um so lebendigeres Leben hat, während ihr inneres Leben zu einem kümmerlichen, sehr irdischen Rinnsal wird, das immer mehr ins Unsichtbare vergeht, während das Oberflächliche, der Selbstbetrug, die Lebenslüge immer größer wird...

Man kann sich fragen, warum die göttliche Welt dies zulässt – dass die Menschen einen so schwachen Glauben haben, den sie dann auch noch völlig verlieren, dass also der Mensch sich völlig von dieser göttlichen Welt löst, seelisch gleichsam abstirbt und dabei noch glaubt, sehr lebendig zu sein. Man kann gerade dadurch an der göttlichen Welt und am Glauben zweifeln, dass doch so unendlich oft der Glaube sich als nutzlos erweist, als vergänglich und folgenlos, ebenso folgenlos wie der Unglaube der großen Welt. Man kann dies als Sinnlosigkeit oder sogar Ungerechtigkeit der göttlichen Welt vorwerfen – und sich von ihr lossagen, den Glauben an sie verlieren.

Seltsamerweise glaubt man im Moment des Vorwurfes noch an die göttliche Welt, denn sonst gäbe es ja niemandem, dem man etwas vorwerfen könnte – und doch ist dieser Vorwurf dann gerade der Grund, den Glauben zu verlieren. – Schon immer haben Menschen damit gerungen, dass es scheinbar völlig egal ist, ob man glaubt oder nicht, und sind über dieser furchtbaren „Entdeckung“ an ihrem eigenen Glauben irre geworden. Mit anderen Worten: Sie haben dasjenige aufgegeben und verloren, worin sie keinen „Sinn“ mehr sahen – wobei „Sinn“ vor allem „Nutzen“ bedeutete... Doch wie schwach ist ein so egoistischer Glaube!

Es kann eine sehr große Frage sein, warum die göttliche Welt nichts gegen das viele Unrecht auf Erden tut, warum sie scheinbar die Glaubenden nicht belohnt und die Ungläubigen nicht bestraft. Und doch gilt auch hier das große Wort Tolstois:

„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt. Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast, so rührt das daher, dass an deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst...“

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Es ist doch seltsam, dass so viele Menschen an Gott zweifeln – und niemals dazu kommen, an sich zu zweifeln... Wenn man hoch genug von Gott denken würde und nicht fortwährend sich selbst über Gott stellen würde, müsste man doch in jedem Moment immer wieder nur an sich zweifeln, wenn man merkt, dass der eigene Glaube Risse bekommt. Man müsste doch immer wieder die lebendige Empfindung haben, dass der eigene Glaube zu schwach ist – statt jemals wirklich an Gott zu zweifeln.

Aber was hier wirkt, ist der ungeheure Hochmut des Verstandes – der sich noch in jedem Moment über Gott stellt und niemals auch nur einen Augenblick lang niedriger machen würde, um zu Gott aufzuschauen; um auch nur im Ansatz etwas zu empfinden, was man Demut oder Ehrfurcht nennen könnte. Der Verstand ist zu so etwas nicht in der Lage und auch nicht ansatzweise willens – und unsere Seele ist machtvoll vom Verstande beherrscht... Dies zu erkennen, ist der Seele zunächst fast unmöglich, denn womit sollte sie dies tun, wenn sie gewöhnlicherweise doch alles gerade mit dem Verstande erkennt...?

Hier ginge es wieder darum, sich in seinem Ich zu ergreifen. Aber auch die Seele könnte sich mit jenem Teil ihrer selbst, der eine Sehnsucht nach dem Göttlichen empfindet, vom Verstande distanzieren und so dahin kommen, ihn und sein Wesen wirklich anzuschauen. Die Seele kann wirklich dahin kommen, klar zu sehen, dass ihre eigenes Wesen etwas völlig anderes ist als dieser hochmütige, kalte Verstand, der sich über alles stellt, sogar über den Schöpfer aller dinge und Wesen, sogar über Gott... Der Verstand kann leicht, ganz leicht, mit einem Fingerschnippen, an Gott zweifeln und sagen: „Was für ein alberner Glaube! Gott ist nutzlos, sinnlos, nicht existent, Wunschglaube, Kinderkram!“ – Die Seele aber, die wirkliche Seele, ihr tiefstes Wesen, kann nicht an Gott zweifeln – und selbst wenn sie es tut, immer wieder nur tief daran leiden und sich nach einer Überwindung dieses Zweifels sehnen, nie aber nach einer Realisierung dieses Zweifels.

Der Verstand macht diesen Zweifel zu einem neuen Glauben – zu der „Gewissheit“, dass Gott nicht existiere, oder dass, selbst wenn Gott existiere, der Glaube an ihn nutzlos sei. Die Seele kann an alledem nur leiden. Sie kann sich gegenüber diesem in ihr selbst stattfindenden Geschehen nur behaupten, wenn sie es lernt, sich dem Verstande gegenüberzustellen, sich in ihrem Kern nicht mit ihm zu identifizieren. Dann lernt sie empfinden, wie in Gestalt dieses Verstandes etwas ganz anderes in sie hineinragt, etwas, was sie nicht selbst ist.

Das ist der erste Schritt der Demut, aber auch des wirklichen, starken Glaubens gegenüber der göttlichen Welt: die Erkenntnis, dass nicht alles die eigene Seele ist – dass die Seele zunächst viel weniger ist als das, was sie in sich selbst vorfindet. Diejenige Seele, die sich mit dem Verstand identifiziert, empfindet sich als stark und mächtig, denn der Verstand bildet ein mächtiges Zentrum und stellt sich gerne, gut und geschickt über alles, wirklich alles. Diejenige Seele aber, die lernt, vorsichtig zu empfinden; die lernt, sich von den eigenen Verstandes-Gedanken und daraus resultierenden Gefühlen zu distanzieren und zu empfinden, dass ihr eigenes Wesen ein anderes ist, andere Gedanken oder Empfindungen hätte und haben will – diejenige Seele lernt sich zunächst in einer wirklichen Schwäche, einer wunderbaren Zartheit kennen.

Aber gerade diese schwache Zartheit ist es, die zu ihrer wirklichen Stärke heranwachsen kann, wenn sie sie hütet...

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Sobald die Seele gelernt hat, sich selbst von den Wirkungen des Verstandes zu unterscheiden, auch von dessen Gedanken zu unterscheiden, hat sie einen unendlich bedeutsamen Schritt gemacht – den wichtigsten Schritt hin zu sich selbst. Wenn sie diesem Schritt treu bleibt, kann immer weniger die Seele von sich selbst trennen, kommt sie ihrem eigenen, tiefsten Wesen immer näher.

Der Verstand argumentiert sehr kalt und nüchtern („Der Glaube ist, genau betrachtet, doch sinnlos und eine Illusion“). Solange die Seele sich mit ihm noch identifiziert, spürt sie diese Kälte nicht wirklich – denn sie empfindet all dies ja noch als ihres, als die eigenen Gedanken; und solange sie dies sind, sind sie natürlich auch noch von Wärme berührt, von der eigenen Wärme der Seele. – Sobald die Seele sich vom Verstand aber unterscheiden kann, kommt sie immer mehr in die Lage, zu empfinden, wie sehr dies „Einflüsterungen“ einer wirklichen Gegenmacht sind. Dann nämlich spürt die Seele, wie sehr sie selbst am Glauben festhalten will und eigentlich auch gar nicht zweifelt, während es eine ganz andere Macht ist, die – und nun wird ihre Kälte wirklich erkannt und erlebt – spricht: „Der Glaube ist sinnlos und eine Illusion, schau nur genau hin...“

Wenn die Seele sich von dieser bewussten, berechnenden Kälte und von dem scheinbar Zwingenden, Unausweichlichen solcher Gedanken nicht irre machen lässt, kann sie das ganze Wesen dieser Gegenmacht entlarven. Dann nämlich sieht sie immer mehr, wie stark diese Macht die Seele überreden will; wie sehr das „Unausweichliche“ nur in den Begrenzungen des Verstandes selbst liegt – wie aber die Seele ihrem Wesen nach an diese Begrenztheiten gar nicht gebunden ist, sondern jenseits dieser Begrenztheit jederzeit das Göttliche finden kann, wenn sie es nur wahrhaft sucht...

In seinen berühmten „Pensées“ hat Blaise Pascal geschrieben: „La coeur a sa raison, que la raison ne connait pas.“ Das heißt übersetzt: Das Herz hat seine eigene Vernunft (oder seine eigenen Gründe), die der Verstand nicht kennt...

Wir glauben heute immer wieder, dass nur der Verstand die erkennende Instanz sein kann. Und doch kennen wir alle die Worte aus dem Kleinen Prinzen, die der Fuchs spricht: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Und wir wissen, dass dies wahr ist! Warum erkennen wir dann nicht völlig bewusst, dass der Verstand nicht diejenige Instanz sein kann, die die volle Wirklichkeit erkennt – dass er immer nur sehr beschränkt erkennen kann, weil er gerade von all demjenigen, was nur mit Wärme, mit Liebe erkannt werden kann, niemals etwas wissen wird...?

Solange wir in unserem Glauben den gewöhnlichen Verstand mitsprechen lassen, öffnen wir der einen Gegenmacht die Tore, unseren Glauben zu schwächen – durch scheinbar allmächtige Verstandesgründe...

Das heißt nicht, dass der Glaube irrational und damit illusionär wäre – es heißt nur, dass der Glaube keine Verstandes-Angelegenheit ist, sondern eine Herzenssache, eine Angelegenheit der ganzen Seele, und dass es eine viel höhere, umfassendere Ratio gibt als diejenige, die der Verstand kennt und die die Gegenmacht uns als die einzige hinstellen will...

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Diejenige Seele, die sich von den Einflüsterungen des bloßen Verstandes ein Stück weit befreien konnte, kommt zugleich auch immer mehr in die Lage, sich von anderen Einflüsterungen zu befreien, die gleichsam von der Gegenseite kommen.

So, wie der Verstand kalt und nüchtern argumentiert und hinter ihm eine Gegenmacht steht, die im Verstande und durch ihn hindurch wirksam ist, so gibt es auch eine andere Gegenmacht, die heiß und selbstbezogen die Seele auf die andere Seite der Abirrungen ziehen will.

So, wie die im Verstande wirkende Gegenmacht die Seele ihr innerstes Wesen völlig vergessen lassen will und sie ganz in eine scheinbar „objektive“, seelenlose und gottlose Welt hineinführen will, sie von einer kalten und nüchternen „Wirklichkeit“ überzeugen will – so wirkt in der Seele noch eine andere Gegenmacht, die die Seele nun allzusehr auf sich selbst lenken will, sie auf diese Weise in einen Gegensatz zur Welt bringen will, sie davon überzeugen will, dass ihr innerstes Wesen selbstbezogen ist, die eigentlich alle selbstlosen Impulse auslöschen will...

Die im Verstande wirkende Gegenmacht besiegt die Seele, indem sie sich auf ihr eigenes Wesen besinnt – auf das Seelenvolle, das Warme, das eine Sehnsucht nach dem Göttlichen hat, das Liebe empfinden kann und in alledem nicht weniger objektive Wirklichkeit erkennt als in der übrigen Wirklichkeit... Die im übersteigerten Selbstbezug wirksame Gegenmacht überwindet die Seele, indem sie lernt, sich auch davon zu unterscheiden und sich wiederum auf ihr wahrhaft innerstes Wesen zu besinnen – das in Wärme und Liebe nicht sich empfinden will, sondern die Welt, das Andere, den Anderen...

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Was also kann der Glaube sein? Ein großartiger Lehrer, eine großartige Lehrerin der Selbsterkenntnis! Mit Hilfe des Glaubens kann die Seele zu der Erkenntnis kommen, dass die damit zusammenhängenden Fragen wichtigste Fragen überhaupt erst eröffnen – Fragen über das wirkliche Wesen der Seele, über ihren wirklichen Zusammenhang mit der göttlichen Welt, über das eigentliche Wesen der Wirklichkeit...

Sobald die Seele die Wirklichkeit nicht einfach nur hinnimmt – eine scheinbar gottlose Wirklichkeit, in der die Seele einer Welt gegenübersteht, in der es Gott offenbar nicht gibt, während in ihr selbst der Glaube auch nur eine Vorstellung, eine Illusion, eine subjektive Sehnsucht ist –, sondern beginnt, dieser Wirklichkeit außerhalb von ihr und in ihr mit wirklichen Fragen entgegenzutreten ... kann diese Wirklichkeit beginnen, ihr wahres, ihr volles Gesicht zu offenbaren.

Diejenige Seele, die zu erkennen beginnt, dass das Verstandeswirken etwas ganz anderes ist als ihr eigenes tiefstes Wesen, hat etwas unendlich Bedeutsames erkannt. Sie hat begonnen, ihr eigentliches Wesen wirklich zu erkennen – und diese Erkenntnis wird sie auch einem wirklichen Erkennen des Göttlichen entgegenführen. Die Gegenmacht, die jede höhere Erkenntnis verhindert, die den Glauben lähmt und vertrocknen lässt, die der Seele eine seelen- und gottlose Welt vorgaukelt, diese Gegenmacht wurde in einem ersten Schritt erkannt – und die Seele hat die Kraft gehabt, sich von ihr zu unterscheiden...

Damit aber sind für die Frage des Glaubens wichtigste Perspektiven eröffnet! Denn wenn es so ist, dass in der Seele selbst fortwährend eine Kraft wirkt, die den Glauben lähmen will und auch wirklich lähmt, und wenn diese Kraft gerade nicht die Seele selbst ist bzw. wenn ihr tiefstes Wesen ein ganz anderes ist, dann ist klar, dass die Seele selbst derjenige Schauplatz ist, wo um den Glauben gekämpft wird – und schon immer gekämpft wurde, auch schon, bevor es der Seele überhaupt bewusst geworden war. Die Seele beginnt zu erkennen, dass der in ihr wirkende Verstand schon immer diejenige Kraft gewesen war, die die Stärke des Glaubens verringert hatte und im Grunde fortwährend dahin wirkt, die Existenz des Glaubens zu bedrohen, ihn auslöschen zu wollen. Nicht der Verstand selbst will den Glauben auslöschen, er kann einfach nur nüchterne Gedanken formen, sonst nichts – aber die hinter dem Verstand stehende Gegenmacht, sie will den Glauben auslöschen...

Damit steht die Seele vor der klaren Erkenntnis, dass es an ihr liegt, welches Schicksal der in ihr lebende Glaube haben wird – ob er der seit Erwachen des Verstandes gegen ihn agierenden Gegenmacht allmählich immer mehr erliegen wird, oder ob er sich siegreich gegen diese Macht erwehren wird, um unerschüttert von ihren Angriffen, immer weiter zu wachsen und zu erstarken, auf dass er die Fülle habe...

In der Seele selbst findet der Kampf um die Seele statt – und die einzige Frage ist, ob und wann der Zeitpunkt kommt, an dem die Seele in diesen Kampf bewusst einzugreifen beginnt...

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Und dennoch kann die göttliche Welt zunächst unendlich fern erscheinen. Die Seele weiß nun zwar bewusster als je zuvor, wie sie ihren Glauben bewahren kann – doch ist die göttliche Welt dem Erdenleben dadurch näher gerückt?

Die Seele ist sich nun vielleicht auch deutlicher als je zuvor der Impulse zum Guten bewusst, die in ihr leben – gerade weil sie sich auch von der zum Egoismus verführenden Gegenmacht immer mehr zu unterscheiden lernt –, aber ist die göttliche Welt selbst ihr dadurch näher?

Natürlich ist sie ihr dadurch näher! Denn die Impulse zum Guten sind im Grunde nichts anderes als die göttliche Welt selbst. Die Seele, die den Willen zum Guten als Realität in sich fühlt – sie ist bereits mit der göttlichen Welt vereint, die Gotteswelt lebt in ihr! Sobald sie sich darauf etwas einbildet, lebt natürlich auch unmittelbar die Gegenmacht in ihr und schwächt die Wirklichkeit des Göttlichen oder löscht diese sogar aus... In jedem Fall aber ist das Wirken der göttlichen Mächte und der Widersacher unendlich nahe, so nahe wie das eigene Ich.

Das Verständnis für das Wesen des Christus kann nun aber immer umfassender werden – und auch immer konkreter. Die Seele kann es sich immer konkreter bewusst machen, dass nicht nur abstrakt jeder Impuls zum Guten etwas mit dem Göttlichen zu tun hat, sondern – dass alles, was real das Gute ist, wirklich zugleich das Wesen des Christus ist. Es ist also nicht so, dass das Gute eines ist und Christus etwas anderes. Es ist nicht so, dass Christus gelehrt hat, man solle das Gute tun und den Nächsten lieben – sondern Christus selbst ist in seinem ganzen Wesen die Liebe, um die es geht. So wie es nichts gibt, was Gott nicht ursprünglich geschaffen hätte, so gäbe es auch die Liebe nicht ohne Gott – Gott selbst aber ist die Liebe. Christus ist das Wesen der Liebe – und der Gottessohn ging als Menschensohn gerade deshalb durch den Tod, um als Auferstandener, als auferstandenes Liebeswesen der Erdenmenschheit unendlich nahe zu sein.

Die Liebe ist nicht nur ein Wort – sie ist eine unendliche Wirklichkeit, so vielfältig, wie ein in unendlichen Facetten in der Sonne glitzernder Diamant und noch unendlich vielfältiger.

            Es lebte Christus einst auf Erden,
            Und dieses Lebens Folge war,
            Dass er in Seelenform umschwebt
            Der Menschen Werden.
            Er hat sich mit der Erde Geistesteil vereint.

Alles, was überhaupt nur mit der Entwicklung der Seele, mit der Offenbarung ihres wahren Wesens zu tun hat, hat mit diesem Wesen der Liebe zu tun, mit Christus... Man kann sagen, Christus ist auf geheimnisvolle Weise der Hüter dieses tiefsten Wesens der Seele.

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Alles, was in irgendeiner Weise mit dem Guten zu tun hat, geht von Christus aus, ist Teil Seines Wesens, hat eine tiefe Beziehung zu Ihm, gewinnt Anteil an Ihm. Dies absolut real zu denken und real zu empfinden, ist ... realer Glaube! Denn dann wird der Glaube zu einer Realität, zu einer realen Beziehung zu Christus. Er bleibt nicht nur „Glaube“ – er wird zu einem Christlichwerden der Seele selbst. Glaube wird Wandlungskraft... Die Seele öffnet sich Seinem Wesen – und Christus selbst beginnt, in die Seele einzuziehen...

Alles, was mit dem Wesen der Liebe zu tun hat, gehört zum Wesen dieser Liebe. Wenn ich mit Liebe eine Rose betrachte, oder eine Wegwarte am Wegesrand, wenn ich mit inniger Liebe in der Wahrnehmung, in wirklicher Hingabe in der Aufmerksamkeit ein Spinnennetz betrachte – dann wirkt auch in dieser Liebe das Wesen des Christus, ohne das der Mensch diese Fähigkeit und Kraft gar nicht hätte.

Wenn die Seele in ihrem Urteil vorsichtig wird, wenn sie nicht hart urteilt, auch nicht schnell urteilt, wenn sie sich von beiden Gegenmächten fern hält und immer mehr eine Liebe zum Nicht-Urteilen fasst, oder aber zu einem unendlich zarten Urteilen, in dem sich eigentlich nur die Wirklichkeit selbst ausspricht und die Seele nichts Eigenes hinzufügt – dann lebt auch in dieser Zartheit des Urteils das Wesen des Christus...

Wenn die Seele beginnt, in allem ihre Härte und ihren Selbstbezug zu verlieren, wenn sie lernt, in allem – in der Wahrnehmung, im Urteil, in jeder kleinen Handlung – immer mehr das Zarte, das Vorsichtige, das Sanftmütige zu offenbaren, dann nimmt sie in ihrem ganzen Sein immer mehr die Kraft und das Wesen des Christus in sich auf.

Bis in die kleinste Handlung kann dies gehen. So, wie die Seele sich selbst von den Wirkungen des Verstandes zu unterscheiden gelernt hat, so kann sie auch in ihren Handlungen unterscheiden, ob sie etwas aus Gewohnheit und Pedanterie, aus Sauberkeits- und Ordnungsfimmel tut, oder aber aus wirklicher Liebe zu den Dingen... Der Mensch kann lieblos mit den Dingen umgehen, weil er sie nicht einmal wirklich sieht, weil er sie nur benutzt – oder er kann in jeder kleinen Handlungen liebevoll mit den Dingen umgehen, die ihm dienen... Von außen ist dies dann nicht von Ordnungsliebe oder ähnlichem zu unterscheiden, innerlich liegt jedoch eine ganze Welt dazwischen. Die Welt des Unterschiedes, ob Seele in den Handlungen lebt oder nicht, ob Christus selbst in jedem kleinen Tun leben darf oder nicht...

Sobald das menschliche Handeln seelenvoll wird, wirklich von Bewusstsein durchdrungen wird und in diesem Bewusstsein die Liebe aufnimmt, das Vorsichtige, das Sanfte, ja das Anmutige, gewinnt die Seele bis in ihre äußeren Handlungen hinein eine Beziehung zum Christuswesen. Nicht nur glaubt sie im Denken an die göttliche Welt, nicht nur fühlt sie im Fühlen sich religiös dieser Welt verbunden – sondern sie handelt auch in einem wirklichen Durchdrungensein von dieser Welt. Nicht nur tut der Mensch in Handlungen Gutes, sondern auch die Handlungen selbst, die einzelnen Bewegungen der Arme, der Hand, der Beine, des Fußes, alles wird bewusst – und liebevoll, vorsichtig, sanft...

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Dies kann und darf niemals eine äußere Vorschrift sein. Man kann sich dies auch nur begrenzt „vornehmen“. Es muss etwas werden, was von innen heraus wächst – weil die Seele selbst innerlich eine Kraft aufzunehmen beginnt, aus der sie heraus gar nicht anders handeln will. Und schließlich, indem sie mit dieser Kraft immer mehr eins wird, auch gar nicht mehr anders handeln kann... Wenn sie wirklich wollte, könnte sie anders, aber das Helle, das Sanfte, das Bewusste, wird ihr schließlich so sehr zu einer neuen, höheren Gewohnheit, dass keine Gegenmacht mehr in der Lage ist, sich zwischen die Seele und ihre kleinsten Handlungen zu drängen.

Das ist das Ziel des Glaubens: eine Verwandlung der Seele bis ins Innerste und bis ins Äußerste, so dass sie in allem dasjenige offenbart, an das sie glaubt...

Christian Morgenstern, dieser tief christliche Dichter, schrieb einmal: „Habt das Leben bis in seine unscheinbarsten Äußerungen hinab lieb, und ihr werdet bis in eure unscheinbarsten Bewegungen hinab unbewusst von ihm zeugen.“ In einer Weiterführung dieser Worte könnte man sagen:

Liebt das Wesen des Christus mit aller Kraft eurer Seele – und ihr werdet bis in eure unscheinbarsten Bewegungen hinab bewusst-unbewusst von Ihm zeugen...

Christus lässt den Menschen absolut frei. Er drängt sich nicht wie seine Widersacher in die menschliche Seele hinein – er wartet darauf, dass die Seele sich aus voller Freiheit Ihm zuwendet. Gerade dies stellt die Seele vor die Aufgabe, sich immer wieder auch bewusst zu werden, was Christus nicht nur bedeutet, sondern was er für die Seele getan hat. Ohne Sein Wesen würde die Welt nicht existieren. Ohne Seine Tat, durch die er der Menschensohn wurde, durch den Tod ging und als Auferstandener nun die ganze künftige Menschheitsentwicklung innigst begleitet, würde die Menschheit, das Menschsein, wie wir es kennen, längst nicht mehr existieren. Und doch muss die Seele den entscheidenden Schritt tun, wenn sie eine volle Beziehung zu Ihm gewinnen will.

An einem Kreuz am Wegesrand – so schildert es ein Roman von Mieke Mosmuller – waren einmal die Worte geschrieben: „Dies tat ich für Dich. Was tust Du für mich?“

Diejenige Seele, die wirklich beginnt, das Wesen des Christus zu empfinden, kann sich durch solche Worte nur tief erschüttern lassen. Es wird ihr deutlich sein, dass in diesen Worten des Christus keinerlei Forderung oder Erwartung lebt, nur ein aufrichtiges Warten, ein sanftes Hoffen, ein unendlich zarter Aufruf...

Und doch kann die Seele daran immer wieder neu aufwachen für die unglaubliche Tatsache, dass ein Gotteswesen wirklich durch den leidvollsten und zugleich unschuldigsten Tod ging – um des Menschen willen. Dies tat ich für Dich...

Der Glaube offenbart die tiefste Sehnsucht der Seele. Sie aber hat in diesem Glauben und in sich selbst alle Kraft, um dem Christuswesen immer mehr entgegenzuleben, entgegenzuwachsen, in ihrer Entwicklung sich immer mehr mit Ihm zu verbinden. Der Seele sind keine Grenzen gesetzt, ihren Glauben wachsen zu lassen, zu einer immer stärkeren Realität werden zu lassen, zu einem unmittelbaren Zusammenleben mit Christus werden zu lassen – auf dass sie die Fülle habe...