15.11.2014

Was schreibt Clement außerhalb der SKA?

Oder: Über die Frage nach dem Zugang zu Rudolf Steiner


Inhalt
Um welche Fragen geht es eigentlich?
Clements biografischer Hintergrund
Zur Frage der Mormonen
Zum Sektierertum der Anthroposophen
Zum Verhältnis von Clement und Zander
Was versteht Clement von Rudolf Steiner?
Über das Hinweggehen über Steiners Lebenswerk ab 1907
Von Ballmer zur New-Age-„Anthroposophie“
Glaube und Wissenschaft, Religion und kritisches Denken
Vertrauen, Intellekt und Salonfähigkeit
Welche Folgen hat kritische Anthroposophie- und Bibelforschung?


Um welche Fragen geht es eigentlich?

In dem vorhergehenden Aufsatz wurde versucht, einen Eindruck von Clements Vorwort zur SKA 5 (und am Ende auch zur SKA 7) zu geben, der sehr deutlich machen kann, dass Clement einen ganz anderen Zugang zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner hat als Helmut Zander.

Während bei Zander, auch wenn sein Anspruch ist, historisch-kritisch-kontextualisierend zu arbeiten, eine ganz offensichtliche antipathische und abwertende Tendenzen gegenüber Rudolf Steiners Person und seiner Anthroposophie zu bemerken sind (ich verweise in Bezug auf das Ausmaß und die Tiefe nochmals auf mein Werk „Unwahrheit und Wissenschaft“), ist bei Clement ein tiefes Interesse an Rudolf Steiner und der Anthroposophie, insbesondere dem Frühwerk, zu bemerken. Die Polarität zwischen Zander und Clement lässt sich also vielleicht zutreffend mit den Begriffen „Entlarvung“ einerseits und Interesse andererseits beschreiben, oder man kann auch sagen: interessengeleitetes Interesse bei Zander (für die eigenen Zwecke, die im Zusammenhang seines gebildeten, letztlich sehr negativen Urteiles stehen) und echtes Interesse bei Clement.

Die ganze Auseinandersetzung um Clement, die SKA und seine Vorworte spielt sich ja eigentlich vor allem deswegen ab, weil die Herausgabe der SKA und Clements Arbeit folgende Fragen aufwirft: Welche Rolle spielen die Mormonen dabei? Wie steht Clement zur Anthroposophie und wie sehr erfasst er ihr Wesen? Welche Wirkung hat eine textkritische Ausgabe von Steiner-Werken auf die Anthroposophie? Welche Wirkung haben Clements Einleitungen?

Die Befürchtungen, die hinter diesen Fragen stehen, kann man in etwa so formulieren: Eine textkritische Ausgabe ist nichts als eine „Einsargung“ von Steiners Werk und Anthroposophie. Clements Deutung in seinen Einleitungen geht als intellektuell-akademisch am Wesen der Anthroposophie vorbei. Es geht ihm auch gar nicht um die Anthroposophie, sondern allein um ihre intellektuell-akademische „Verarbeitung“, was aber eigentlich eine Vernichtung ist. Und wenn die Mormonen dies unterstützen und finanzieren, ist der Zweck dahinter erst recht offensichtlich.

Dazu ist folgendes zu sagen: Dass ein Akademiker akademisch an die Anthroposophie herangeht, ist vollkommen legitim, um nicht zu sagen selbstverständlich. Wenn man der Meinung ist oder aber die sichere Überzeugung bzw. das Erleben hat, dass damit das Wesen der Anthroposophie nicht erfasst wird, hat es keinen Sinn, jemanden zu verteufeln. Sinn kann es allein nur haben, dieses erkannte und erlebte Wesen deutlich zu machen – und die Mängel oder Fehler einer Herangehensweise, die an jenem Wesen vorbeigeht.

Es wäre und ist sektiererisch, Clement oder irgendeinen anderen Herausgeber einer textkritischen Ausgabe von Werken Rudolf Steiners als „Totengräber der Anthroposophie“ zu beschimpfen und anzuprangern. Wenn man Anthroposoph sein will, möge man dafür sorgen, dass das Leben der Anthroposophie sichtbar und erlebbar wird! Man lasse dann „die Toten ihre Toten begraben“ und trage dazu bei, dass der entscheidende Unterschied wirklich empfunden werden kann! Die sogenannten anthroposophischen Zusammenhänge leiden seit langem daran, dass ein solches Leben in der Welt überhaupt nicht wahrgenommen wird. Wenn es ein wirkliches Leben wäre, dann würde sich die Welt für das Tote schon immer weniger interessieren – es ist aber gar kein Leben. Man lenke also durch Verteufelung sogenannter „Gegner“ nicht davon ab, dass man selbst in seiner Verantwortung für die Anthroposophie und vor dem Wesen der Anthroposophie fortwährend scheitert.

Bei dem, was Clement an Darstellung und Deutung der Gedankenwelt Rudolf Steiners in der Einleitung zur SKA 5 gegeben hat – und über weite Strecken deutet er eben überhaupt nicht –, müsste das Erkenntnis-Gespräch ansetzen, um, wenn man meint, dass Rudolf Steiners Denken und Erkennen damit nicht erfasst ist, darüber hinauszugehen und zu zeigen, wie und warum Steiner selbst darüber hinausgeht. Zunächst aber müsste man verstehen, was Clement sagt und meint und was er nicht sagt und nicht meint.

Clements biografischer Hintergrund

Eine reine Auseinandersetzung mit Clements eigenen Darstellungen, Gedanken und Deutungen ist kaum möglich, wenn im Hintergrund allzu viele Fragen über seinen Zusammenhang mit den Mormonen offen bleiben. Daher soll hier zunächst darauf eingegangen werden. Wenn man sich über Hintergründe klarer ist, müssen sich daran keine dunklen Fragen und Unklarheiten knüpfen. Selbstverständlich können Fragen offen bleiben, aber diese sind es dann vor einem klareren Hintergrund.

In einem Interview mit Info3 vom Mai 2012 [o] und dann insbesondere vor einer Woche auf dem Blog „Egoisten“ von Michael Eggert [o] sprach Clement über Elemente seiner Biografie.

Christian Clement, Jahrgang 1968, studierte in Hamburg Philosophie, Musik und Pädagogik. Im Studium stieß er auf Rudolf Steiner, zunächst auf die Waldorfpädagogik, dann aber faszinierten ihn „vor allem das philosophische Werk Steiners und dessen Bezüge zur Mystik, zum deutschen Idealismus und zum Existentialismus, aber auch zur Psychologie und Psychoanalyse“. Seine erste Staatsexamensarbeit schrieb er über Steiners Erkenntnistheorie.

Neben seinem zweiten Staatsexamen machte er dann die Waldorf-Ausbildung in Hamburg, die er aber wegen der dort erlebten „Gruppenseelenhaftigkeit“ kurz vor Ende abbrach. Nach dem zweiten Staatsexamen (mit einer Arbeit über Steiners Freiheitsbegriff) ging er wegen seiner amerikanischen Lebensgefährtin in die USA und promovierte an der University of Utah mit einer Dissertation über Steiners dramaturgisches Werk („Die Geburt des modernen Mysteriendramas aus dem Geiste Weimars“, Berlin 2007).

Mit einer kranken Frau und mehreren Kindern nahm er dann ein Angebot der Waldorfschule Würzburg an und war dort Lehrer u.a. für Philosophie. Bald geriet er jedoch in die Rolle des Außenseiters. Nach zwei Jahren bot sich die Stelle an der Brigham Young University der Mormonen in Provo, Utah, wo er seitdem Lehrkraft für Deutsch und Deutsche Literatur ist.

Während seiner Promotion entwickelte er zunächst für sich selbst eine digitale Version des schriftlichen Werkes von Steiner, woraus dann das Rudolf Steiner Online Archiv wurde (anthroposophie.byu.edu). Mit dem Gedanken an eine text-kritische Herausgabe trat er dann im August 2010 an den frommann-holzboog Verlag heran, dessen Schwerpunkte auf dem deutschen Idealismus und der Mystik, aber auch der Psychoanalyse liegen und der tatsächlich genuines Interesse an dem Projekt zeigte. Clement hat heute sechs Kinder.

Zur Frage der Mormonen

Die Äußerungen Clements hierzu sind nicht widerspruchsfrei. Jedoch grenzt er sich zumeist sehr deutlich von einem entsprechenden Hintergrund ab. Offiziell erwartet die BYU offenbar – ähnlich vielen anderen konfessionellen Einrichtungen – eine mehr oder weniger weitgehende Übereinstimmung ihrer Angestellten mit den Überzeugungen und der Lebensweise der Mormonen, aber in dem erwähnten Info3-Interview sagt Clement [o]:

Die BYU nimmt keinerlei inhaltlichen Einfluss auf meine Arbeit und ich würde mir wünschen, dass deren Qualitäten an ihr selbst gemessen werden, ohne dass man sich den Blick von vornherein durch irgendwelche Voreingenommenheiten oder Verschwörungsängste verstellt. Eine „mormonische“ Deutung Steiners oder gar den Versuch einer religiös motivierten Instrumentalisierung von Anthroposophie (die man, wie ich mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen musste, an verschiedenen anthroposophischen Stellen befürchtet) wird man in der Kritischen Ausgabe vergeblich suchen.


Aber auch:

Neben meinem Leben mit meiner amerikanischen Lebensgefährtin und unseren sechs Kindern (fünf davon Töchter!) fasziniert mich an meinem Leben in Utah besonders, dass es mir erlaubt, die Spiritualität und lebendige Mysterienkultur dieser in vieler Hinsicht faszinierenden Glaubensgemeinschaft auf intime Art und gewissermaßen von innen kennenzulernen. Auch die mir hier gebotene Möglichkeit, Themen wie Mystik, Esoterik und Spiritualität in zentraler Weise zum Inhalt meiner akademischen Lehr- und meiner Forschungstätigkeit zu machen, macht diese Position für mich ausgesprochen attraktiv. Dass für jemanden mit meiner Sozialisation die Arbeit an einer Institution mit einem so eigenen kulturellen Profil wie demjenigen der BYU eine Herausforderung ganz besonderer Art darstellt, versteht sich ja von selbst. Dieser stelle ich mich jedoch mit Freude, nicht zuletzt, weil ich damit ein lebendiges Zeichen für die Fruchtbarkeit interdisziplinärer und interkultureller Grenzgänge und Brückenschläge setzen kann.


Diese Aussagen Clements mögen auch teilweise diplomatisch gemeint gewesen sein. Die „Mysterienkultur“ der Mormonen erscheint jedenfalls ausgesprochen zweifelhaft, wenn sie sogenannte Post-Mortem-Taufen von Menschen veranstaltet, um deren Seelen zu „retten“. Am 22. Januar 1992 geschah dies offenbar auch mit Rudolf Steiner, wie Clement auf Facebook mitteilte (im gleichen Jahr übrigens, in dem man in Dornach Steiners Asche in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Goetheanum entfernte, o). Ein weiteres Ritual der Mormonen ist die „Siegelung“, die eine vollgültige Verehelichung bedeutet. Auch dies sei, so Clement, am 15. Mai 2002 im Mormonen-Tempel von Sao Paulo in Bezug auf Steiner und Marie Steiner-von Sivers vollzogen worden. Auch eine weitere Siegelung Steiners mit Ita Wegman sollte vollzogen werden, diese aber habe Clement noch stoppen können [o].

Diese Dinge werfen ein merkwürdiges Licht auf die Mormonen, nicht so sehr auf Clement selbst. Etwas bedenklicher sind dann schon die Äußerungen auf Facebook, die R. A. Savoldelli in einer polemischen Glosse zitiert [o]:

Demnach hatte sich Clement am 31.10.2013 über die Post-Mortem-Taufe Steiners geäußert und geschrieben: „Falls also der Herr Doktor die stellvertretende Handlung (im Salt Lake Tempel) angenommen hat (was wohl eher unwahrscheinlich ist) wäre er am 22. Januar 1992 Mormone geworden und hätte am 5. August sein Endowment erhalten.“

Als A. Sandhaus um das Datum der wiederholten nachtodlichen „Steiner-Taufen“ bat, deren Doubletten im mormonischen Taufregister Clement zuvor offenbar zusammengeführt hatte, antwortete dieser am 3.11.2013 später: „Einen Link zu den Daten kann ich nicht posten, da es dazu bestimmter Zugangsprivilegien bedarf, die ich als BYU Professor habe, aber Sie nicht.“

Am 2.11.2013 schreibt Clement: „Es gibt tatsächlich einige Mormonen, welche tiefe Bezüge Steiners zu [Mormonen-Gründer] Smith und seinen esoterischen Anschauungen sehen, und die liegen ja auf der Hand.“

Wie diese „Bezüge“ aussehen, mag jeder, der sich der Anthroposophie verbunden fühlt und mit Rudolf Steiners Vorträgen etwa über Michael halbwegs vertraut ist, selbst beurteilen, wenn man auf der Webseite der Mormonen bzw. „Heiligen der Letzten Tage“ aus dem Smiths’schen Lehrwerk „Die Lehren der Präsidenten der Kirche“ zum Beispiel im 8. Kapitel liest:

„Das Priestertum wurde zuerst Adam gegeben; er erlangte die Erste Präsidentschaft und hatte deren Schlüssel von Generation zu Generation inne. Er erlangte sie bei der Schöpfung, noch ehe die Welt so geformt wurde, wie es in Genesis 1:26,27,28 steht. Ihm wurde die Herrschaft über jedes lebende Geschöpf gegeben. Er ist der Erzengel Michael, von dem in den heiligen Schriften die Rede ist.“


Wenn Clement seine obige Äußerung von den „tiefen Bezügen“ zwischen den „esoterischen Anschauungen“ des Mormonen-Gründers Smith und Rudolf Steiner ernst meint, dann beweist allein schon dieser eine Satz, dass ihm jeder Zugang zu dem Wesen von Rudolf Steiners Esoterik fehlt.

Man muss feststellen, dass der esoterische Steiner Clement eigentlich nicht weiter interessiert, bzw. dass er hier wirklich eine bestimmte Deutung hat, wodurch er dasjenige, worin die Esoterik der eigentlichen Anthroposophie über den frühen Steiner hinausgeht, entweder nicht sehen oder aber doch nicht ernst nehmen kann. Dies ist gerade der entscheidende Punkt, aber zunächst lassen wir diesen außer Betracht.

Wirklich erschreckend dagegen ist, wie der „Anthroposoph“ Michael Eggert (ich habe ihn als solchen nie betrachtet, er sich vielleicht auch nicht, aber er stellt sich immerhin in den Kontext eines mehr oder weniger auf die Anthroposophie bezogenen Blogs) an Clement gewandt schreibt:

8. November 2014 01:12 [o]
Christian, nur um das auch mal zu sagen: ich freue mich über die mormonische Toleranz und Akzeptanz gegenüber Rudolf Steiner. Auch die „Taufe“ ist doch nur ein schönes Symbol für Akzeptanz. Was dann jede Kultur mit Steiner macht -wie sie ihn interpretiert- liegt in ihrem Ermessen. Es gibt keine Deutungshoheit. Steiner gibt, denke ich, so viel her, dass Platz für ihn ist in vielerlei Kulturen.


Clement grenzt sich dagegen in seiner Antwort sogar ab und gibt dabei dann doch weitere Hintergründe über seine eigene Unabhängigkeit

8. November 2014 11:01 [o]
Es gibt mormonischerseits keine "Toleranz" oder "Akzeptanz" gegenüber Rudolf Steiner, ebensowenig wie es eine spezifische "Ablehnung" der Anthroposophie gibt. Die Kirche interessiert sich prinzipiell nicht dafür, worüber ich arbeite, solange meine Arbeiten akademisch untadelig sind und es darin keine Statements gibt, welche ihre zentralen Lehren und Praktiken in Frage stellen.
Neben diese allgemeine Klarstellung muss ich der Fairness halber freilich auch die Tatsache stellen, dass meine Arbeit mit Steiner mich beinahe mein tenure und somit meine akademsiche Laufbahn gekostet hätte. Es wurde mir nämlich in meiner "3-year review" nahegelegt, mich doch weniger mit der "zwar interessanten aber doch marginalen" Figur Steiners zu beschäftigen und mich auf mainstream Figuren der deutschen Literatur zu konzentrieren, um sicherzustellen, dass ich zum Zeitpunkt der "tenure review" auch genug Publikationen vorweisen kann. Diese Empfehlung habe ich insofern ignoriert, dass ich zwar auf der einen Seite die erforderliche Anzahl von Artikeln zu literarischen Themen produziert und veröffentlicht habe, gleichzeitig aber weiterhin an der SKA arbeitete. Als dann im 6. Jahr meine "tenure review" kam, war dieses von einigen mir übel gesinnten Kollegen als Insubordination dargestellte Verhalten ein großer Stein des Anstoßes für das Beurteilungskommitee. Obwohl die mittlerweile erfolgte Publikation des ersten Bandes und die lebhafte und überwiegend positive Resonanz darauf meiner Beharrlichkeit faktisch Recht gegeben hatten, wurde von meinen internen Gegnern dieses Verhalten als Zeichen einer auch sonst sich zeigenden Sturheit und Unbelehrbarkeit interpretiert. Ein zweiter Hauptpunkt der Kritik war meine Unterrichtstätigkeit, die von manchen Kollegen aufgrund meines Beharrens auf einer freilassenden und auf die Eigenverantwortung der Studenten bauenden Methodik als problematisch und "nicht kompatibel mit dem System höherer Erziehung in den USA" dargestellt wurde. [...]
Man möge diese Schilderung nicht falsch verstehen. Es war nicht die Kirche oder das Mormonentum, welche mich zu Fall bringen wollte, sondern Neid, Misgunst, Furcht, persönliche Kabalen und Unverständnis auf seinen einiger weniger Kollegen - und die finden sich an der BYU meiner Erfahrung nach nicht mehr und auch nicht weniger als an anderen Universitäten oder sonstwo in der Welt.
Ich wünschte aber manchmal, diejenigen Schwachköpfe, welche so phantasiereich über die "Motive der Mormonen" schwadronieren, aufgrund derer mir die Kirche angeblich den "Auftrag zur akademischen Diskreditierung der Anthroposophie" gegeben haben sollen, würden diese wirklichen Zusammenhänge kennen. Vielleicht mag dieser Hintergrund auch die Art meiner Reaktion diesen Dummschwätzern gegenüber etwas besser erklären.


An anderer Stelle ergänzt er:

8. November 2014 17:10 [o]
[...] wenn ich nach den Konkreta des Lebens unter den Bedingungen Mormonismus gefragt werde, reagiere ich meist etwas defensiv, zum einen, um meine lieben Mormonenfreunde gegen Pauschalurteile und Bigotterie zu verteidigen, aber auch um zu unterstreichen, dass ich meine Individualität und meine Freiheit nicht an der Garderobe abgegeben habe, als ich in diese Welt eintauchte.
Daneben steht natürlich das andere, dass für viele, wie mir scheint die allermeisten, die in dieser Welt aufwachsen und leben, dieser Freiheitsentzug tatsächlich besteht. D.h., eigentlich kann von "Entzug" gar nicht geredet werden, denn man kann einem ja nur entziehen, was er mal hatte. Was ich hingegen erlebe ist, dass in dieser Welt Freiheit und wirkliche Individualität in der Regel gar nicht ausgebildet werden, nicht mal die Idee davon oder die Sehnsucht danach, weil das Heil in jeder Hinsicht im Kollektiv gesucht wird. Ganz buchstäblich: Familie und Kirche sind die Vehikel, durch die allein der Einzelne Zugang zur "Welt" (dem sozialen Verbund) wie zum "Himmel" erlangt.
Ein Beispiel, welches das illustriert: es gibt in der mormonischen Kultur gewissermaßen keine Pubertät. Die starke Betonung der Familienharmonie sowie der Glaube, Famlie sei die von Gott verordnete und einzige Lebensform, die zur Erlösung führt, haben zur Folge, dass Jugendliche diese Phase des Aufruhrs, der Rebellion gegen das Bestehende nie durchmachen. In der Familie herrscht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Und das setzt sich dann in das Verhältnis gegenüber der Kirche fort. Wenn dann die innere Spannung zwischen dem, was sein sollte und dem was ist, doch mal zu groß wird, kommt der völlige Bruch: der Austritt aus der Kirche, der denn meist auch der Bruch mit Freunden und Familie ist. Aber auch der führt dann oft nicht zur Freiheit, denn jetzt wird die Opposition, das Ex- oder Antimormonentum so bestimmend für die eigene Identität, wie es früher die Mitgliedschaft war. [...]
Ich will hier keine Soziopathologie des Mormonismus schreiben, sondern nur klarmachen: ich verstehe natürlich die Vorbehalte, welche Aussenstehende gegenüber dieser Welt haben. [...]
Das eine jedoch wünsche ich mir, und ich glaube, es ist nicht zu viel verlang: dass man den Wert meiner Arbeit doch aus dieser selbst heraus beurteilen möge, und nicht nach dem Millieu, in dem der Verfasser nun einmal zu leben hat.


Mit Blick auf Archiati und auf die Ex-Mormonen schrieb er schon früher an anderer Stelle:

28. Oktober 2014 14:02 [o]
[...] Die größten Kritiker der Elche waren eben früher selber welche. Die Ironie ist hier nur, dass ich mit Religion als solcher so gar nichts am Hut habe.


Kurz darauf heißt es in Bezug auf Religion, Dogmatismus und Sektierertum:

28. Oktober 2014 08:20 [o]
[...] Man könnte vielleicht sogar sagen, der Mormonismus zeigt uns, wie die Anthroposophie vielleicht in 100 jahren einmal aussehen wird, wenn bestimmte bestehenden Tendenzen, die in der Anthroposophie vor allem eine neue Offenbarungsreligion sehen, sich innerhalb dieser Bewegung durchsetzen werden. (Nur um das klarzustellen: mir graut vor dieser möglichen Zukunft.)
Ich habe ja schon gesagt, dass ich persönlich mit Religion als Ausdruck meiner persönlichen Spiritualität nicht viel anfangen kann. Für mich ist das Religiöse heute nur noch in seiner künstlerischen und denkerischen Durchdringung authentisch. Ich würde aber auch sagen dass, wenn man denn das religiöse Modell als solches weiterhin für berechtigt anerkennt, die Mormonen in vieler Hinsicht ein Vorbild sind, wie man konsequent religiös ist und seinen Glauben wirklich konsequent lebt - und nicht der heute so verbreiteten wischi-waschi Religiösität nachgeht, die eine Mischung aus rein formeller konfessioneller Zugehörigkeit, kultureller Weihnachtsbaum-Sentimentalität und individueller Selbstverwirklichung ist. [...]
ich würdemir wünschen, dass die Leute mehr Fichte und Schelling lesen würden, statt Garments zu tragen und in den Tempel oder ins Goetheanum zu pilgern. Aber für die Mysterien des reinen Gedankens sind eben noch wenige empfänglich, darum wird wohl schon ein Sinn dahinterstecken, dass es solche äußerlichen Tempel noch gibt.

Zum Sektierertum der Anthroposophen

Dieser letzte Satz von den „Mysterien des reinen Gedankens“ ist das Stichwort, das Clements Interesse an Rudolf Steiner erklärt – und zugleich seine Abwehr jeglichen Sektierertums, als das er die ihm entgegenschlagende Polemik mit Recht erleben muss. Bevor ich daher auf Clements eigene Gedanken zu Rudolf Steiner eingehe, soll hier zunächst einiges über seine Auseinandersetzung mit den „Anthroposophen“ folgen.

Ende Oktober begann Clements Auftritt bei den „Egoisten“, d.h. auf Eggerts Blog. Michael Eggert hatte darüber berichtet, dass Clement die Zusendung des „Mitteilungsblattes“ der „Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie“ (das 2011 gewissermaßen die Nachfolge des bisherigen „Mitteilungsblattes“ der Anthroposophischen Gesellschaft angetreten hatte) verweigert worden war, und die entsprechende Korrespondenz veröffentlicht. Im Verlauf der Blog-Kommentare ergänzte Clement den Fortgang dieser Korrespondenz. Darin schreibt er an die beiden Herausgeber:

31. Oktober 2014 22:06 [o]
[...] Dass ich in der Anthroposophie etwas Berechtigtes sehe und im Interesse Rudolf Steiners in der Welt wirke, sollte ja wie gesagt aus meiner Arbeit deutlich hervorgehen; aber wenn es denn in diesem Wortlaut so gesagt werden muss, damit ich das Blatt beziehen kann, so sei es hiermit ausgesprochen.


Und weiter:

31. Oktober 2014 22:30 [o]
[...] Ich hätte ja nichts dagegen, wenn Sie mir das Blatt aus dem Grund nicht zukommen lassen wollen, weil Sie mich für einen Gegner der Anthroposophie halten. [...] In einem Wort: mir geht es in der gegenwärtigen Angelegenheit, wie auch in meiner Arbeit an der SKA, vor allem um Offenheit, Aufrichtigkeit und Transparenz im Umgang mit der Anthroposophie.


Und auf die Bemerkung eines anderen Bloggers, der diese ganzen Vorgänge kaum fassen kann:

31. Oktober 2014 23:01 [o]
Es ist eben der 31. November: wo man hinsieht nur hohle und fremdbeleuchtete Kürbisköpfe, die einem Angst einjagen wollen. HAPPY HALLOWEEN !!!


Eine Woche später teilt Clement dann mit, dass er in den Verteiler aufgenommen worden ist... Kurz darauf schreibt er:

8. November 2014 00:35 [o]
[...] Es gibt einfach diese Tage, wo ich es über habe, als Blitzableiter für die unbewältigten Spannungen innerhalb der anthroposophischen Bewegung herhalten zu müssen. An solchen Tagen wünschte ich, ich wäre etwas weiser und hätte mich nie öffentlich zur SKA-Hysterie geäußert.


Als eine Bloggerin Archiati gegen Clements Katholizismus-Vorwurf verteidigt und zitiert, dass Archiati selbst schrieb, dass „in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft sich im Kern das katholische Phänomen wiederholt hat“, erwidert Clement

28. Oktober 2014 17:25 [o]
Bravo! Diese Darstellungen Archiatis kann ich nur unterschreiben; würde aber hinzufügen: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? [...]“ (Lk 6,41-42)
Archiati ist, in meinen Augen, um keinen Deut weniger ein Steiner-Gläubiger als die von ihm an den Pranger gestellten. Im Gegenteil, ich habe im Vorstand in Dornach fast nur Leute getroffen, die deutlich offener und selbstkritischer waren als Archiati. (Gern würde ich hier mitteilen, was Bodo von Platos Meinung zur SKA und zu ihren anthroposophischen Verleumdern ist).
Wie bereits gesagt: die öffentlichen Ankläger der Orthodoxie sind meiner Ansicht nach meistens selbst die unverbesserlichsten Orthodoxen, nur wissen sie es nicht weil sie (mit Steiners "Philosophie der Freiheit" im Gepäck) sich einbilden, SIE seien die freien Geister, die Steiner da beschreibt - obwohl sie im vermeintlichen Gegner letztlich nur ihre eigene ihnen unbewusste Geistessignatur, (von der sie glauben, sie hätten sie überwunden, die aber, nur mit einer neuen Maske, lustig weiterwirkt) reflexartig bekämpfen. Der Kern und die innere Tragik aller Glaubenskämpfe - dem natürlich auch ich selbst verfalle, indem ich hier gegen Archiati wettere. Deshalb solls mal genug sein.


Wenig später ergänzt er:

28. Oktober 2014 19:43 [o]
[...] Wobei es schon ein Unterschied ist, ob man den Kampf mit dem Balken im eigenen Auge in einer Diskussion im Internet austrägt, oder ob man daraus ein Buch macht, in dem man sich öffentlich zur Richter über den Bruder mit dem Splitter im Auge einsetzt und dessen Reputation, professionelle Eignung und moralische Integrität in Frage stellt.


Archiati hatte sich mit seinem Büchlein zum Richter über Clement gemacht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass sich auch Zander mit mehr als 2000 Seiten und dann noch einmal mit einer populär geschriebenen Biografie im Steiner-Jubliäumsjahr 2011 im bekannten Piper-Verlag zum Richter über Rudolf Steiners Ruf und moralische Integrität gemacht hatte...

Am 4. November veröffentlichte Clement dann auf dem Blog seinen Aufsatz „Der Balken im eigenen Auge. Steinergläubigkeit vs. Vertrauen in anthroposophische Texte“ [o]. Darin schreibt er:

Wogegen ich mich wende ist die Tatsache, dass meine Arbeit mit der SKA vielfach von Anthroposophen in Frage gestellt wird, die sich aufgrund ihrer anthroposophischen Ausrichtung für kritische freie Denker halten (immerhin hat Steiner eine "Philosophie der Freiheit" geschrieben), in Wirklichkeit aber Steiner und der Anthroposophie eben nicht so frei gegenüberstehen, wie sie meinen - und wie es der Freiheitsphilosophie Steiners oder auch nur den allgemeinen Anforderungen an ein kritisches Denken gemäß wäre. Diese lautstarken Gegner der SKA (wie gesagt, ich rede jetzt nicht von berechtigter und sachgemäßer Kritik, die dem kritischen Denker immer willkommen ist, selbst wenn sie das Ego schmerzt) diese Gegner ziehen aus der Tatsache, dass sie ohne große Verständnisprobleme einen populärwissenschaftlichen Schmöcker wie die "Philosophie der Freiheit" lesen können den Schluss, sie stünden dadurch selbst auf der philosophischen Höhe des Verfassers, ja über der Philosophie selbst und könnten jetzt über alles und jeden im Bereich des philosophischen Denkens urteilen. Und von dieser vermeintlichen "Höhe", die aber in Wirklichkeit nur die Maske intellektueller Flachheit und tiefer Verunsicherung über die geahnte aber nicht eingestandene Unwissenheit und Steinerabhängigkeit bei ihnen selbst ist, urteilen Sie auch über die SKA. Nicht etwa über dieses oder jenes Argument, über diese oder jene Einzeldeutung: Nein, so tief lassen sie sich nicht herab vom Olymp ihrer durch die Fähigkeit des Steinerzitierens erlangten Superiorität. Sie urteilen über die prinzipielle Idee einer kritischen Edition, eines kritischen Herangehens an Steiner, darüber, was die Philosophie, die Wissenschaft, die Philologie vermag und nicht vermag.
Dagegen wende ich mich. Ich will keinem seine Steinergläubigkeit nehmen, wie ich auch keinem seinen Osho, seinen Joseph Smith oder seinen Ron Hubbart nehmen will; aber ich verwehre mich dagegen, wenn Steinergläubige ihre geistige Abhängigkeit und Unselbständigkeit als Superiorität verkaufen wollen und von dieser eingebildeten Höhe aus diejenigen anbellen und vor dem anthroposophischen Publikum verleumden, die wirklich einmal versuchen, sich Steiner gegenüber so zu stellen, wie es eines freien Geistes würdig und angemessen ist.
Und auch unabhängig von der SKA, einfach im Sinne der Selbsterkenntnis, täte es vielen Anthroposophen sicher gut, sich einmal diese Frage zu stellen: inwiefern sie Steiner wirklich so gegenüberstehen, wie es vom anthroposophischen Menschenbild her angemessen wäre, oder inwiefern sie Steinergläubige sind. Wie viele sehen hier nur den Splitter im Auge des Nichtanthroposophen, des Akademikers oder des Wissenschaftlers, ohne den Balken im eigenen Auge auch nur zu bemerken?
Der Balken im eigenen Auge, 4.11.2014. [o]

Zum Verhältnis von Clement und Zander

Bevor wir zu Clements eigenen Gedanken kommen, soll hier doch noch ein Exkurs über das Verhältnis zwischen Clement und Zander folgen. Bereits in meiner Darstellung von Clements Vorwort und auch im Vorangegangenen ist deutlich geworden, dass man hier von größten Unterschieden sprechen muss.

Aber auch Clement selbst hat sich dazu in einem eigenen Aufsatz geäußert, den er bereits zwei Tage zuvor, am 2. November auf dem „Egoisten“-Blog veröffentlicht: „Helmut Zander und Christian Clement - zwei Blickwinkel auf die Anthroposophie. Darin schreibt er [o]:

Zunächst einmal: Sowohl Zander und auch ich gehen an die Anthroposophie natürlich von unserem persönlichen biographischen Standpunkt aus heran, er von seinem Hintergrund als Theologe und Religionswissenschaftler, ich von meiner geistigen Heimat in der Philosophie, der Kunst und in der Mystik. Dadurch unterscheiden wir uns.
Aber wir sind uns einig darin, dass wir beide jeweils eine wissenschaftliche Methode benutzen. (Obwohl ich eigentlich nicht so gern von „Wissenschaft“ rede, sondern von meiner Arbeit lieber als von einer „kritischen“ reden würde, im Gegensatz zu einer „unkritischen“. Der Diskurs um die Wissenschaftlichkeit oder Nicht-Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bzw. des Umgangs mit dieser finde ich eher unfruchtbar weil anachronistisch. Aber das nur am Rande.) Also, beide bedienen wir uns einer wissenschaftlichen und kritischen Methode, die zum einen eine Beschränkung und eine Maske ist, die wir uns aufsetzen müssen, um im allgemeinen akademischen Diskurs mitsprechen zu können und ernstgenommen zu werden, zugleich aber auch ein wertvolles Instrument, um uns zu disziplinieren, um das Persönlich-Biographische im Hintergrund zu halten, welches zwar als Triebkraft und Motor unseres Interesses immer da ist, aber in der wissenschaftlich-kritischen Arbeit in den Hintergrund tritt, um möglichst die Sache selbst, den Untersuchungsgegenstand, und nicht unser persönliches Verhältnis dazu im Mittelpunkt stehen zu lassen.
Helmut Zander und Christian Clement - zwei Blickwinkel auf die Anthroposophie, 2.11.2014. [o]


Ein großer blinder Fleck liegt also bei Clement in Bezug auf den Unterschied zwischen ihm und Zander. Mehr oder weniger blind ist (oder macht sich) Clement dafür, wie sehr der von ihm ausdrücklich erwähnte biografische Standpunkt hier wirklich durchschlägt. Zander kann sich eben nicht davon befreien, dass er zugleich auch katholischer Theologe ist. Seine Triebkraft ist eben unerkannt eine ganz andere, seitdem sein Urteil über Steiner feststand, und er kann sich absolut nicht disziplinieren, um das Persönlich-Biografische im Hintergrund zu halten. Es schlägt voll durch, und die akademisierte Sprache ist sogar noch ein Hilfsmittel, um die negativen Urteile mit großer Autorität und scheinbarer Legitimität in die Welt zu setzen. Das ist keine Wissenschaft, das ist Unwissenschaftlichkeit und Unwahrhaftigkeit im Kleide der akademischen Wissenschaft.

Und diesen Unterschied empfinden zu können – den Unterschied zwischen Wahrheitsliebe und reinem, unbefangenem Denken und Untersuchen auf der einen Seite und tief belasteten Urteilen und Blickverengungen auf der anderen Seite – damit würde Anthroposophie wirklich beginnen. Wenn Clement zugestehen könnte, dass Zander längst den Schritt von der Wissenschaftlichkeit zur Unwissenschaftlichkeit gemacht hat, dann wäre er dem Wesen der Anthroposophie wieder einen Schritt näher gekommen.

Dass er stattdessen aber den Diskurs um die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie „anachronistisch“ findet, zeigt, dass er die entscheidende Frage, nämlich die der Geistes-Wissenschaft, absolut nicht zu erfassen oder auch nur genauer zu betrachten willens ist.

Er verteidigt Zander dann weiter und gibt gleichzeitig eine Ursache an, warum er zu weniger negativen Urteilen kommt:

Das haben wir also gemeinsam. Allerdings ist Wissenschaft nicht gleich Wissenschaft, und die jeweiligen kritisch-methodischen Zugänge bei Zander und mir sind nun wieder verschieden. Er arbeitet mehr historisch und quellenkritisch, d. h. er schaut vor allem auf Dokumente und das materielle Umfeld, in denen diese entstanden sind: die sozialen Verhältnisse und Strukturen der Zeit, der Gesellschaften, in denen Steiner arbeitete, etc. Ich hingegen arbeite eher philosophisch-geistesgeschichtlich, d. h. mir geht es weniger um Quellen und historische Hintergründe, sondern ich betrachte mehr die Vorstellungen und Ideen Steiners als solche, wie sie sich zu einander und zu ihren ideengeschichtlichen Vorfahren und Nachkommen verhalten.
Da diese Ansätze zwar beide kritisch, als solche aber grundverschieden sind, erschaffen sie sich auch je einen ganz anderen Gegenstand, gemäß ihrer inneren Logik, ihrer Methoden und ihrer Ziele. Daher ist die Anthroposophie, die Zander bearbeitet, eine ganz andere als die, die in meinen Texten erscheint. Er betrachtet gewissermaßen mehr ihren Leib, ich mehr ihre Seele, wenn dieses grobe Bild erlaubt ist. [...]
Zu vielen kritischen oder negativen Urteilen über Steiner muss Zander einfach kommen, nicht aufgrund seiner persönlichen Ansichten oder eines Übelwollens, sondern aufgrund der Prämissen, von denen er ausgeht, und der Methoden, mit der er arbeitet. Als quellenbasierter Historiker muss er hinter viele Ansprüche bei Steiner und hinter viele idealisierte und ungesicherte Vorstellungen über Steiner ein Fragezeichen setzen und stößt damit bei vielen Anthroposophen, für die Steiner oft eine Art Übermensch oder Prophet ist, natürlich auf harsche Kritik. Ich habe den Luxus, diese Aspekte  ganz neutral angehen oder sogar ignorieren zu können, weil bei mir die Ideen als solche und ihre ideellen Quellen im Zentrum stehen, und nicht die materiellen Quellen und auch nicht die sozio-politischen Realitäten, in denen diese entstanden sind. Steiners materielle Situation, die Machtkämpfe innerhalb der verschiedenen Gesellschaften usw., mögliche materielle Quellen für seine Ideen: also alles das, wo nicht nur Ideen im Mittelpunkt stehen, sondern der mit Fehlern und Schwächen behaftete Mensch Rudolf Steiner ins Bild kommt, bleibt bei mir weitgehend aussen vor. Ich nenne materielle Quellen nur dann, wenn sie eindeutig belegbar sind. So ist es ganz natürlich, dass Rudolf Steiner in meiner Darstellung viel unbeschadeter und mit dem anthroposophischen Ideal übereinstimmender davon kommt, weil ich mich vor allem auf die Gedanken konzentriere und den Denker und den Morast, durch den sich dieser als physischer Mensch durchkämpfen muss, aussen vor lasse.
Helmut Zander und Christian Clement - zwei Blickwinkel auf die Anthroposophie, 2.11.2014. [o]


Das ist also der gemeinsame Ausgangspunkt: Auch Zander ist ein Wissenschaftler, auch er muss hinter vieles angeblich berechtigte „Fragezeichen“ setzen und selbstverständlich war auch Steiner „nur ein Mensch“. Das sind eben andererseits die Dogmen der heutigen Wissenschaft. Seltsam ist nur, dass Clement Zander in vielerlei Hinsicht widerlegen muss. Was aber ist ein Wissenschaftler, dessen Resultate gar nicht stimmen, sondern sich vor allem als eigene Deutungen erweisen – und was ist eine Wissenschaft wert, in der sich die negative Deutung wie ein roter Faden durch das ganze Werk zieht?

Doch erst im Nachklang, nach der grundsätzlichen Verteidigung Zanders als „Wissenschaftler“, räumt Clement ein:

Dazu muss ich natürlich auch sagen, dass an vielen Stellen Zanders Darstellung in der Tat sehr problematisch ist, nämlich da, wo er tatsächlich die Grenzen der eigenen Methode überschreitet und statt über Fakten zu berichten anfängt zu spekulieren oder zu fabulieren oder zu polemisieren. Oder da, wo seine Fakten eben nicht stimmen. Oder da, wo er ganz offensichtliche Quellen Steiners einfach nicht kennt und daher über mögliche Einflusse spekulieren muss. Solche Stellen gibt es viele bei Zander. Und verständlicherweise, denn das von ihm übernommene Pensum ist enorm und konnte von einer einzelnen Person einfach nicht adäquat bewältigt werden. Wer viel arbeitet, und dazu noch allein, der macht auch viele Fehler. - Aber all dies kann, und da ist wieder eine Gemeinsamkeit, auch von meiner Arbeit mit der SKA gesagt werden.
Helmut Zander und Christian Clement - zwei Blickwinkel auf die Anthroposophie, 2.11.2014. [o]


Immerhin ist es erstaunlich, dass Clement dann doch eine ganze Menge aufzählen muss – eine Menge, die wirklich auch aus dieser Sicht schon zu grundsätzlichen Zweifeln führen sollte. Stattdessen folgt bei Clement die „Entschuldigung durch Überlastung“. Man denke hier an Steiners immer neu wiederholte Äußerung, dass Wahrhaftigkeit und auch Verantwortung gegenüber der Wahrheit heute viel mehr bedeuten muss, als im Bedarfsfall zu sagen: „Da habe ich mich eben geirrt“. Diese Nachlässigkeit und Jovialität gegenüber der Wahrheit ist es gerade, die einen das Wesen der Anthroposophie nicht erkennen lassen kann, denn mit dem Wahrheitsernst hat sie zutiefst zu tun!

Wenn einem „Wissenschaftler“, der noch dazu durch seine ganze Biografie zutiefst voreingenommen an eine Frage herangeht (aber selbst wenn nicht), so viele Fehler „passieren“, dann muss man einfach sagen: Diese Arbeit solltest du nicht tun! Doch Clement schreibt stattdessen:

Aber: viele der Fragezeichen, die Zander setzt, stehen zurecht da. Und viele der unbequemen Fragen werden zurecht gestellt. Und viele seiner kritischen Fragen und viele der von ihm zusammengebrachten Fakten werden die Anthroposophieforschung und damit auch die Anthroposophie wahrscheinlich weiter bringen, als all das unkritische Nachbeten und Wiederkäuen und Idealisieren, welches einen großen Teil der binnenanthroposophischen Literatur zu Steiner ausmacht. In einem Wort: wem Anthroposophie am Herzen liegt, der sollte Zander in vieler Hinsicht dankbar sein für das, was er objektiv angestoßen hat. Und ihn korrigieren, wo er sachlich daneben liegt. Und Spekulationen über seine persönlichen Motive als völlig irrelevant beiseite lassen.
Helmut Zander und Christian Clement - zwei Blickwinkel auf die Anthroposophie
, 2.11.2014. [o]


Zu diesem Absatz wäre viel zu sagen. Zuletzt immunisiert Clement Zander als Wissenschaftler, denn er sagt, die persönlichen Motive bzw. Spekulationen darüber seien irrelevant. Entweder will er damit sagen, es sei irrelevant, wenn Zander solche Motive habe – oder er habe solche gar nicht. Als Wissenschaftler kann er nur letzteres meinen, denn Wissenschaft mit persönlichen Motiven außerhalb reinen Interesses droht unmittelbar, sich selbst aufzuheben.

Wenn Zander persönliche Motive hat, und dazu brauchen diese nicht einmal bewusst zu sein, liegt der allerstärkste Grund vor, diese in den Blick zu nehmen. Und wenn sich durch alles, was er schreibt, die Vermutung hindurchzieht, dass er nicht frei von solchen Motiven ist, sind selbst „Spekulationen“ darüber durchaus nicht irrelevant – denn Spekulation ist letztlich alles, was noch nicht sichere Erkenntnis ist. Oder sollte der Wissenschaftler Clement dies vergessen haben?

Eine weitere wichtige Aussage ist, dass ein Fortschritt der „Anthroposophieforschung“ auch die „Anthroposophie“ weiterbringen werde. Hier stellt sich die Frage: Was versteht Clement unter „Anthroposophie“? Dies ist dann der Übergang zu unserer im nächsten Abschnitt behandelten eigentlichen Frage.

In einem Beitrag vom 15.11.2014 „Muss man zum Verständnis eines Textes die Motivation des Autors kennen?“ setzt Clement sich mit den wiederholten Fragen auseinander, warum er als Professor an einer mormonischen Universität die SKA herausgebe. Darin schreibt er [o]:

Die Ansicht, dass sich „hinter“ dem Text etwas im Text selbst nicht Manifestes verbirgt, dessen Kenntnis - vergleichbar einer platonischen „Idee“ - erst den Schlüssel zur wahren Bedeutung des Textes liefert, ist ein Überrest eines metaphysischen Dualismus, der sich in den modernen Natur- und Geisteswissenschaften längst überlebt hat [...].
[...] wenn ein Autor nicht mehr lebt und man ihn nach seinen Motiven nicht mehr befragen kann, dann fehlt die empirische Basis und alles Reden über mögliche Motive kann nur reine Spekulation sein.
Aber selbst wenn der Autor noch lebt und man diesen befragen kann, oder wenn er Zeugnisse über seine Motivation hinterlassen hat, wird sich niemals mit Sicherheit sagen lassen, ob der Autor uns seine wirklichen Motive gibt (vielleicht hatte er Gründe, seine Leser zu täuschen), oder ob er sich, auch wenn er völlig ehrlich mit sich und seinen Lesern zu sein versucht, über seine eigenen Motive wirklich im Klaren ist. Wir wissen heute nur zu gut, in welchem Maße uns die wahren Motive unseres Handelns oft verborgen sind, weil sie im Unterbewussten spielen und sich hinter allerlei Masken verbergen.
[...] Nachdem der Text geschrieben ist, steht er allein da, getrennt von seinem Verfasser, und muss in seiner Eigenheit verstanden werden, wie ein Mensch in seiner Eigenheit verstanden muss, unabhängig davon, was seine Eltern für Motive hatten, als sie ihn in die Welt setzten, als sie ihn erzogen. Denn wer kann sagen, ob der Text auch wirklich die Motivation des Autors in die Tat umsetzt? Ein Autor mag dies oder jenes mit seinem Text bezwecken wollen; aber Texte haben ihr eigenes Leben und eine Wirkung, die beide ausserhalb der Kontrolle des Autors liegen. [...]
Viele weitere Gründe ließen sich aufführen, warum sowohl die Suche nach den Motiven eines Autors als auch die Deutung eines Textes im Lichte dieser vermeintlichen Motive zu nichts führen kann als zu Spekulationen und Hypothesen, welche dann zwar viel über den Spekulierenden, aber nichts über den Text selbst offenbaren.
Dass nichtsdestoweniger der Hang zu Spekulationen und Hypothesen darüber, was sich "hinter" dem Text verbergen mag, weiterhin so verbreitet ist, kann man vielleicht verstehen als ein hartnäckiges Überbleibsel jenes alten naiv-metaphysischen Denkens, das sich mit der gegebenen Wirklichkeit nicht zufrieden gibt, dem die unmittelbar gegebene Wirklichkeit als solche durch die eigene Denktätigkeit nicht verständlich wird und das daher nach einem „Jenseits“ und „Hinter“ der wahrnehmbaren Wirklichkeit sucht.
Muss man zum Verständnis eines Textes die Motivation des Autors kennen?, 15.11.2014. [o]


Es ist interessant, dass sich diese Ausführungen unmittelbar auch auf Zander und dessen subjektive, ja gewaltsame Deutungen Steiners beziehen lassen. Vielleicht sind auch Zander seine eigenen Motive verborgen. Man müsste sich über seine Motive keine Gedanken machen, wenn er seinerseits nicht fortwährend Steiner Motive zu unterstellen versuchte – etwa Machtmotive, wobei er zum Beispiel angeblich nur in einer „innertheosophischen Auseinandersetzung“ zur Entwicklung seiner Christologie gekommen sein soll. Mit Clement muss man auch hier sagen: Dergleichen Die Suche nach oder Unterstellung von niederen Motiven ist nichts als Spekulation, die zwar viel über Zander, aber nichts über Steiners Ausführungen offenbart. All dies hat nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern ist ein hartnäckiges Überbleibsel jenes alten naiv-metaphysischen Denkens, das sich mit der gegebenen Wirklichkeit nicht zufrieden gibt und dem diese sich durch die eigene Denktätigkeit nicht erschließt.

Aufschlussreich gegenüber Clements letztlicher kollegial-wissenschaftlicher Wertschätzung Zanders ist, dass umgekehrt Clement in den Augen Zanders schon in seinem Vorwort zur SKA 5 zu anthroposophie-lastig war! Indem also Clement (nach seinem eigenen Anspruch bzw. seiner eigenen Deutung) versucht, Steiner „von innen“ zu verstehen, wirft Zander ihm bereits eine „Binnensicht“ vor – und dehnt seine Seitenhiebe gleich noch auf den Verlag aus:

Der Herausgeber folgt nicht nur Steiners autobiografischer Leseanweisung, wonach die Theosophie eine bloss „gewisse äusserliche Verbindung“ in seinem Leben gewesen sei, sondern auch Steinerschen Denkformen, die sich in typisch anthroposophischen Begriffen niederschlagen: etwa wenn er Steiners Texte mit Konzepten von „Mysterienweisheit“ und „Erkenntniserlebnissen“ deutet oder von der „bewusstseinsevolutiven Urgestalt“ oder vom „sich darlebenden Wesenhaften“ spricht. Natürlich ist es legitim, Steiner auch mit anthroposophischen Konzepten zu deuten – aber würde eine Aussenperspektive nicht doch helfen, Steiner besser in seinen geistesgeschichtlichen Kontexten zu begreifen? Dass Frommann-Holzboog die Plattform für eine sichtlich anthroposophisch eingefärbte Deutung der präsentierten Schriften bereitstellt, zeugt jedenfalls von beträchtlicher verlegerischer Liberalität.
Auftakt einer kritischen Rudolf-Steiner-Ausgabe, NZZ, 26.11.2013 [o]

Mit anderen Worten: Selbst die Gedanken will Zander Steiner noch nehmen. Was bleibt dann eigentlich noch übrig?

Was versteht Clement von Rudolf Steiner?

Doch nun zurück zu Christian Clement. Die vorhergehenden Ausführungen haben bereits sehr deutlich werden lassen, dass Clements Augenmerk sich auf den frühen Steiner richtet, dass er von dessen philosophischer Phase, in der sich für ihn „die Mysterien des reinen Gedankens“ zeigen, aufrichtig fasziniert ist.

Der spätere Steiner steht ihm allein schon dadurch fern, weil sich an die ganze spätere Anthroposophie sozusagen unauflöslich der Offenbarungsglaube der Steiner-Anhänger geknüpft hat und diese im Grunde nur das Sektierertum fördere und das Selbst-Denken verhindere. Allein diese Gründe genügen bereits, dass Clement dem, was Rudolf Steiner später die „Geistesforschung“ nennt, eigentlich nichts abgewinnen kann – zumal er, wie wir gesehen haben, diese Offenbarungen nicht unterscheidet von denen eines Smith („Das Priestertum wurde zuerst Adam gegeben; er erlangte die Erste Präsidentschaft und hatte deren Schlüssel von Generation zu Generation inne.“ usw.).

Diese Tatsache kann man nüchtern feststellen und einfach festhalten, dass Clement der Zugang zu dem Unterschied zwischen Offenbarungen, wie sie auch ein Smith hatte und dann in die Welt setzte, und Geistesforschung absolut verschlossen ist. Er selbst bestätigt das, indem er die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie „anachronistisch“ findet.

Nun genügt es allerdings nicht, darauf hinzuweisen, dass Rudolf Steiner aber „nun einmal“ ein Geistesforscher war und Smith und andere eben nicht, sondern es käme darauf an, den Unterschied und damit das Wesen der Geistesforschung aufzuzeigen, damit man selbst nicht ebenso als Offenbarungsgläubiger dasteht und der Unterschied für Andere nachvollziehbar wird.

Ein Ansatzpunkt ist die innere Entwicklung höherer Seelenkräfte, die Steiner voraussetzte und deren Wege er immer wieder beschrieb. Clement schreibt selbst darüber und deutet im Vorwort zur SKA 7 sogar an, dass hier die Anthroposophie durch ihren Einbezug des Geistigen der etablierten Psychotherapie sogar deutlich überlegen sein könnte. Doch bleibt dies eben doch noch allgemein, und sowohl der frühere als auch der spätere Steiner sprachen vom Geist.

Wenn man aber den späteren Steiner nur durch die Brille des früheren betrachtet und nicht erkennt, wie der spätere über den früheren hinausgeht, sondern im Grunde im späteren Steiner eher einen Rückschritt zu sehen vermeint, dann bleibt einem die Anthroposophie doch noch immer verschlossen – genauso, nur in anderer Weise, übrigens wie denen, die den späteren Steiner nur staunend anhören und alle Offenbarungen bloß gläubig hinnehmen. Clement unterscheidet sich von letzteren dadurch, dass er dies nicht tut, jedoch nicht darin, dass er Rudolf Steiner nicht bis zur wirklichen Anthroposophie hin versteht. Den Steiner-Gläubigen fehlt der frühe Steiner, Clement und anderen, die ähnlich denken, fehlt der spätere Steiner...

Bereits der frühe Steiner offenbart doch das Entwicklungsgeheimnis. Sind es nicht gerade Menschen wie Clement und Zander, die sogar mit Recht darauf hinweisen, dass Steiner seine Anschauungen immer wieder revidiert, das heißt weiterentwickelt hat? Wie kommt Clement, der voller berechtigter Faszination auf diese ungeheure denkerische Energie schon des frühen Steiners blickt, dazu, diese Energie, diese Wandlungsfähigkeit und nicht nur Fähigkeit, sondern dieses fortwährend weitere innere Fortschreiten auf einmal bei dem späteren Steiner, ja, zu leugnen? Einfach zu behaupten: Das war nichts mehr. Das war nur noch ein Rückschritt. Oder bestenfalls: eine „Umstülpung“. Aber dann eigentlich auch nichts mehr, was einen Steiner dann noch von einem Smith unterscheidet. Eher muss man sagen: tief gesunken. Von einem Autor der „Philosophie der Freiheit“ zu einem Verkünder von Michaelkämpfen, Jesusknaben und anderen „hochkomplexen“ ... Vorstellungen.

Clement geht nicht so weit, diese Dinge in dieser Form auszusprechen. Doch nach allem, was bisher aus seinen schriftlichen Äußerungen hervorgeht, muss man sagen: Mit dem späteren Steiner kann er nichts anfangen. Er kann das Nicht-Verstehen aber auch nicht wirklich rein bestehen lassen, als wahrhaft offene Frage (dies wäre wiederum anthroposophisch: der spätere Steiner nicht als bloßer Offenbarungsquell, sondern als fortwährender Quell echter Erkenntnisgrenzen für das normale Bewusstsein!).

Und man muss doch sagen, dass ein Mensch innerlich ein Organ hat, mit dem er fein die Qualität von Offenbarungen und auch Erkenntnisgrenzen empfinden kann. Wenn der Autor der „Philosophie der Freiheit“ und eines immens moralischen Schulungsbuches wie „Wie erlangt man...“ später von einer Geistesforschung spricht und auch wenn man erlebt, wie er in all den Jahrzehnten immer wieder mit großem Ernst seine Worte wählt, wenn man sein ganzes Lebenswerk auf sich wirken lässt, so gibt dies innerlich doch ein völlig anderes Empfinden von der Qualität dessen, was da gesagt wird – als wenn der Verkünder einer neuen Religion eine Offenbarung niederschreibt, in der Adam der Schlüsselempfänger und der „Erste Präsident“ der hiermit neugegründeten Kirche wird? Man sollte sich einmal sehr, sehr tief darauf besinnen, was in einem selbst als Wahrheitsorgan lebt und dazu bestimmt ist, sich immer weiter zu entwickeln...!

Aber gehen wir nun zu dem über, was Clement von Steiner versteht. Es ist die radikale Selbstfindung des Geistes auf dem Weg, den der frühe Steiner beschreitet und der schon in den allerersten Werken sichtbar wird: In den Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, in „Eine Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ und in „Wahrheit und Wissenschaft“. Was Clement in den Mittelpunkt stellt, ist die „Selbsterkenntnis des Weltgrundes im Menschen“. Oder, wie er aus den „Grundlinien“ zitiert:

„Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem positiven Ergebnis, daß das Denken das Wesen der Welt ist und daß das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist“ (GA 2, 79).


Deutlich weist Clement auch im Weiteren darauf hin, dass dieses Individuelle durchaus nur das Mikrokosmische ist, dem etwas viel größeres Makrokosmisches gegenübersteht:

Die Neuauflage [von „Die Mystik...“] hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen „Geist in der Natur“ gebe, nur eben keinen „sinnenfälligen“, und dass die Rede vom Geist als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sich nur auf den individuellen menschlichen Geist beziehe, nicht aber auf das Geistige als solches (MA, 119). [LXII]


Und zuvor schon:

Der Kern und das Einzigartige des Christentums bestanden daher für Steiner nicht in dem, was der historische Jesus lehrte – diese Inhalte seien sämtlich auch in anderen Religionen zu finden –, sondern in dem, was der ‚kosmische Christus‘ tatsächlich tue bzw. zu tun sich bestrebe: nämlich in der Verwirklichung der mystischen Selbst-Erkenntnis im Menschen zu sich selbst zu kommen und somit ‚aufzuerstehen‘. [LV]


Zusammenfassend schreibt Clement:

Steiners Geist-Begriff hat somit eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ‚inkarniert‘ sich in Jesus, der Geist ‚manifestiert‘ sich in der Natur. Die steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. [LXIIIf]

Nun kann man dies zwar schreiben und es klingt auch schön und durchaus weitgehend, nur: Was ist damit genau gemeint? Das wäre doch die entscheidende Frage, bei diesem Punkt zu verweilen und zu verstehen, was hier geschehen ist? Tut Clement dies? Versteht er es? Verweilen tut er jedenfalls nicht...

Über das Hinweggehen über Steiners Lebenswerk ab 1907

Wenn Rudolf Steiner das Geistige in der Natur wirksam schaut, dann ist dieses Geistige in der Natur wirklich vorhanden. Das ist etwas völlig anderes als der naive Standpunkt, der die äußeren Dinge einfach so hinnimmt und sie als „Außenwelt“ erklärt (Naturwissenschaft, modernes Gegenstandsbewusstsein). Es ist auch etwas anderes als der immer noch naive Standpunkt, der sich in der Außenwelt einfach „Geist“ oder „Gott“ oder „Götter“ vorstellt (Mythos). Man darf nicht vergessen, dass Rudolf Steiner durch das Stadium einer radikalen Verneinung all dieser Hinausprojektionen hindurchgegangen ist! Indem er genau wusste, was das Innere tut – der im Inneren wirkende Geist –, hat er bereits in frühen Jahren alles verneint, was aus diesem Innen heraus scheinbar ins Außen verlegt und dort gedacht und vorgestellt wird, obwohl der Denker und Vorstellende doch immer der Mensch selbst ist.

Diese Naivität muss man bei Rudolf Steiner also bereits mit den Grundwerken als radikal überwunden anerkennen.

Diesen Erkenntnisschritt und diese intellektuelle Redlichkeit kann ich bei all jenen nicht erkennen, die aus ihrer eigenen (berechtigten) Ablehnung solcher naiven Projektionen heraus eine solche auch beim späteren Rudolf Steiner unterstellen. Und das sind all jene pseudo-fortschrittlichen „Anthroposophen“ und „Anthroposophie-Weiterentwickler“, die dann beim späten Rudolf Steiner von einem „Wesenszoo“ usw. sprechen – ich denke hier an Ansgar Martins, an die Info3-Riege mit den legendären Eintags-Philosophen Felix Hau und Christian Grauer, aber leider auch an Michael Eggert.

Diese alle nämlich sind es, die mit der „Philosophie der Freiheit“ unter dem Arm herumlaufen und den späteren Rudolf Steiner und den Großteil seiner Vorträge am liebsten im Mülleimer der Geschichte sähen, ohne sich mit vollem Wahrheits- und Erkenntnisernst zu fragen: Warum ist ein Denker, der innerhalb weniger Jahre so grandiose, geistig gewaltige Frühschriften geschaffen hat, dann zu einem Wirken gekommen, in dem er noch zwei volle Jahrzehnte lang, schließlich oft Tag für Tag Offenbarungen brachte, Erkenntnisse, Schilderungen, die von einer geistigen Welt sprachen, die über den Menschen hinausgeht? Erkenntnisse, die letztlich zur Begründung einer Pädagogik, einer Medizin, einer Landwirtschaft, einer Sozialwissenschaft usw. führten?

Kann es sein, dass die meisten Gegner und Ablehner dieser späteren Anthroposophie nicht einmal die Unterscheidung schon des frühen Steiners zwischen Mikro- und Makrokosmos ernst nehmen? Kann es sein, dass Rudolf Steiner mit dem „Gestandenhaben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster, ernstester Erkenntnisfeier“ einen Übergang durchschritten hat, von dem an die geistige Welt begann, wirklich mehr zu werden als etwas, das sie bis dahin gewesen war?

Kann es sein, dass Steiner von da an das Wirken des Christus-Wesens immer tiefer erkannte – nicht nur als makrokosmisches Gegenstück zu dem, was auch mikrokosmisch in jedem Menschen zum Leben kommen kann, nicht nur als eine Art „Prinzip“ oder „Bewusstsein“ oder was auch immer sogenannte moderne New-Age-Anthroposophen darunter verstehen wollen, sondern ein viel höheres Wesen – und dass dieses Wesen, das zugleich so innig mit dem Geheimnis des menschlichen Denkens verbunden ist, ihm auch die unendliche Wesenhaftigkeit der geistigen Welt überhaupt offenbart hat? Und dass dies kein Widerspruch ist zu einer immer weiter fortschreitenden, immer kräftiger werdenden Geistesforschung Rudolf Steiners selbst? Dass dies vielmehr ein immer tieferes Sich-Verbinden mit der Geist-Welt war, in deren Mittelpunkt jenes hohe Wesen steht, das Rudolf Steiner immer wieder als den Mittelpunkt der ganzen Erdenentwicklung bezeichnet hat?

Kann es sein, dass dieser Weg einer immer weitergehenden Geistesforschung Rudolf Steiner weit über Goethe, Fichte und Schelling hinausgeführt hat, die alle an großartigen Punkten standen, die auch Steiner innig mitgemacht hat, der aber weiterging – der weiterentwickelte, was bei diesen anderen großen Geistern nur blitzartige Erkenntnis war, Ausschnitt, Postulat, Ausblick, Ahnen und so weiter?

Clement versteht die Mystik, er hat Schelling studiert, er ist von den deutschen Idealisten fasziniert – und mit Recht. Aber was versteht er von Rudolf Steiner? Was verstehen wir von Rudolf Steiner? Und wo beginnt das Erkenntnisgespräch, das Steiner nicht immer wieder reduziert – auf den frühen Steiner, auf den wundersamen Offenbarer, auf den Guru, auf den „Menschen wie du und ich“? Wo beginnt man, sich über Steiner zu wundern und vor einem Rätsel zu stehen?

Das Vorbild all derer, die die sich entfaltende Anthroposophie Steiners ab 1907 nicht recht würdigen können, scheint Karl Ballmer (1891-1958) [o] zu sein.

Bei Ballmer, der 1928 „Das Ereignis Rudolf Steiner“ schrieb  (1995 wiederaufgelegt, Edition LGC), finden sich Sätze wie:

Rudolf Steiners an Fakten des Geistes und der Ich-Natur abstrahierter Begriff der Religion läßt Theologen- und Philosophenfragen, Dialektiker und Gottestöter endgültig unter sich. Er prägt den Begriff der „Götter-Religion“: Die Götter (das ist die „hierarchisch“ gegliederte Innenwelt – vom Naturforscher Außenwelt genannt – des offenbaren Ich-Menschen, der sich entschlossen hat, das zu sein, „wodurch“ die Welt ist) schaffen – als Noch-Nicht-Menschen – an der Hervorbringung des vollkommenen Menschen. [S. 164].


Und in dem 1999 erschienenen Sammelband „Umrisse einer Christologie der Geisteswissenschaft“ heißt es in einer Notiz vom 22.4.1953:

Die theologische Christologie hat es mit Gott und Mensch, die anthroposophische Christologie hat es einzig mit dem Menschen und seinem Werden zu tun. Der anthroposophisch verstandene Christus ist ein Teil des Menschen (Zykl. 10).
Mensch ist der anthroposophische Name für Welt. Von der Welt heißt es (Ph. d. F.) „Die Welt ist Gott“. [...]
Den Christus erkennen heißt: der Christus sein.


Zweifellos ist Ballmer ein zutiefst kraftvoller, bewundernswerter Denker. Ein drittes wesentliches Werk sind die „Briefwechsel über die motorischen Nerven“ – deren Nicht-Existenz Steiner ebenso betont hat, wie er das Ich des Menschen in der Außenwelt gedacht wissen wollte. Es ist ganz deutlich, dass das Geheimnis des Menschen unendlich viel größer ist als das, was das gewöhnliche Ich-Bewusstsein als „sich selbst“ empfindet. Doch in den obigen Zitaten wird die Verabsolutierung des Menschen derart extrem, dass die ganze göttliche und Geisteswelt in den Menschen hinein verschwindet, gleichsam ohne Rest. Zweifellos wollte Ballmer genau dies sagen. Und zweifellos hat auch Steiner formuliert, dass zum Beispiel nach dem Tod die Außenwelt des Menschen zur Innenwelt wird – dass der Mensch also gewissermaßen kosmisch wird. Die bisherige Innenwelt dagegen wird zur Außenwelt...

Und doch heißt dies nicht, dass all das Wesenhafte, was Rudolf Steiner in den Naturreichen und als geistige Hierarchien beschreibt, im Grunde bloße Statisten-Phänomene der eigentlichen Innen-Außenwelt des Menschen sind, der letztlich das Einzige wäre, was existiert. Selbst wenn der Mensch die „Religion der Götter“ ist, gehen diese dem Menschen doch voraus. Selbst wenn der Mensch einst etwas verwirklichen soll, was selbst die Engel nicht vermögen, kann er dies doch nur tun, weil sich die Tat des Christus vollzogen hat, durch die der Mensch mit IHM sich vereinen kann.

Indem der Mensch das Mysterium des Erkennens immer mehr in seiner ganzen Tiefe erkennt, kommt er nicht zu einer bloßen Selbstvergottung, sondern geht er dem Christus-Wesen, dem kosmisch-schöpferischen Logos, der sich mit der Menschheit verbunden hat, entgegen. Man kann auch sagen: Die Selbstvergottung liegt vor der Christus-Begegnung. Danach aber steht an irgendeinem Punkt die Erkenntnis, welchem Wesen der Mensch diese Erlösung, diese Möglichkeit, zu seinem höheren Wesen und zur immer weiteren und tieferen Erkenntnis zu kommen, verdankt...

Rudolf Steiner hat auf diese Tatsachen klar hingedeutet. Und man lese nur einmal, wie ein Zeitgenosse Steiners, der Maler Andrej Belyi, der Steiners Vorträge über das Fünfte Evangelium miterlebte, wie erschüttert Steiner selbst von demjenigen war, über das er in diesen Vorträgen sprach:

Nicht nur ich allein, eine ganze Anzahl von Menschen hatten in Kristiania dieselbe Empfindung: dieser Kurs war eine Verpflichtung, eine Bindung. Wenn Steiner bis dahin verehrt, geachtet wurde, so wurde er nun ein bis ins Innerste erschütterter Bruder, er, der Lehrer, war auf unsere Teilnahme, ja, auf unser Mitgefühl angewiesen. Er rang um die Worte, er hatte die Gabe der Rede ... verloren! [...]
Sein Sprechen – in den beiden ersten Vorträgen – war für seine Verhältnisse ein Stottern, die Erregung, die seiner sich bemächtigt hatte, verschlug ihm die Sprache. Das erste, was wir erfaßten – nicht mit dem Kopf, mit dem Herzen –, war diese Erregung, die ihn am Sprechen hinderte. Ich weiß noch ganz genau, wie er mitten im Satz abbrach, den Blick regungslos in eine Bühnenecke gerichtet (das Pult stand auf der Bühne), immer noch schauend und, ohne ihn zu beenden, um einen neuen Satz rang. Das Ganze war wie ein Selbstgespräch, es hatte nichts von einer Unterweisung.
Der Doktor war ein großer Pädagoge: er beherrschte Dutzende von Kunstgriffen. Aber damals stand ihm kein einziger zur Verfügung; da war die Stummheit des Zacharias, da zerbrach vor uns die Aureole des Lehrers, ein „Lehrer“ kann niemals so sprechen, wie der Doktor damals sprach. So spricht ein Bruder, dem es nicht mehr um die Beherrschung des Stoffes als Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Vermittlung geht. [...]
Seine Gebärden sagten vernehmbar: „Herr, wofür widerfährt mir dies?“ Doch in dieser offenkundigen „Kleinheit“ (der Doktor als sich an uns lehnender Bruder) zeigte sich die Größe des Christen. Wenn der Wellenschlag der Probleme dieses Zyklus Nichtmitglieder erreichte, erhob sich stets dieselbe Kritik: „Wie anmaßend!“ Und seine Gnosis wurde der Überheblichkeit geziehen. Die „Gnosis“, seine Gnosis, war er selbst, es war die Weise, wie er uns das „Fünfte Evangelium“ brachte, unwissend, wie es zu bringen, wie es auch nur zu berühren sei [...].
Glauben Sie mir, der ich seine Wahrhaftigkeit, seine Ehrlichkeit, seinen Widerwillen gegen jegliche Sentimentalität und Rhetorik kenne, glauben Sie mir: seine Kleinheit und Schwäche vor dem Bild des Christus Jesus und vor uns – das ist die Wahrheit seiner Beziehung zum Thema „Christus“ und die Wahrheit seines Bruderseins in jenem Augenblick.
Andrej Belyj: Verwandeln des Lebens. Zbinden, 1990, S. 452ff


Der große Eingeweihte, Rudolf Steiner, sprach hier über etwas, das viel größer war als er – und er tat es mit allergrößter Demut und Erschütterung. Nehmen wir hinzu, dass er in frühen Jahren einmal schrieb „An Gottes Stelle den freien Menschen“, dass er aber in allem, was er über Christus sagte, sich nie an Seine Stelle gesetzt hätte, sondern immer wieder das Paulus-Wort betonte: „Nicht ich, sondern...“, dass er bis zu seinem Tod laut das Vaterunser gebetet haben soll. Nehmen wir den ungeheuren Ernst, mit dem er von der geistigen Welt, von Michael sprach; nehmen wir die ganze Schilderung der Erden- und Menschheitsentwicklung – nirgendwo finden wir bei dem Rudolf Steiner, der überhaupt anfängt, von dieser geistigen Welt zu sprechen, dass der Mensch – wie verstanden auch immer – „alles“ ist. Selbst der makrokosmische Menschen, der Adam Kadmon geht aus dem Schoß einer göttlichen Welt hervor...

Und wie sollte es je möglich sein, dass der Mensch zu seiner jetzigen Kleinheit und in die materielle Welt, in die Trennung von Ich und Welt hinabgesunken wäre, wenn hierbei nicht Wesen mitgewirkt hätten, die den Menschen in diese Lage gebracht hätten? Wesen, die ihre Menschheitsstufe schon durchgemacht hatten, als überhaupt erst der physische Leib des Menschen allmählich gebildet wurde.

Was auch immer Rudolf Steiner schildert – es schließt sich zu einem ungeheuerlichen Szenario zusammen, zu einem Mysteriengeschehen auch, aber ganz gewiss nicht zu einem Weltbild, indem der Mensch alles ist und die geistige Welt, von der Rudolf Steiner in eben dieser Weise und mit eben diesem Ernst und auch in eben dieser Demut spricht, nur eine Innenwelt oder ein Epi-Phänomen des Menschen, nicht einmal des „Ereignis Rudolf Steiner“.

Genau diese Anschauung setzt aber der geistige Ballmer-Schüler Karen Swassjan (geb. 1948) fort. Er schrieb unter anderem das Buch „Die Karl-Ballmer-Probe“ (Edition LGC, 1994). An Karl Ballmer sollen sich also gewissermaßen die wahren Anthroposophen erweisen. In einem anderen Werk schreibt er:

Es besteht - wohl seit den ersten anthroposophischen Zeiten- die zählebige Meinung, Rudolf Steiners späteres theosophisch- anthroposophisches Werk sei ein Fortschritt und Vorrücken seinem Frühwerk gegenüber, das nichts anderes darstelle als die philosophische Stellungnahme und Vorbereitung für die weiteren esoterischen Leistungen des anthroposophischen Lehrers. Manche Interpretatoren sind sogar so weit gegangen, hier, also zur Zeit der Jahrhundertwende, einen grundlegenden weltanschaulichen Umschwung zu halluzinieren, infolgedessen der ehemalige Nietzsche-, Stirner- und Haeckel- Verehrer Rudolf Steiner eine Art mystischer Verklärung erlitten haben und vom Exoterischen zum Esoterischen konvertiert sein soll.
Schade nur, dass er diese seine rührselige Bekehrung dann nicht durch so etwas wie "Bekenntnisse" a la Augustinus beglaubigte, um allen Biedermeier-Anforderungen unserer lyrisch- okkulten Bedürfigkeiten gerecht zu werden.
Man gebe sich aber einmal die Mühe, dieses Verhältnis schlechtweg umzudrehen, wie wenn hier gerade das Gegenteil gälte. (Die leichtsinnige Annahme, ein sonst mehr oder weniger gut verdauliches Wortpaar wie esoterisch-exoterisch bewahre auch im Fall Rudolf Steiners überhaupt einen Sinn, übergehen wir mit taktvollem Schweigen.) Es könnte nämlich sein, dass das Verhältnis zwischen Früh- und Spätwerk etwa demjenigen zwischen einem unverdünnten Konzentrat und dessen allmählichen, jedesmal aufs genaueste dosierten homöopathischen Lösungen gleichkäme. Das ganze spätere Werk Rudolf Steiners erschiene dann gegenüber der Philosophie der Freiheit als gewollter und gekonnter Rückzug- der Bedürftigkeiten der sich "esoterisch" stellenden armen Seelen der Zuhörer halber."
Karen Swassjan, Das Welterkennen als Selbsterkennen eines Menschen in: Urphänomene- Denkschriften für Hinschauende, 1/95. Überwindung der Philosophie, Dornach 1995 [o]


Dieses Zitat hatte Michael Eggert im November 2011 in seinen Blog gestellt.

Rudolf Steiner, den Swassjan selbst in einem anderen Werk „ein Kommender“ nannte, sei also gar nicht zeitlebens weiter vorangeschritten, zumindest in seinem äußeren Wirken hätte er seit 1907 zwei Jahrzehnte lang nur noch Rücksicht auf diejenigen nach okkulten Offenbarungen hungernden Theosophen-Seelen genommen, die sein Frühwerk nicht verstanden. Dann wäre Steiner im Grunde nichts anderes als eine Art Betrüger und Schöpfer neuer Mythen. Die Anthroposophie als „Opium für das Volk“ derer, die eine neue Religion brauchen – und Steiner hätte dies unterstützt!

So aber sehen es gewisse Menschen, die sich als besonders modern empfinden – und bei nicht einmal Ballmer oder Swassjan das Wasser reichen können!

Im Eggert-Blog wird diese Diskussion von Burghard Schildt aufgeworfen:

29. Oktober 2014 11:58 [o]
Christian Clement erwähnt beiläufig, das Karen Swassjan ihm als Schriftsteller wie ein Vorbild sei [Das ist interessant, ich konnte allerdings nicht finden, wo er dies tut, H.N.].
K. Swassjan bekennt sich zum Schaffen von Karl Ballmer. Daraus im Besonderen zu dem folgenden Satz
K.B. schreibt: "Im Denken steht der Mensch im Elemente des Ursprungs der Welt, hinter dem etwas anderes zu suchen als sich - den Denker - selbst, für den Menschen keine Veranlassung besteht."
Der Satz besagt: Im Ursprung der Welt - also in dem Lebensvorgang, der sich selbst erzeugt.
R. Steiner sagt zu seiner Philosophie der Freiheit, dem Sinne nach: Mit dieser Schrift ist erstmalig selbstständiges Denken in der Welt.
Weiterhin, andernorts, deutet er auf das Erscheinen des Christus im Ätherischen hin. Worauf also?
Auf dessen Erscheinung in der Gestalt des voraussetzungslosen Denkens.
Zusammengeschaut wirft das doch diese Frage auf:
So das Denken selbst, sich selber Ursprung ist und als das zugleich der des Lebens und zudem der Christus von sich sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben - wer ist dann von daher gesehen, der Autor der Schrift, in der, laut Steiner, erstmalig selbstständiges Denken in der Welt ist?


Ja, was ist auf diese Frage dann die Antwort?
Was würde Schildt darauf antworten? Ganz sicher kann gesagt werden, dass Steiner niemals gesagt hätte, Christus sei der Autor und er (Steiner) sei Christus. Ballmers Satz „Den Christus erkennen heißt: der Christus sein“ hätte Steiner niemals unterschrieben. Gleichwohl wies Steiner oft auf das urchristliche Motiv der Vereinigung mit dem Christus hin, auf die dadurch mögliche Wandlung bis in den physischen Leib hinein. Und sehr wohl ist das Wesen des Christus zutiefst mit dem Geheimnis des reinen, sich von aller leiblicher Grundlage lösenden Denkens verbunden. Aber ein Sich-Verbinden mit diesem Christus-Wesen ist nicht ein „Zu-seiner-wahren-Natur-Erwachen“, wodurch der Christus selbst verschwinden oder sich als identisch mit dem (und sei es makrokosmischen) Menschen erweisen würde.

Das moderne Bewusstsein, das keinerlei Götter über sich duldet (und eigentlich auch keinerlei Menschen, die irgendwie weiter sind), begeistert sich natürlich an dem frühen Steiner, der fast nach Art von Max Stirner zu einer Verabsolutierung des menschlichen Geistes kommt. Aber für Steiner ist dies ein Durchgangsstadium. Er wird nicht zu einem zweiten Stirner – sondern er bleibt und wird ... Rudolf Steiner. Und dieser Steiner sieht nicht etwa Wesen, die nicht da sind – oder denkt sich diese für die armen Theosophen-Seelen aus –, sondern er erlebt ihre Realität. So schreibt er in seinem „Lebensgang“ schon im Rückblick auf die Jahrhundertwende, als er sich in inneren Kämpfen seine eigene Aufgabe bewahren musste:

Für denjenigen, der nicht wie ich erlebend in der Geistwelt steht, bedeutet ein solches Sich-Versenken in eine Denkrichtung eine bloße Gedankenbetätigung. Für den, der die Geist-Welt erlebt, bedeutet sie etwas wesentlich anderes. Er wird in die Nähe von Wesen in der Geist-Welt gebracht, die eine solche Denkrichtung zur allein herrschenden machen wollen. [GA 28, 364].


Und so gibt es auch Wesen, denen, menschlich gesprochen, sehr daran liegt, dass man nicht zu einem Verständnis dessen kommt, was in der sich entfaltenden Anthroposophie ein Voranschreiten ist – ein Voranschreiten in eine geistige Welt, die der Geistesforscher Rudolf Steiner mehr und mehr erschließt, weil er weiß, welche inneren Wege er gehen muss, damit die geistige Welt sich ihm offenbart. Denn auch darauf hat er immer wieder hingewiesen: Dass trotz aller Vorbereitungen und aller inneren Tätigkeit die wirklichen Erkenntnisse etwas sind, was dem geistig Erkennenden entgegenkommt, was sich trotz allem ... offenbart. Und so ist also nicht nur Rudolf Steiner derjenige, der den „offenbarungs-gläubigen Theosophen“ Dinge offenbart, die man eben glauben muss, sondern das Erkennen im Geistigen ist an sich ein Offenbarungs-Geheimnis.

Geistes-Wissenschaft hat gerade damit zu tun, dass trotz dieser Tatsache der Geistesforscher zu unterscheiden weiß, was sich ihm offenbart, weil er sowohl sich selbst durch und durch kennt, als auch sich ein immer weiter sich differenzierendes Unterscheidungsvermögen angeeignet hat. Vor allem kennt er die Tätigkeit und das Mysterium des Erkennens selbst durch und durch. Dadurch weiß er mit völliger Sicherheit, wann er etwas (sicher) weiß und wann ein Wissen nicht sicher ist und wo die Unsicherheiten liegen.

Auf den oben erwähnten Hinweis von Burghard Schildt schreibt nun Clement:

29. Oktober 2014 13:56 [o]
Gibt es einen Gott im Frühwerk Rudolf Steiners? Sicher: "Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott." (Philosophie der Freiheit, 1894)
Ist der "Gott" in Steiners Frühwerk zugleich der "Gott" der Religionen, d. h. der zum äußeren Objekt verdinglichte und in des Jenseits versetzte Mensch? Sicherlich nicht.
Ist der "Gott" in Steiners Spätwerk der "Gott" der Religionen, oder der "Gott" des steinerschen Frühwerks? DAS scheint mir die Gretchenfrage zu sein. Steiner hat es versäumt, seinen Anhänger diese Frage ganz klar zu beantworten, sei es, weil er seinen Anhängern das Selberdenken nicht abnehmen wollte, sei es, weil er sich am Ende in der Rolle des Propheten verloren hat.
Ich halte es in dieser Frage in der Tat mehr mit Karl Ballmer. "Im Denken steht der Mensch im Elemente des Ursprungs der Welt, hinter dem etwas anderes zu suchen als sich - den Denker - selbst [also auch z.B. einen "Gott", C.C.], für den Menschen keine Veranlassung besteht."


Hier haben wir also ein klares Bekenntnis Clements zu Ballmer. Ballmer streicht aus dem Denk-Erlebnis auch noch den Gott, von dem selbst Rudolf Steiner in der „Philosophie der Freiheit“ doch gerade spricht! Steiner sagt nicht einfach nur „im Elemente des Ursprungs der Welt“, sondern er sagt, dies ist das Leben in Gott. Der Mensch dringt dann also vor in einem wirklichen Leben in Gott – nicht mit Gott, nicht als Gott, sondern in Gott. Gibt es für Steiner also diesen Gott oder nicht? Zweifellos!

An der entsprechenden Stelle der „Philosophie der Freiheit“ setzt Steiner fort:

Das bloß erschlossene, nicht zu erlebende Jenseits beruht auf einem Mißverständnis derer, die glauben, daß das Diesseits den Grund seines Bestandes nicht in sich hat. [...] Deshalb hat aber auch noch keine Spekulation einen Inhalt zutage gefördert, der nicht aus der uns gegebenen Wirklichkeit entlehnt wäre. Der durch abstrakte Schlußfolgerung angenommene Gott ist nur der in ein Jenseits versetzte Mensch [...]. [...] Der menschliche Geist kommt in Wahrheit nie über die Wirklichkeit hinaus, in der wir leben, und er hat es auch nicht nötig, da alles in dieser Welt liegt, was er zu ihrer Erklärung braucht. [GA 4, 249f]


Aber Rudolf Steiners Geist lebte eben schon 1894 in einer Wirklichkeit, in der er sagen musste: Mein mit dem Gedankeninhalt erfülltes Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. Und für den späteren Steiner waren eben auch die höheren Hierarchien nicht etwas abstrakt angenommenes oder bloß Spekuliertes, sondern es war diejenige Wirklichkeit, zu der er dann erlebend vorgedrungen war. Aus dem lebendig erlebten Denken wurde eine ganze, lebendig erlebte geistige Welt, die mit einem sich immer weiter vertiefenden Denken immer differenzierter erkannt wurde.

Man vergleiche dazu auch noch folgende Äußerungen aus Steiners „Lebensgang“:

Ich wollte nicht menschliche Erlebnisse beschreiben, sondern zeigen, wie eine geistige Welt durch Geistorgane im Menschen sich offenbart.
Aus solchen Untergründen heraus bildeten sich die Ideengestalten, aus denen dann später meine „Philosophie der Freiheit“ erwuchs. Ich wollte keine mystischen Anwandlungen in mir beim Bilden dieser Ideen walten lassen, trotzdem mir klar war, daß das letzte Erleben dessen, was in Ideen sich offenbaren sollte, von der gleichen Art im Innern der Seele sein mußte wie die innere Wahrnehmung des Mystikers. Aber es bestand doch der Unterschied, daß in meiner Darstellung der Mensch sich hingibt und die äußere Geistwelt in sich zur objektiven Erscheinung bringt, während der Mystiker das eigene Innenleben verstärkt und auf diese Art die wahre Gestalt des objektiven Geistigen auslöscht. [GA 28, 173].


Diejenigen, die den frühen Rudolf Steiner gleichsam als Höhepunkt seiner selbst verehren, übersehen auch, dass er von einem entscheidenden Seelenumschwung um sein 35. Lebensjahr sprach, also nach dem Schreiben seiner „Philosophie der Freiheit“. Steiner schreibt darüber:

Im Zusammenhange mit dem Umschwung in meinem Seelenleben stehen für mich inhaltsschwere innere Erfahrungen. – Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher schon ein meditatives Leben geführt; doch kam der Antrieb dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Innern etwas auf, das die Meditation forderte wie etwas, das meinem Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. [...]
Das ideelle Erleben, das aber das wirkliche Geistige doch in sich aufnimmt, ist das Element, aus dem meine „Philosophie der Freiheit“ geboren ist. Das Erleben durch den ganzen Menschen enthält die Geisteswelt in einer viel wesenhafteren Art als das ideelle Erleben. [GA 28, 323]


Und doch soll der spätere Steiner nur noch Rückschritte gemacht haben und die Menschen mit neuen Mythen gesättigt und gefüttert haben? Mit welch einer Blindheit und Arroganz stehen Menschen, die dies meinen, vor dem „Ereignis Rudolf Steiner“!

In einer solchen aus innerer geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt sich immer mehr das Bewußtsein von einem „inneren geistigen Menschen“, der in völliger Loslösung von dem physischen Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. Dieser in sich selbständige geistige Mensch trat in meine Erfahrung unter dem Einfluß der Meditation. Das Erleben des Geistigen erfuhr dadurch eine wesentliche Vertiefung. [GA 28, 326].


Steiner also, dem zum Beispiel Zander immer wieder „Verfrühungen“ und andere „Glättungen“ seiner Biografie vorwirft, schreibt ausdrücklich, dass diese entscheidenden Entwicklungen sich eindeutig nach seiner „Philosophie der Freiheit“ und natürlich auch nach allen noch davor liegenden Grundwerken vollzogen haben. Erst jetzt kommt er über das (bereits geistige) Ideelle hinaus zu einem geistigen Erleben durch den ganzen Menschen. Erst jetzt wird auch die volle Selbstständigkeit im Geistigen zu einer Erfahrung – und das Erleben des Geistigen erfuhr dadurch eine wesentliche Vertiefung. Denn dieser geistige Mensch kann auf ganz andere Weise im Geistigen leben. Wohlgemerkt: Nicht lebt das Geistige im Menschen, sondern der Mensch lebt im Geistigen – in einer, in Steiners Erfahrung immer mehr sich erweiternden geistigen Welt.

Von Ballmer zur New-Age-„Anthroposophie“

Was all dies bedeutet, mögen einmal diejenigen mit voller geistiger Anstrengung überlegen, die beginnend bei Ballmer über Swassjan über Clement über Eggert über Grauer und Hau bis zu einem Ansgar Martins mit zunehmend epigonenhafterem Niveau des Verständnisses und immer weniger Bereitschaft, Steiner in seinem realen Geist-Erleben wirklich zu folgen zu versuchen, immer wieder vor- und nachbeten, dass der frühe Steiner auch für den späteren Steiner unerreicht sei.

In diesen Kreis gehört dann auch der Info3-Redakteur Jens Heisterkamp, der gerade ein neues Büchlein über „Anthroposophische Spiritualität“ veröffentlicht hat – welches Ansgar Martins sogleich ausführlich besprochen hat [o].

Heisterkamp ist ein Vorreiter derer, die sich bewusst und kraftvoll von Steiner distanzieren. Man kann sagen: Sie stellen sich auf seine Schultern und treten ihn in den Schlamm. So sei zum Beispiel neben vielem anderen Steiners „sprachliche Diktion“ heute überholt. Aber natürlich darf auch der übliche Seitenhieb auf Steiners „Rassismus“ nicht fehlen: Es gelte, „den zeitlichen Abstand zu einer Gründerfigur aus der Spätkolonialzeit“ ins Bewusstsein zu rufen. Gleichzeitig beruft er sich aber auf den „Humanismus und Individualismus in Steiners Denken“.

Die Schizophrenie oder aber Arroganz daran scheint man nicht zu bemerken. Ist Steiner nun Humanist oder Rassist? Ist er ein absolut individueller Denker oder von der Spätkolonialzeit geprägt? Merken diese selbsternannten „liberalen Anthroposophen“ eigentlich noch, wie lächerlich sie Steiner und sich selbst damit machen? Wen interessiert den irgendein philosophischer Denker, der auf der anderen Seite im Grunde nie von spätkolonialen Prägungen loskam? Wenn Heisterkamp mit der Gesamtausgabe wie mit einem Steinbruch umgeht und Einzelnes herausbricht, um zu rufen: „Das hier ist aber sehr wertvoll!“, tut er niemandem einen Gefallen – die Welt geht einfach daran vorbei, und mit Recht.

Hören wir dann, wie auch Heisterkamp die Jahrzehnte der Hauptwirkenszeit Steiners lächerlich macht:

„das Eingreifen des Geistes in den Evolutionsstrom … scheint bisher nicht ohne den Rückgriff auf mythologische Elemente darstellbar zu sein … Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‘höherer Wesen’ zu schildern.“ [S. 87] [o]


Und wenn Heisterkamp über Steiner schreibt:

„…das Ziel ist auch hier die konkrete Erweiterung unseres zunächst ego-verengten Menschseins durch erkennendes Eins-Werden mit dem Geist der Dinge und dem Ganzen des Kosmos … Die einsetzende Erfüllung mit dem konkreten Geist der Dinge ist für ihn gleichzeitig die Höher-Transformation des Menschen, seine ‘Erleuchtung’.“ [S. 117]

dann möchte man eigentlich nur ausrufen: Wozu muss eine solche Schrift überhaupt erscheinen? Ich kann nur hoffen, dass viele, viele Menschen doch merken werden, wie flach diese abstrakte, New-Age-durchtränkte Sprache ist – wie weit sie an der Realität Steiners vorbeigeht. Persönlich kann ich diese Sprache der selbsternannten „postmodernen Anthroposophen und Steiner-Versteher“ kaum mehr ertragen. Die ruhige, sachliche, ohne jeden „spirituellen“ Anstrich bleibende Sprache Clements ist mir unendlich viel lieber als diese (Steiner) bevormundende, über ihn hinausgehen-wollende und doch ach, so unendlich flache Sprache Heisterkamps.

Hören wir weiter Martins über Heisterkamp – und empfinden dabei, was hier geschieht:

Nicht mehr wird hier eine Emanationsgeschichte der „Wesensglieder“, begleitet von engelhaften Hierarchien und mythologischen Orten beschrieben, wie bei Steiner selbst. Bei Heisterkamp ist von Steiners wimmelnd-arbeitsteiliger Geisterwelt nicht mehr übrig geblieben als das Postulat, in der Physis manifestiere sich Geist und ein anthropisches Prinzip der Evolution: „Sie bringt nach und nach die Stufen von Stofflichkeit, von immer höher organisiertem organischen Leben und von beseelten und bewussten Lebewesen erscheint, in dem der Geist als Fähigkeit zum Selbstbewusstsein und als Potenzial sinnstiftender Zusammenhangbildung erscheint.“ (S. 86f.)
Wie aber sind dann Steiners durchaus konkrete Darstellungen von Planeten-Stufen und Engelhierarchien zu deuten? Heisterkamp interpretiert sie als Versuch, die Einwirkung des Geistes auf Materie (und seine ontologische Vorgängigkeit vor Materie) ohne „Schöpfergott“ zu erklären. [o]


Von der ganzen erhabenen Evolution, der kosmischen und der Erdenentwicklung bleibt also nichts anders übrig als ein abstraktes „anthropisches Prinzip“ – ein nichts erklärender Begriff. Woher kommt dieses „Prinzip“? Es ist eben da! Und Steiner steht da als „Märchenonkel“, der, in einem dilettantischen Versuch, die „Einwirkung des Geistes auf Materie“ ohne „Schöpfergott“ zu erklären, gleich eine ganze Schar von Engelhierarchien postuliert habe. Glauben diese Menschen eigentlich selbst das, was sie schreiben? Und welcher Leser soll jetzt Steiner noch ernst nehmen? Das alles ist doch einfach nur noch absurd!

Im Folgenden wird dann klar, unter welchem Segel Heisterkamp sein Schiff tatsächlich fahren lässt. Martins weiter:

Es geht durchaus darum, Geist und Welt ohne deren Zersplitterung in Geister zu denken, dazu die Konstruktion von Hinterwelten und geschichtsmetaphyischen Mächten zu vermeiden. Die top-down Entwicklung der „geistigen Welt“ wird [...] zur Entwicklung einer bottom-up Bewusstseinsgeschichte. Hier schlägt sich die [...] New Age-Philosophie Ken Wilbers nieder. Entsprechend werden alle evolutionären Konkretionen Steiners abgeschwächt und umgedeutet: [...] Kulturepochen spielen keine Rolle mehr, stattdessen schildert Heisterkamp die Kulturgeschichte Wilbers: archaisch, magisch, mythisch, rational, integral entfalte sich das Bewusstsein des Menschen aus der Urgeschichte zur Moderne. Gegenüber Steiners Ansatz hat das in der Tat den Vorteil, dass dies eine universale Zivilisationsgeschichte beschreiben soll [...]. Die Aufteilung der Geschichte in bestimmte “Epochen” mit bestimmten „Missionen“ und Träger-Völkern wird überflüssig. [o]


Eine konkrete geistige mit realen Wesen wird also einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wenig aber eine konkrete Geschichte, die neben der Bewusstseinsgeschichte sehr wohl immer bestimmte Völker kannte, die jeweils spezifische Impulse in die Menschheitsentwicklung einfließen ließen. Aber all dies ist ja „diskriminierend“ – und die Existenz höherer geistiger Wesenheiten wäre ja ebenfalls „diskriminierend“. Bottom-up ist das Stichwort: Nichts außer dem Menschen und einem abstrakten „Geist“. Unter diesen Prämissen fühlt sich das „post-post-moderne“ Bewusstsein wieder wohl...

Letztlich dekonstruiert Heisterkamp in seinem Eifer für eine neue New-Age-Anthroposophie im Zeichen Ken Wilbers sogar die zentrale Idee der Reinkarnation:

„Über das genaue ‘Wie’ dieser Idee, insbesondere über die Frage, ob es einen vom Körper unabhängigen individuellen Geist geben kann, der in zeitlicher Folge unterschiedliche Körper ‘bewohnt’, ist damit noch nichts gesagt…“ [S. 76] [o]


Damit sind wir fast bei der völligen Leugnung des individuellen Geistes angekommen – dem eigentlichen Geheimnis des Christentums. Heisterkamp erweist sich wie die meisten New-Age-Anhänger als Vertreter derjenigen arabistischen Anschauung, die den individuellen Geist allenfalls zeitweise gelten ließen, ihn nach dem Tod aber wieder in den All-Geist zurückkehren wissen wollten. Die Individualität und ihre Ewigkeit wird ausgelöscht. An ihre Stelle tritt ein abstraktes „anthropisches Prinzip“ und ein abstraktes, seichtes Gerede von einem „schöpferischen Spiel entwickelter, reifer und immer umfassender werdender Individuen…“ [ebd.].

Dies ist nicht einmal mehr ansatzweise ein letzter Rest von Anthroposophie – dies ist nicht einfach nur ihre abstrakte „Einsargung“, sondern ihre aktive Vernichtung durch völlige Wesensveränderung, Perversion. New Age, nicht mehr Anthroposophie. Diese findet man dann doch zumindest noch in der Kritischen Steiner-Ausgabe, dort hat man noch immer Rudolf Steiner selbst...

Glaube und Wissenschaft, Religion und kritisches Denken

In Bezug auf das Verhältnis zwischen „Glauben“ und „Wissenschaft“ schreibt Clement:

29. Oktober 2014 16:52 [o]
[...] Religionsausübung ist niemals "frei". Man kann zwar Menschen die äußere Freiheit geben, diese oder jene Religion zu praktizieren; aber die Religionsausübung als solche ist doch immer - per definitionem - unfrei. Man "folgt" dieser oder jener Religion, man "glaubt" dies oder jenes, wodurch die Religionszugehörigket definiert ist. [...] Das Unbehagen des modernen aufgeklärten Religiösen am Mormonismus liegt doch wohl auch mit darin begründet, dass ihm hier das Urbild des Religiösen entgegentritt, welches er, insofern er als "Aufgeklärter" mit der Menschheitsentwicklung mitgeht, eigentlich nicht mehr nötig haben will, an dem er aber seelisch immer noch hängt, da die Aufklärung eben auf das Hirn beschränkt bleibt und noch nicht in seine tieferen Schichten durchgesickert ist. Daher beleidigt der Mormonismus das "Freie" in ihm, und macht zugleich dem "Religiösen" in ihm ein schlechtes Gewissen. [...]
Lassen wir also die Religiösen mit ihrem Glauben, die Gemischten mit ihrem Wischiwaschi und die Freien mit ihrer Freiheit selig werden. - ohne dass einer dem andern die ihm gemäße Lebensform madig zu machen oder ihm die seine aufzudrängen versucht. Und auch Anthroposophie kann doch gut als Glaube, als Wischiwaschi und als Wissenschaftsmethode praktizert werden, ohne dass die Parteien sich darüber die Köpfe einschlagen, wer denn nun die "wahre" Anthroposophie vertritt. Und verrät nicht schon der bloße Ruf nach einer "wahren" Anthroposophie den Religiösen im vermeintlich Freien?
Auch als Herausgeber der SKA beanspruche ich nicht, mit meinem Verständnis der Anthroposophie deren "wahre" Gestalt herauszuarbeiten. Ich arbeite nur eine solche Gestalt heraus, die 1. meiner Individualität gemäß ist und 2. meiner Ansicht nach dialogfähig mit der Wissenschaft ist. Natürlich gehe ich davon aus, dass am Ende Anthroposophie nur in einer solchen Gestalt wirklich zukunftsfähig ist, weil das Religiöse und das Wischiwaschi irgendwann obsolet geworden sein wird. Aber das ist eben mein - - - Glaube.


Im weiteren setzt Clement dann der Religion die individuelle Spiritualität entgegen, die sich nicht mehr an verbindliche Glaubensbekenntnisse und Dogmen binde. Und auf den Einwand, dass auch das wissenschaftliche Arbeiten an Regeln und Konventionen gebunden sei, antwortet er, dass die wissenschaftliche Form aber dennoch eine befreiende sei, denn ihr Zweck bestehe darin, die Arbeit frei von Subjektivismus, Willkür, Beliebigkeit und Dogmatismus zu halten.

Dies sind interessante Gedanken. Blicken wir einmal auf die Christengemeinschaft, die ausdrücklich keinerlei Dogma kennt. Alles, was sie zunächst hat, ist der Kultus selbst. Ist jemand unfrei, der nun in seiner ganz individuellen Suche nach einer immer tieferen Verbindung mit Christus sich mit diesem Kultus verbindet? Nein, er ist es nicht. Ist „Christus“ für ihn ein Dogma, wenn er immer mehr zu einer lebendigen Erfahrung wird? Nein, natürlich nicht. Und übrigens ist gerade auch der Kultus der Christengemeinschaft frei von Willkür und Beliebigkeit – und seine Form ist eine befreiende, denn sie befreit den Menschen zu sich selbst und zu Christus. Wer diese Befreiung jedoch nicht sucht oder aber in diesem Kultus nicht findet – der ist selbstverständlich frei, eine ganz andere, eben sehr subjektive, wie auch immer individuelle Form von Spiritualität zu suchen.

Es gab übrigens Menschen, die gerade im Gefängnis ihre volle Freiheit fanden. Äußere Formen und Unfreiheit sind in keiner Weise notwendig verknüpfte Begriffe... Religion sollte immer frei und befreiend sein. Das wesentliche sind nicht die äußeren Formen selbst, sondern das, was der einzelne Mensch daran innerlich und vollkommen individuell, im Heiligtum seiner Seele, erleben kann. Wenn man an einer bestimmten Form nichts erleben kann, dann macht diese Form nicht unfrei, sondern sie ist dann einfach sinnlos.

Etwas anderes sind die von Menschen ausgehenden Zwänge, etwa, wenn eine Religionsgemeinschaft von ihren Mitgliedern erwartet, dass sie so oder so leben, wenn ein subtiler sozialer Zwang ausgeübt wird und so weiter. Das hat aber mit dem eigentlichen Element der Religion und des religiösen Erlebens schon nicht mehr unmittelbar zu tun.

Clement ergänzt dann noch:

30. Oktober 2014 07:05 [o]
Das möchte ich aber schon noch klarstellen, dass man meine Bemerkungen über die Religion (die für mich übrigens immer gruppenhaft ist und die ich daher von Spiritualität unterscheide) nicht als Gottesleugung missverstehen sollte. Dasjenige, was ich mir unter dem Begriff "Gott" denke, lässt sich vernünftigerweise gar nicht leugnen, da mein "Gott" eher der des Aristoteles ist, des Meister Eckhart, des Jakob Böhme oder derjenige Spinozas und Fichtes - nicht aber der anthropomorphe Gott der Religionen, über dessen Projektionscharakter ich, wie gesagt, ganz mit Rudolf Steiner übereinstimme und den wir als denkende Menschen daher doch wohl am besten zu den Akten legen sollten.


Eigentlich muss man sich fragen: Wer ist überhaupt dieser „anthropomorphe Gott der Religionen“? Waren nun Meister Eckhart oder Jakob Böhme nicht religiös, tief christlich religiös? Und hat nicht Christus selbst von einem Anbeten „im Geist und in der Wahrheit“ gesprochen? Hat nicht auch Paulus davon gesprochen? Wer ist der „anthropomorphe Gott“, von dem Clement spricht? Welcher Gott soll von „denkenden Menschen“ ad acta gelegt werden?

Eine andere Frage ist, wie Clement über Anthroposophie, Religion und Wissenschaft denkt. Er bezieht „Religion“ hier auf das bloße Glauben – und dies ist zweifellos etwas, was auch Steiner nicht wollte. Andererseits ist sehr wohl die Frage, in welcher Gestalt Anthroposophie „am Ende“ „wirklich zukunftsfähig“ sein wird. Aber es ist auch die Frage, auf welchem Wege es für die Menschheit selbst eine Zukunft geben kann. Da, wo sie das religiöse Empfinden insgesamt ad acta legt? Oder da, wo letztlich die wirklich verstandene Anthroposophie in Religion übergeht – weil eben schon das wirkliche Erkenntniserleben in der Wirklichkeit ein Leben in Gott ist?

Man sollte sich keinen Illusionen darüber hingeben, dass man das, wovon Steiner da spricht, durchaus noch absolut nicht hat – gerade auch die New-Age-Anthroposophen haben dieses nicht. Mit der modernen Wissenschaft, die eine Wissenschaft ohne Religion und ohne Geist-Erkenntnis, die zum religiösen Erleben führen könnte, ist, hat die Menschheit keine Zukunft. Nur dann hat sie eine solche, wenn sie mit dem Verstehen der Anthroposophie ernst macht und so zu einem völlig neuen Wirklichkeits-Erleben und Erkenntnis-Leben kommt, zu einer wirklichen Auferstehung des Denkens und damit des Menschen. Dann aber werden Wissenschaft und Religion nicht mehr getrennt sein – und der Glaube wird nicht mehr ein sektiererisches Für-wahr-Halten sein, sondern ein erlebendes Stehen in der Wirklichkeit.

In Bezug auf Dogmatismus und Wissenschaftlichkeit schreibt Clement weiter:

2. November 2014 15:46 [o]
Hinter das kritische Denken können wir nicht zurückgehen. Daber meine ich auch (wie schon einmal hier gesagt) dass die Anthroposophie nur zukunftsfähig ist, wenn diejenigen Menschen, die sie in der Welt vertreten, ihr nicht als einer neuen Offenbarung und damit im religiösen Modus gegenüberstehen, sondern kritisch. Wenn sich Anthroposophie und kritisches Denken nicht vereinbaren lassen, dann hinweg mit ihr! Dann hat sie für den Menschen im Bewusstseinsseelenzeitalter keinen Wert und keine Existenzberechtigung, ist reiner Anachronismus, sentimentaler Balsam und Droge für die Seele, die nicht damit klarkommt, dass, in Nietzsches treffendem Wort, Gott tot ist.
[...] "Kritisch" ist ein Denken bzw. ein Bewusstsein, welches sich selbst versteht - oder zumindest sich darum bemüht - indem es nichts auf blosse Autorität hin anerkennt und auch nichts auf der gefühlhaften Basis des "Gefallens" oder "Nichtgefallens" anerkennt und verwirft. "Kritisch" ist das Denken, das sich auf sich selbst verlässt und nichts ungepfüft lässt, auch und vor allem die eigenen Voraussetzungen, Annahmen und Methoden. "Kritisches Denken" (nicht "kritelndes" Denken) ist das nur auf sich selbst gestützte Denken.
Ist somit kritisches Denken, im vollen Sinne des Wortes, nicht zugleich "reines Denken" im Sinne Steiners und somit Eingangspforte zur "höheren Erkenntnis"? Und ist es nicht zugleich Verwirklichung des Ideals vom "wissenschaftlichen" Denken?


Hiermit hat Clement in weiten Teilen völlig recht – und rennt bei Steiner offene Türen ein (was er natürlich ebenfalls weiß). Steiner wollte keine Offenbarungen geben, die bloß gläubig aufgenommen werden. Aber viele schütten das Kind mit dem Bade aus und lehnen Steiners Offenbarungen ab, weil sie oft genug gläubig aufgenommen werden – aber auch, weil sie mit ihnen eben nichts anfangen können, weil das eigene, auf sich selbst gestützte Denken, an diesen Offenbarungen zunächst scheitert.

Hier aber liegt ein entscheidender Punkt im Umgang mit Rudolf Steiner: Allzu schnell kann man glauben, dass ein auf sich selbst gestütztes Denken mit diesen Offenbarungen überhaupt nicht weiterkommen kann. Aber warum sollte der Autor der „Philosophie der Freiheit“, der dieses auf sich selbst gestützte Denken als so zentral ansah, Offenbarungen gegeben haben, an denen diese eigenständige Denken zerschellen müsste? Das ist aber gar nicht der Fall. Sondern er hat immer wieder darauf hingewiesen, das der gesunde Menschenverstand – ganz im Sinne des kritischen, eigenständigen Denkens –, diese Erkenntnisse bzw. Offenbarungen durchaus einsehen kann, auch die Zusammenhänge einsehen kann, sie nicht von vornherein ablehnen muss, sie am Leben prüfen kann und so weiter. All dies steht in völligem Einklang mit dem selbstständigen Denken. Nur muss der individuelle Mensch sich dann auch die Mühe machen, es an den Offenbarungen Rudolf Steiners einzusetzen – und sie nicht ebenso wie die bloß gläubige Anhängerschaft abweisen!

Hier aber zeigt sich dann, dass viele Menschen von einer geistigen Welt, insofern sie wesenhaft und wirklich „esoterisch“ wird, gar nichts wissen wollen – im doppelten Sinne, im Erkenntnissinne und im Willenssinne. Diese Ablehnung geschieht im Grunde in Übereinstimmung mit Kant, aus dem Glauben heraus, dass man darüber eben auch gar nichts wissen könne – oder in Übereinstimmung mit Ballmer, dass diese „geistige Welt“ nur etwas für niedere Geister ist, die das reine Denken nicht vertragen, sondern noch Bilder dazu brauchen.

Angesichts dessen kann man zunächst nur sagen: Der Glaube, dass Steiners Schilderungen der geistigen Welt dem selbstständigen Denken prinzipiell nicht zugänglich oder annehmbar sind oder dass sie sogar im Grunde unwahr sind, ist ... pure Dogmatik! Dogmatik ist alles, was nicht Erkenntnis, sondern bloßer Glaube ist und dennoch als durchaus allgemeine Wahrheit verkündet wird.

Steiner hat mit Sicherheit nicht zwanzig Jahre etwas offenbart, was unwahr ist oder was dem selbständigen Denken unzugänglich ist. Doch dieses „selbstständige Denken“ muss eben erst stark genug werden, um auch diese Offenbarungen „bewältigen“ zu können. Scheitert es, zeigt sich daran zunächst nur seine Schwäche, die natürlich da sein muss – denn wenn es so einfach wäre, in diese geistige Welt hineinzukommen, gäbe es nicht so viele Bloß-Gläubige (aber auch nicht so viele, die als scheinbar Aufgeklärte diese Offenbarungen ablehnen)...

Kritisches Denken ist durchaus eine Form von reinem Denken, insofern es sich seiner eigenen Voraussetzungen bewusst wird und damit einen sinnlichkeitsfreien Inhalt hat, nämlich sich selbst. Aber was sind denn die eigenen Voraussetzungen? Dazu gehört eben auch die Aufdeckung der eigenen Abneigungen oder Unfähigkeiten, mit einem Inhalt mitzugehen, der dem Denken selbst zunächst Ohnmachtserlebnisse aufnötigt. Die Frage ist dann: Wie verhält sich das (eigene) Denken, wenn es an Erkenntnisgrenzen stößt? Sagt es (bzw. der Denkende) sich: Hier gehe ich nicht weiter, mein selbstständiges Denken kann hier nichts mehr erkennen, ich muss das als bloßen Glaubens- oder Offenbarungsinhalt ablehnen? Oder sagt es sich: Ich verliere meine Selbstständigkeit und meine kritische Kraft keineswegs, wenn ich jetzt weiter mitgehe. Ich gehe mit und bin mir bewusst, dass ich mitgehe; dass es nicht meine eigene Erkenntnis ist, dass ich sie aber dennoch mitvollziehe; ich gehe mit und sehe, was sich weiter ergibt...

Dann kommt eine sehr wesentliche Äußerung Clements:

2. November 2014 18:59 [o]
Ich verstehe das Wort Nietzsches [Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet! H.N.] so: dasjenige, was die Menschen während der letzten paar Jahrtausende mit diesem Begriff meinten: das Umhülltsein, das Geführtwerden, das Inspiriertsein von höheren, geistigen, unbegriffenen Mächten und Kräften, das Wissen um das rechte Handeln durch biologische, soziale, religiöse Instinkte - das ist heute mehr und mehr im Verschwinden. Und es verschwindet, weil der Mensch sich durch seine Entwicklung zum autonomen Individuum, zum selbständig Denkenden und Handelnden immer mehr von den Quellen dieser alten Instinkte abschneidet. Also ja: "Gott" ist "tot"; genauer, die Mordtat dauert noch an, in jedem Akt der Individualisierung und Rationalisierung und Autonomisierung eines Menschen.
Aber das ist recht so. Denn der so Ermordete kann neu auferstehen, im "Ich", durch das "Ich", als "Ich". So verstehe ich auch Steiners auf Nietzsche anspielendes apercu: "An die Stelle Gottes den freien Menschen!" Und so verstehe ich auch das Grundanliegen der Anthroposophie: Gott nicht mehr "überm Sternenzelt" zu denken, sondern da, wo ein Mensch individuell denkt und frei handelt, seinem Leben selbst Richtung und Bedeutung gibt, seine eigene "Religion" und "Ethik" und "Mythologie" erschafft.
So jedenfalls war, soweit ich sehe, die ursprüngliche Idee. Von da aus gesehen wären die 360 Bände der GA zu verstehen als Schilderung der "Auferstehung Gottes" im Bewusstsein Rudolf Steiners, genauer: als Bewusstsein Rudolf Steiners. Wer diese Schilderung dann aber versteht als Schilderung DER geistigen Welt (und eben nicht Steiners geistiger Welt), d. h. als Offenbarung im Sinne der traditionellen Religionen, [...] der sieht meiner Auffassung nach den Wald vor lauter Bäumen nicht, er sieht vor lauter steinerschen Imaginationen die zentrale Botschaft Steiners nicht mehr.
Warum Steiner dieser schon in seiner Zeit so deutlich sich abzeichnenden Gefahr einer Verkehrung seiner Geisteswissenschaft in eine neue Offenbarungsreligion nicht klarer und entschiedener entgegengetreten ist: das ist für mich ein Mysterium.


Merkwürdig unklar bleibt hier der Begriff Gottes. Er verschwindet hinein in ein vages Umhülltsein und Geführtwerden von „Mächten“ und „Kräften“, die wiederum zu „Instinkten“ verschoben werden. Ist „Gott“ nicht schon da tot, wo man gar nicht mehr versteht, was er einmal war? Steiner beschrieb, wie frühere Jahrtausende sehr wohl noch ein ganz anderes Zusammenleben mit der göttlichen Welt hatten, bevor sich das menschliche Bewusstsein davon abtrennte bzw. diese göttliche Welt sich zurückzog. Aber davon wollen die Verabsolutierer des frühen Steiner ja ebenfalls nichts wissen – seltsam, das alles.

Steiner beschrieb natürlich auch, dass diese Individualisierung den Menschen in die volle Freiheit stößt – aber er beschrieb ebenso, dass es nicht allein darum geht, seine eigene „Mythologie“ zu erschaffen, sondern sich wieder in eine freie, selbst gewollte Übereinstimmung mit der geistigen Welt zu bringen. Er betonte also, dass diese geistige Welt, aus der der Mensch hervorgewachsen ist und die ihn um seiner Freiheit willen gewissermaßen ausgestoßen hat, sehr wohl existiert – und dass die Menschheitszukunft davon abhängen wird, dass der Mensch die Verbindung zu dieser Welt nicht ganz verliert, sondern wieder neu findet. Nicht durch subjektive New-Age-Autonomie, sondern durch Geist-Erkenntnis, ein neues Hineinwachsen in diese geistige Welt und eine Hinwendung zu ihr aus freiem Willen.

„Steiners“ geistige Welt ist eben nicht eine subjektive Kreation, sondern sehr wohl DIE geistige Welt, weil Steiner eben fähig war, sich zu DER geistigen Welt zu erheben und von ihr und aus ihr heraus zu sprechen. Auch die Imaginationen sind nicht vor allem „steinersche“, sondern die geistige Welt offenbart sich selbst in Imagination, die gerade nicht subjektiv sind. Subjektiv wird es nur da, wo der Mensch seinen eigenen Anteil am Entstehen solcher Imaginationen nicht bemerkt. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass der Geistesforscher diesen Anteil gerade völlig auslöscht und zum Schweigen bringt. Er hat eben keinen eigenen, subjektiven Standpunkt mehr, sondern lässt die geistige Welt selbst durch sich sprechen – und zwar kritisch, das heißt, in jedem Moment voll seiner selbst und aller Bedingungen dessen, was geschieht, bewusst.

Schließlich schreibt Clement noch:

4. November 2014 11:28 [o]
[...] Ich plädiere mit der SKA für eine Haltung, welche an Steiners Aussagen ohne Vorverurteilung herangeht, mag dieses Vor-Urteil "Schmarrn" oder "Offenbarung" oder "bisher geheimgehaltenes hermetisches Mysterienwissen" heissen.


Möge man Clement beim Wort nehmen können und möge er seine eigenen Denk-Geistes-Kräfte so entwickeln, dass er Steiners Wegen immer weitergehender folgen kann!

Vertrauen, Intellekt und Salonfähigkeit

In seinem Aufsatz „Der Balken im eigenen Auge. Steinergläubigkeit vs. Vertrauen in anthroposophische Texte“ differenziert er zwischen Gläubigkeit und methodischem Vertrauen [o]:

Etwas anderes als "Steinergläubigkeit" ist das "Vertrauen" gegenüber Steiner und seinen Texten [...]. Das hat sicherlich seinen Ort und seine Berechtigung. Aber meiner Meinung nach nur da, wo man mit Steiners Texten meditativ und zu Zwecken der Erkenntnisschulung umgeht. Das scheint mir auch Steiners Verständnis gewesen zu sein. Man kann nicht "den ganzen Tag Hellseher sein", sondern nur in bestimmten Momenten, sagt er ja. Ebenso ist es wohl in seinem Sinne, den Steinerschen Texten nur in den Momenten kritiklos gegenüberzustehen, in denen man sich meditativ in sie vertieft, nicht aber "den ganzen Tag". Als bewusst geübter und künstlich hergestellter Ausnahmezustand hat das Vertrauen und die Hingabe an anthroposophische Texte seinen Ort; wie auch die Hingabe an andere religiöse Texte oder Werke der Kunst, aber solch reflektiertes methodisch-dosiertes Vertrauen ist grundlegend verschieden von unreflektierter únd pauschaler "Steinergläubigkeit".


Dazu ist zu sagen, dass auch unter denjenigen Menschen, die Clement als „Steinergläubige“ bezeichnen würde, sicher sehr viele sind, die viel mehr mit reflektiertem Vertrauen Steiner gegenüberstehen, als Clement meint.

Wo beginnt denn Clements Kritik an Steiner? Auf der anderen Seite: Warum soll man Steiner kritisieren, wo es nichts zu kritisieren gibt? Wenn man seinen Schilderungen über die Erdenentwicklung folgt, bedeutet dieses Folgen doch nicht „kritiklos annehmen“ – es bedeutet einfach nur „nicht abweisen“, warum soll dies kritiklos sein? Wenn man einen Widerspruch zur Naturwissenschaft zu sehen meint oder aber Steiner nur deshalb nicht folgt, weil man seine Darstellungen befremdlich, unplausibel oder was auch immer empfindet, hat man seine Gründe dafür. Ebenso aber haben diejenigen Menschen ihre Gründe, die Steiners Darstellungen nicht (mehr) für befremdlich halten, sondern für plausibel, in sich stimmig, überzeugend und so weiter. Frei nach Clement (an anderer Stelle gegenüber Zanders Vorwurf des Panentheismus bei Steiner) kann man sagen: Entweder sind beide unkritisch oder beide kritisch. Nichts kann beweisen, dass diejenigen, die Steiner nicht folgen, in Clements Sinne kritischer (das heißt ihres eigenen Denken bewusster) sind. Man kann sich seines Denkens sehr wohl bewusst sein, auch erkennen, dass man Steiners Erkenntnisse selbst nicht aktualisieren kann und ihm dennoch folgen, weil man zugleich selbst-kritisch erkennt, dass sie sehr wohl genügend Plausibilität, Überzeugungskraft und innere Wahrheit besitzen, um das Vertrauen zu rechtfertigen, dass das selbstständige Denken ihnen folgt.

Soviel zum „methodisch-dosierten“ Vertrauen. Das selbstständige Denken kann auch bei Anthroposophen sich vollkommen dessen bewusst sein, wieviel Vertrauen man hat und auch, ob dies gerechtfertigt ist. In gewisser Weise ist das (berechtigte) Vertrauen bereits ein eigenes Erkenntnisorgan. Frei nach Pascal kann man sagen: Das Herz hat seine eigene Vernunft bzw. seine eigenen Gründe. Auch darin liegt eine verborgene Objektivität, ein verborgen bereits tätig werdendes Wahrheitsorgan. Das kritische Bewusstsein umfasst mehr als nur den Verstand. Natürlich muss man dieses Vertrauen dann wiederum von bloßer Sympathie zu unterscheiden wissen. Andererseits muss man aber auch fähig sein, einen bloß neutralen Standpunkt hin zu einem wirklichen (noch immer reflektierten) Vertrauen aufgeben zu können...

Im weiteren ereifert sich Clement gegenüber der Polemik gegen den Intellekt, den er umfassend verstanden wissen will:

5. November 2014 21:42 [o]
[...] Wenn ich sage "Intellekt", dann meine ich die grundlegende Tätigkeit des "Ich", durch welche das "Ich" sich selbst und alle seine Akte konstituiert und begleitet. [...]
Dieses Ich kann nun natürlich viele Dinge tun. Es kann mit Hilfe des Verstandes Begriffe miteinander verbinden oder dieselben analytisch auseinandernehmen. Es kann mithilfe der Vernunft Ideen ausbilden und erfassen, die über reine Verstandesbegriffe hinausgehen. Es kann vielleicht auch mittels Imagination, Inspiration und Intuition Erfahrungen machen, die über Verstand und Vernunft hinausgehen. Aber was auch immer ich erlebe; es bleibt ein Erlebnis meines "Ich", welches ohne jegliche intellektuelle Tätigkeit gar nicht da wäre. Mit anderen Worten: auch die sogenannte "höhere Erkenntnis" (wenn es eine solche denn gibt), muss zumindest teilweise immer auch intellektuelle Tätigkeit sein und kann gar nicht von ihr getrennt werden. Auch das meditative, kritik- und analysefreie Sich-Vertiefen in einen Steinertext oder einen Meditationstext ist intellektuelle Tätigkeit.
Wenn nun (Bitte um Verzeihung für die Pauschalisierung, mir ist klar, dass es da Unterschiede gibt) anthroposophischerseits immer gegen die "Intellektualisierung" oder den "Intellekt" gewettert wird, hat man meiner Auffassung nach immer nur die kleinliche Erbsenzählerei im Auge, welche vom Verstand geleistet wird, also nur eine Funktion des Intellekts von vielen. Man verurteilt also gewissermaßen die ganze Familie der intellektuellen Leistungen des Menschen aufgrund der Natur eines einzigen Familienmitglieds. Und auch dessen Herabsetzung ist ungerechtfertigt; denn wer seinen Verstand nicht richtig benutzen kann, der bringt auch in allen übrigen intellektuellen Tätigkeiten nur Unsinn zustande.


Daraufhin wendet er sich gegen den Vorwurf, dass Steiners Hellsichtigkeit in wissenschaftlichen Arbeiten als Unmöglichkeit betrachtet werde:

5. November 2014 23:09 [o]
Das ist ja gerade der Grund, warum mich die Kritik der SKA als anthroposophiefeindlich so wurmt. In meinem Ansatz wird nicht nur Möglichkeit einer Entwicklung übersinnlicher Bewusstseinsformen als Hypothese völlig neutral behandelt; es wird sogar, durch die enge Anknüpfung Steiners an den deutschen Idealismus die konkrete Möglichkeit geschaffen, hier Steiners Theorie der höheren Erkenntnisstufen von der Philosophie her plausibel zu machen und sie an bestehende Diskurse anzuknüpfen. Damit wäre der Idee der "Hellsichtigkeit" die Aura des Exotischen und Abergläubischen genommen und könnte, als eine Frucht der Weiterbildung des deutschen Idealismus, ohne Substanzverlust salonfähig werden. Der einzige Preis, der anthroposophischerseits zu zahlen wäre, wäre der, dass man zugibt: Rudolf Steiner war nicht ein Gott in Menschengestalt, der die Anthroposophie ex nihilo erschaffen hat, sondern ein Mensch, der sie in Anknüpfung an Bestehendes entwickelte. Ein bescheidener Preis, finde ich, gegen den kein Mensch mit gesundem Menschenverstand etwas haben kann.


In der Tat muss man sagen, dass, selbst wenn auch nur der frühe „philosophische“ Steiner einem größeren Publikum bekannt werden würde, damit schon viel erreicht wäre. Diejenigen Menschen, die auf der Suche sind, werden dann schon erkennen, was für ein Denker und spiritueller Lehrer Steiner war. Insofern kann die SKA durchaus Positives leisten. Was durch sie geschieht, hängt eigentlich weniger von der Ausgabe selbst ab, als von den Menschen, die die Diskussion über Rudolf Steiner und sein Denken weiter gestalten werden. Es kann relativ abstrakt und für die weitere Zukunft der Menschheit ohne Bedeutung bleiben, es kann ganz in die Irre gehen – oder es kann auch tiefer in die Anthroposophie und ein Erleben des Geistes hineinführen.

Auch Clements Vorwort zur SKA 7 („Schulungsweg und Psychotherapie“) lässt für den öffentlichen Diskurs durchaus Einiges erwarten. Allerdings wird die Idee eines konkret Geistigen so oder so weiterhin genügend Gegner finden. Das ändert aber nichts daran, dass auch mit diesem Vorwort eine Diskussion eröffnet und begonnen ist.

Andererseits ist die Frage, wie weit Clement mit der Erkenntnis der Eigenständigkeit Rudolf Steiners und dessen Weiterbildung des deutschen Idealismus wirklich zu gehen vermag.

In einem kurzen Bericht zu einer Fachtagung an der Alanus-Hochschule im Juni heißt es (in dem Info3-Artikel, der auch den Auszug aus der Einleitung zur SKA 7 gibt) über Clements Vortrag „Steiners romantischer Doppelgänger“ [o]:

Einflüsse Schellings finden sich laut Clement nicht nur in Das Christentum als mystische Tatsache, sondern auch in den theosophisch-anthroposophischen Grundwerken, wenn z.B. in der Geheimwissenschaft der Eintritt in das Gebiet der Höheren Welten zugleich zu einem Wissen über die spirituelle Dimension der Weltentstehung führt. Ähnlich wie Steiner war auch Schelling der Überzeugung, dass der Mensch als ein noch nicht selbstbewusstes Ich dennoch in der Bewusstseinssubstanz bei der Schöpfung der Welt dabei war. Clement betonte, dass eine ideengeschichtliche Kontextualisierung keineswegs die Bedeutung Steiners mindere, sondern im Gegenteil die übersinnliche Dimension Steiners philosophisch möglicherweise stützen könne.


Die Frage ist doch, wieviel Schelling für Steiners Erkenntnis wirklich herzugeben vermag. Was genau für „Einflüsse“ sind es denn, wenn auch Schelling die „Überzeugung“ hatte, dass der Mensch bei der Schöpfung der Welt dabei war, Rudolf Steiner aber diese Schöpfung bis ins Einzelne hinein beschreibt?

Kann man nicht sehen, wie abstrakt und abwegig eine Betrachtungsweise ist, die hier „Bezüge“ finden oder Steiner sogar „philosophisch möglicherweise stützen können“ will, während man völlig interesselos an Steiners „Geheimwissenschaft“ vorübergeht, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken? Diese Schilderung muss nicht und kann auch nicht gestützt werden – schon gar nicht von Schelling, der allenfalls einer gleichen „Überzeugung“ war!

Gestützt werden kann Steiner nur in den Augen derer, die sich eigentlich überhaupt nicht für ihn interessieren, jedoch bei der Bemerkung, dass auch Schelling doch schon eine solche „Überzeugung“ hatte, zumindest einmal kurz aufhorchen... Auf diese Stütze kann Steiner ebenfalls gerne verzichten! Wenn Menschen nicht bereit sind, in ihm einen Denker zu sehen, der die kraftvollsten Denker des deutschen Idealismus noch potenziert – und so in eine wirkliche geistige Welt vorstößt –, dann wird diese allgemeine Denkfaulheit einfach in den Untergang führen, und es wird kein Schelling davor retten.

Noch bedenklicher ist, was Johann Silberbauer über diese „Fachtagung“ im „Europäer“ 10/2014 referiert. Für ihn klingt aus Clements Vortrag heraus, dass Rudolf Steiner wenig verstanden und sich zumeist bei anderen bedient habe:

Nach etwa 50 Minuten hat er den Anwesenden lebhaft zu beweisen versucht, dass Rudolf Steiner doch nur alles von anderen abgeschaut, abgeschrieben und keine eigenen Ideen gebracht, sondern nur die der großen Philosophen für sich in Anspruch genommen habe. Großer Beifall für Clement.


Als David M. Hoffmann, der Leiter des Rudolf Steiner Archivs, Clement fragte, wie er sich erklären könne, dass Steiner „Die Geheimwissenschaft im Umriss“ nahezu ohne Korrekturen in einem Stück niederschreiben konnte, habe Clement von Selbstsuggestion gesprochen. Später, auf E-Mail-Nachfrage von Silberbauer, erinnert Clement sich nicht mehr, auf diese Frage etwas gesagt zu haben. Er habe auch gar keine Antwort darauf, vielleicht sei es „ein ähnliches Phänomen wie bei Mozarts Partituren“.

Das alles ist dann doch etwas seltsam. Auch vor Mozarts Partituren steht man heute nicht mehr wie vor einem großen Rätsel, es wird einfach hingenommen. Aber es wird zumindest nicht als abgeschrieben hingestellt...

Welche Folgen hat kritische Anthroposophie- und Bibelforschung?

Zur Hellsichtigkeit und zur Frage der geistigen Welt schreibt Clement dann am 7.11.2014 in einem weiteren eigenen Aufsatz „Von Wölfen und Viren. Über Grenzen und Möglichkeiten kritischer Anthroposophieforschung, erläutert am Vergleich mit der kritischen Bibelforschung“ [o]:

Die kritische Anthroposophieforschung hat mit der kritischen Bibelforschung gemein, dass beide nicht darauf aus sind, den Selbstanspruch der Texte, die sie untersuchen, zu erhärten oder zu widerlegen. Ob Rudolf Steiner ein „Hellseher“ war, ob Autoren wie Jesaja und Johannes „Seher“ und „Propheten“ gewesen sind – das interessiert in der kritischen Lektüre nicht und wird auch nicht thematisiert. [...] In der kritischen Forschung geht es daher um die entsprechenden Texte nur insofern, als sie sich in nachvollziehbarer Weise als Produkte ihrer Zeit und ihres Autors verstehen lassen. Denn dass sie dies sind, kann jeder anerkennen. Ob sie darüber hinaus noch mehr sind, wird weder bejaht noch verneint.


Dazu ist zu sagen, dass trotz oder gerade eines Weder-Noch dann doch immer der subjektive Standpunkt einfließt. Und was geschieht, wenn man unter einem solchen Weder-Noch dann einen Text kontextualisiert? Wenn man beansprucht, einen Text und seinen Autor einfach aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, entfällt natürlich die Notwendigkeit, dessen eigenen Anspruch ernst zu nehmen. Stillschweigend ersetzt so der Kontext die Eigenständigkeit. Indem sich der Wissenschaftler also blind für den ausdrücklichen Anspruch eines Textes macht, um „objektiv“ zu sein, verliert er diese Objektivität gerade, denn er blendet den Anspruch aus und nimmt nur den Kontext in den Blick – und versucht ausdrücklich, Text und Autor aus diesem Kontext zu verstehen. Aus einem vielleicht nur neutralen Begleitphänomen werden Zeit und Umwelt so schnell zu angeblichen Ursachen, prägenden Faktoren, wesentlichen Einflüssen und so weiter. Wer definiert, wann eine solche Deutung „in nachvollziehbarer Weise“ geschieht?

Clement weiter:

Die kritische Anthroposophieforschung liest einen Text Rudolf Steiners ähnlich, wie die kritische Bibelforschung heute einen Text von Jesaja oder Johannes liest. Wenn also in diesen Texten dargestellt wird, wie sich dem Verfasser „die Himmel öffnen“ und wie „Engel“ erscheinen, die ihnen eine „Schriftrolle“ überreichten, dann fragt die kritische Bibelforschung nicht "war Johannes tatsächlich ein Seher?" oder "öffnete sich wirklich der Himmel?", sondern sie versteht diese Schilderungen als symbolisch-imaginative Einkleidung, in welche der Autor seine persönlichen Ansichten und Erfahrungen und Intentionen kleidete. Man untersucht die Art und Weise, wie diese Autoren ihre Erfahrungen in Bilder kleideten, spürt den Ursprüngen dieser Bilder nach, untersucht, was diese Bilder in ihrem ursprünglichen Kontext bedeuteten und wie der Verfasser sie benutzt, um seine besondere Botschaft deutlich zu machen. Ferner untersucht sie das soziale, politische und kulturelle Umfeld des Verfassers, um zu verstehen, inwiefern dieses Umfeld den Text geprägt hat. Und vieles mehr. Genau das tut auch die kritische Anthroposophieforschung.


Mit anderen Worten: Die spirituelle Ebene wird ganz ausgeblendet und ausgeschaltet, es geht nur um „persönliche Ansichten“, (Vor-)Erfahrungen und Intentionen. Nicht um die reale spirituelle Erfahrung geht es – sondern um das Subjektive und natürlich die ganze Umwelt.

Die Frage ist nur: Was will man bei Jesaja oder Johannes oder auch Rudolf Steiner an „persönlichen Ansichten“ oder Intentionen erkennen oder herausdeuten? Und welche Kontexte will man feststellen? Wie will man zu Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen kommen? Wenn man „Kontexte“ sucht, wird man solche schon finden – die Frage ist nur, sind es Analogien, unabhängige Parallelen oder wirkliche Zusammenhänge? Und vergleicht man nicht vielleicht Äpfel mit Birnen? Wie kommt diese ganze kritische Kontextforschung zu einer Fundierung und Absicherung ihres eigenen Tuns? Hat sie irgendeine Objektivierung? Oder gilt nur ein allgemeines, vages Gefühl, wann etwas „in nachvollziehbarer Weise“ in Zusammenhänge gebracht werden darf? Gibt es überhaupt einen Bereich, wo es nicht bei einer reinen Deutung und Interpretation bleibt, sondern wo (sichere) Erkenntnis beginnt?

Es ist mehr oder weniger klar, dass dies alles vage Bereiche sind, und dass es in dieser kritischen Wissenschaft immer um unsichere Erkenntnis geht, um letztlich doch immer subjektive Deutungen, die dann vor dem Forum aller anderen Subjekte Zustimmung oder Ablehnung findet. Das ist „Wissenschaft“: ein Diskurs von Subjekten...

Über das Verhältnis von Bibelkritik und Glauben schreibt Clement dann weiter:

Die kritische Forschung hat also nicht die Absicht, demjenigen, für den die untersuchten Texte Quelle spiritueller Inspiration, Objekt der Verehrung oder Gegenstand der Meditation sind, diese Verwendung der Texte auszureden. Eine kritische Lesart eines biblischen Textes nimmt dem Text ja nichts von seinen Qualitäten als Katalysator spiritueller Erfahrung; sie fügt lediglich eine Reihe von Gesichtspunkten hinzu, die bei unkritischer Betrachtung übersehen werden. [...]
Weil dies so ist und allgemein so gesehen wird, wird von Seiten der Kirchen und der Gläubigen im kritischen Umgang mit biblischen Texten heute kaum mehr ein Problem gesehen. Jeder kann ja für sich entscheiden, ob er mit der kritischen Forschung Jesaja als einen Menschen wie ich und du ansieht, der für seine Botschaft nun einmal die literarische Textart der Prophetie wählte, oder ob er ihn als Medium einer höheren Offenbarung betrachtet. Es würde als peinliche Entgleisung gesehen, wenn von Kirchenseite jemand sich über solche Forschung empören würde, wenn jemand etwa über eine „Einsargung“ Jesajas durch die Bibelkritik schimpfte, [...] oder wenn gar die Bibelkritik insgesamt als „vom Teufel inspiriert“ charakterisiert würde. [...]
Heftige und aggressive Reaktionen gegen diese Bibelkritik, wie sie gegenwärtig im Lager orthodoxielastiger Anthroposophen zu vernehmen sind, kennen wir aus der Zeit, als diese Disziplin noch jung war. Später, als man sah, dass diese kritische Theologie dem Glauben nichts anhaben konnte, legte sich die Aufregung.


Das ist eine historische Unwahrheit. Selbstverständlich hat die Bibelkritik den Glauben radikal unterminiert und zerstört! Der Rückgang der Religiosität kann direkt mit dem Aufkommen der Bibelkritik in Zusammenhang gebracht werden – und zwar in alle Richtungen. Wenn Jesaja nur „eine literarische Textart wählte“ oder wenn die zentrale Gestalt des Christentums nur noch „der schlichte Mann aus Nazareth“ sein soll, ist deutlich, dass der Glaube – wenn er überhaupt als solcher bestehen bleibt – eine radikal andere Gestalt annimmt, außer bei den Wenigen, die die Erkenntnisse der Kritik ganz unberücksichtigt lassen können (wobei sie natürlich von allen Übrigen als Ewig-Gestrige betrachtet werden).

Clement schreibt, der Wissenschaftler lasse einfach unberücksichtigt, ob Jesaja ein Prophet war oder nicht. Das ist die gleiche Situation, die schon Laplace schuf, als er bei seinen Überlegungen zum Ursprung der Welt auf die Frage des Königs sagte, wo darin Gott vorkommen: „Sir, ich brauche diese Hypothese nicht.“

Nicht darum geht es, an etwas festzuhalten, was man nicht mehr braucht, was überholt ist oder sich als Illusion erweist. Sondern darum geht es, was geschieht, wenn etwas ausgeblendet wird, weil man ohne dies auszukommen meint. Es entsteht eine neue Wirklichkeit, die tatsächlich ohne dieses Etwas auskommt – nur die Frage ist, ob dieses Neue noch dasselbe ist. Und das ist es nicht. Das Ausblenden von Etwas, das nur noch „Hypothese“ wird, verändert die Wirklichkeit. Es ist lächerlich zu behaupten, dass die kritische Theologie dem Glauben nichts anhaben konnte. Wir stehen heute vor den Scherbenhaufen dessen, was angesichts der kritischen Theologie vom Glauben übriggeblieben ist!

Und warum? Weil die „Ergebnisse“ der kritischen Wissenschaft unbemerkt in die Köpfe eingesickert und zum neuen Glauben geworden sind! Zu dem Glauben, Jesaja ließe sich als Mensch deuten, der einfach eine Textart wählt. Zu dem Glauben, Christus gebe es gar nicht, sondern nur einen Zimmermannssohn. Zu dem Glauben, Steiner sei bloß ein machtbetonter Eklektiker, der vielleicht ein wenig den Idealismus mit der Mystik synthetisiert habe.

Die Wissenschaftler kommen mit ihren Deutungen daher, und die Mehrheit der Menschen kann diese Deutungen gar nicht selbstständig und kritisch beurteilen – und übernimmt sie einfach nach und nach. Das ist Wissenschaft und das ist neues Gläubigentum, auch hier...

Clement weist allerdings darauf hin, dass die SKA Steiners Anspruch übersinnlicher Erkenntnis durchaus mit einbeziehe:

[...] denn die SKA klammert eben nicht den Selbstanspruch der Steinerschen Texte – d. h. aus "übersinnlicher" Erkenntnis hervorgegangen zu sein – aus [...]. Sondern die SKA nimmt diesen Anspruch explizit in die kritische Auseinandersetzung hinein - etwa indem Steiners Aussagen über "höhere Erkenntnis" an bestimmte Traditionen innerhalb des deutschen Idealismus angeknüpft werden.
[...] Die SKA fragt in der Tat nicht, ob Rudolf Steiner Hellseher war oder nicht; sie [...] sucht Steiners Aussagen dazu, sofern sie rational nachzuvollziehen sind, historisch und systematisch an vergleichbare Modelle in der abendländischen Geistesgeschichte anzuknüpfen. [...] Sie [...] versucht ihren Gegenstand also gewissermaßen durch konzeptionelle Rekonstruktion von innen heraus zu verstehen.


Dies ist immerhin mehr als das, was Zander tut, der nur auf „Quellensuche“ geht und bei jeder Ähnlichkeit bereits ein Plagiat vermutet. Clement untersucht also, welche Parallelen und Kontexte Steiners Anspruch auf „höhere Erkenntnis“ im Umfeld der Geistesgeschichte hat und wie Steiner aus dieser heraus zu verstehen ist.

Letztlich ist dies in gewisser Weise verständlich, denn natürlich hat Steiner an den deutschen Idealismus angeknüpft. Er erwähnt immer wieder, wie die Anthroposophie zum Beispiel eine Weiterführung der Goetheschen Erkenntnisart ist, welche Bedeutung Fichte oder Novalis als Vorläufer einer Geisteswissenschaft haben.

Dennoch bleibt dieses Vorgehen von „Wissenschaft“ problematisch. Durch ihr Postulat der „Objektivität“ hat sich diese Wissenschaft an ein Vergleichen, ein Bezüge-Suchen gewöhnt. Es gibt noch keine Wissenschaft für das Individuelle – gerade dies wäre im Grunde schon Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner hat aber immer wieder darauf hingewiesen, dass dies kommen müsse: ein Erkennen des Individuellen. Nicht immer nur ein Herstellen bekannter Bezüge, ein Rückführen auf Bekanntes, ein Reduzieren des Individuellen auf etwas Anderes. Sondern ein durchgreifendes wirkliches Erkennen dessen, was ist, auch wenn es vollkommen individuell ist.

Das ist eigentlich die Fortentwicklung zur Geisteswissenschaft: Vorzustoßen in einen Bereich, wo man sich nicht mehr an äußeren Vergleichen festhalten kann, sondern wo der Forscher selbst der Einzige ist, der erkennen kann – ohne äußere Hilfsmittel, ohne bequeme Analogien und Rückgriffe, ohne Vergleiche. Nur durch eigenes Sich-Anverwandeln, durch Einfühlen, Einleben, echtes Erkennen, eigentlich Kommunion...

Das ist Wissenschaft und Kritik, selbstständiges Denken ohne jede Absicherung! Da braucht man keine „Hypothesen“ weglassen, weil das angeblich unwissenschaftlich sei, sondern da geht man mitten hinein in das Erleben der Individualität mit ihrem eigenen Anspruch. Man erlebt dann wirklich diesen Menschen und untersucht nicht ein Abstraktum, dem man vorher selbst das Wesentliche genommen hat, um ihn aus seiner Umwelt zu erklären... Die heutige Wissenschaft ist eine Wissenschaft der Ent-Individualisierung. Die künftige Wissenschaft ist erkennende Kommunion von Individuum und Individuum unter vollem Erhalt der kritischen Selbstständigkeit...