09.03.2015

Interpretation oder Nachfolge – intellektuelle Wissenschaft oder Geistesweg?

Weitere Gedanken über das Wesentliche, das Unwesentliche und den Berg der Irrtümer.


Wenn ein weit fortgeschrittener spiritueller Lehrer darauf hinweist, dass die Seelen-Stimmung der Ehrfurcht als innere Fähigkeit die Grundbedingung für jede innere Entwicklung ist – und wenn dann Wissenschaftler ohne Ehrfurcht Forschung betreiben, was folgt dann daraus? Dass die Forschung und demzufolge auch die Ergebnisse dieser Forschung nicht auf dem Wege innerer Entwicklung liegen können.

Wenn dieser spirituelle Lehrer darauf hinweist, dass alles auf diese innere Entwicklung ankommt, was folgt dann für jene angedeutete ehrfurchtslose Forschung und ihre Ergebnisse? Dass sie für die eigentliche Menschheitsentwicklung ohne alle Bedeutung ist. Dass sie einen Weg beschreitet, der geradezu in entgegengesetzte Richtung führt.

Es ist ja richtig: im Intellekt sind die Menschen seit dem fünfzehnten Jahrhundert furchtbar weit gekommen. Dieser Intellekt hat etwas schauderhaft Verführerisches, denn im Intellekt halten sich alle Menschen für wach. Aber der Intellekt lehrt uns gar nichts über die Welt. [...] Man steht durch den Intellekt in keiner objektiven Verbindung mehr mit der Welt. Der Intellekt ist das automatische Fortdenken, nachdem man von der Welt längst abgeschnürt ist.
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs, GA 217, S. 37.


Rudolf Steiner hat oft betont, dass die Errungenschaften der Wissenschaft nicht verneint werden sollen. Aber er hat die Gültigkeit ihrer Ergebnisse und ihre ganze Richtung oft genug in Frage gestellt. Die wirklichen Entdeckungen niemals, denn das wäre ja Unsinn. Aber die Interpretationen sehr wohl immer wieder, insofern sie geistig angeschaut einfach nicht wahr waren und nicht die volle Realität trafen – was auch unmöglich ist, wenn das Geistige nicht mit einbezogen wird.

Egal zu welchen angeblichen „Tatsachen“ die heutige Wissenschaft mit ihren Interpretationen zu kommen meint – eine Tatsache ist ihr eigener Lebensnerv: Der Hochmut, der in einem wissenschaftlichen Denken liegen muss, das die Ehrfurcht nicht kennt und nicht verwirklicht. Ehrfurchtslosigkeit ist in ihrem Wesen bereits Hochmut – denn Ehrfurcht und Demut gehören innig zusammen, und wo es an Ehrfurcht und Demut fehlt, ist der Hochmut nun einmal anwesend. Hochmut ist Mangel an Demut. Das heutige „objektive“ Denken kennt keine Demut, deshalb ist es durchtränkt von Hochmut.

Nun gibt es wissenschaftliche Gründlichkeit, die sehr wohl auch eine gewisse Form der „Ehrfurcht“ vor dem Untersuchungsobjekt ist. Da, wo dieses Objekt extrem willkürlich vergewaltigt wird, fehlt sogar diese Form der „Ehrfurcht“ noch. Aber wissenschaftliche Gründlichkeit hat in tieferem Sinne mit Ehrfurcht noch nichts zu tun. Sie ist zwar zunächst eine Schule der Selbstlosigkeit im Denken, insofern die Menschheit durch die Wissenschaft gelernt hat, von willkürlichen Meinungen, Standpunkten und Dogmen abzusehen. Doch wo dieses wissenschaftliche Denken und damit die Menschheit mit ihrem heutigen Denken nunmehr überhaupt steht, das wird nicht durchschaut, denn dafür müsste man einen höheren Standpunkt einnehmen können.

Die Menschheit und auch die Wissenschaft hat heute kein reines Denken. In das scheinbar objektive Denken mischt sich zugleich die Ehrfurchtslosigkeit, das heißt der Hochmut. Auf diese Weise wird das Denken zum kalten, aber hochmütigen Intellekt. Es ist scheinbar objektiv, aber dadurch nicht unbedingt wahr. „Ob-jektiv“ heißt „entgegengeworfen“. Der kalt bleibende Intellekt wirft das zum Objekt gemachte Wesen der Untersuchung vor sich hin und behandelt es als wirklich totes Objekt. Alle Ehrfurcht gegenüber dem Wesen, alle Ehrfurcht im eigenen Denken und inneren Tun wird ausgeschlossen – und so strömt Hochmut hinein: objektiver Hochmut. Selbstverständlich stellt sich der kalt bleibende Intellekt über dasjenige, was er selbst getötet hat.

Wir brauchen nur selbst einmal versuchen, innerlich die Stimmung der Ehrfurcht wirklich real zu machen und dann nachzuempfinden, was dies in Bezug auf das Wesen bedeuten würde, dem wir uns dann wahrnehmend zuwenden würden. Und wir brauchen nur einige wenige Sätze aus Rudolf Steiners Werk „Wie erlangt man...?“ zu nehmen:

Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat sehen können. Er fängt an zu begreifen, daß er vorher nur einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt, zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher.
GA 10, S. 24.


Wenn man allein nur diese Worte und seine eigene Erfahrung dazu ernst nimmt, und man vor den Konsequenzen dessen nicht zurückscheut, ist Zweierlei ganz klar: Forschung ohne diese Ehrfurcht zeigt nicht das Wesentliche. Damit aber offenbaren ihre Ergebnisse etwas völlig Unwahres – denn sie geben dem Unwesentlichen den Anstrich eines angeblich Ganzen oder zumindest Wesentlichen.

Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob denn solche Forschung nicht vielleicht doch das Wesentliche schon zeigen könnte und der geistige Blick nur noch Unwesentliches ergänzen würde – solche Gedankenspiele sind absolut unsinnige Rettungsversuche desjenigen Intellekts, der nicht glauben will, dass er in seiner ganzen Art eben gerade das Wesentliche übersieht. Steiner hätte niemals ein ganzes Lebenswerk dem geistigen Entwicklungsweg geopfert, wenn es in diesem nicht ganz und gar um das Wesentliche gehen würde, während gerade das gewöhnliche Denken im Unwesentlichen verhaftet bleibt.

Dazu kann man auch eine Äußerung Zeylmans van Emmichovens nehmen, die übrigens auch aller unwahren „Kult-Diskussion“ um Rudolf Steiner ein Ende machen könnte. Er berichtet über sein erstes Gespräch mit Rudolf Steiner, dem er mit einigen Befürchtungen entgegengesehen hatte:

Bei [meinem] Gespräch hatte ich zu meinem Erstaunen die größte innere Freiheit erlebt, die ich je einem Menschen gegenüber empfunden habe. Und dabei stellte man sich doch vor, man komme zu Rudolf Steiner, dem großen Eingeweihten, der schaue durch einen hindurch, man stehe vollkommen durchsichtig vor ihm – und erwartete eine große Befangenheit. Zu meinem Erstaunen war es genau umgekehrt: ich fühlte mich freier als je, wie aufgenommen in eine andere Welt, in der nur das Wesentliche zählt; in der das, was man sonst für wesentlich hält, als unwesentlich wegfällt.
(aus: Peter Selg: Rudolf Steiner – zur Gestalt eines geistigen Lehrers. Verlag am Goetheanum, 2007, S. 54).


Was heißt das alles? Die ganze wissenschaftliche Forschung rund um Rudolf Steiner hat wahrscheinlich auch das eine oder andere Gute und bringt etwas zutage, was man bisher noch nicht wusste. Im Großen und Ganzen aber kann sie nur Irrtümer über Irrtümer anhäufen (ein scharfes Wort, das Steiner selbst den deutschen Idealisten entgegenwarf, was man nun wieder ihm entgegenhält, weil er doch später so viel Positives über den Idealismus sagte etc.). Hören wir einmal Steiners eigene Worte aus „Wahrheit und Wissenschaft“:

Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten dieselben Irrtum auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit.


In Bezug auf die heutige Wissenschaft kann man auch sagen: Für all ihre Wahrnehmungen haben diese Forscher immer irgendwelche Deutungen, aber was ihnen fehlt, ist die Kenntnis der reinen Ideenwelt und der geistigen Welt überhaupt – und so haben sie niemals die wahren Ideen zu ihren Eindrücken und Ausgangspunkten ihrer Forschung. Zu diesen fehlt dann unter anderem auch der Mut – aber auch die Demut. Beides wird von demjenigen verdrängt, was die eigentlich reine Intelligenz zu dem kalten, profanen, toten und ertötenden Intellekt macht: Geistesfurcht und Hochmut.

Der Intellekt, der durch die Schule der Wissenschaft gegangen und in einer bestimmten Hinsicht dadurch selbstlos geworden ist, könnte wirklich rein werden, wenn er sich noch eine Stufe weiter erheben könnte. Dann aber würde er den ersten Schritt zu seiner wirklichen Spiritualisierung machen. Diese Erhebung des Intellekts zu einem Wiederfinden der reinen Intelligenz ist möglich, wenn er den in ihn eingezogenen Hochmut loslässt und stattdessen zu einem reinen Leben erwacht, das er jetzt überhaupt noch nicht hat. Den Hochmut und das Tote, Tötende müsste er überwinden – und zu einem wirklichen Lebendigwerden und zu einer tiefen Ehrfurcht müsste er finden. Die Ehrfurcht kann geübt werden – aber sie kann auch eine natürliche Folge eines immer reiner werdenden Denkens sein. Fest steht, dass das reine Denken auch die Ehrfurcht nach und nach ganz in sich aufnehmen wird.

Wie würde ein reines Denken mit dem Christus-Wesen umgehen, wie mit den Evangelien? Könnte man selbst nur das Wort „umgehen“ behalten? Umgehen wäre dann etwas sehr Innerliches: man geht mit etwas um, man trägt sich mit etwas, man trägt etwas im Herzen – und auf einmal ist es umgekehrt: die Evangelien, das Christus-Wesen geht mit einem um, nicht umgekehrt; etwas geschieht mit einem...

Wie dagegen geht die heutige Forschung mit dem Christus-Wesen und den Evangelien um? Es sind Objekte – und so wird mit ihnen umgegangen. Hier kann man die eklatante Differenz zwischen einem reinen Denken und einem Ringen um ein heiliges Begreifen einerseits und einem willkürlich zugreifenden, interpretierenden Denken andererseits in aller erschütternder Deutlichkeit empfinden.

Und noch einmal kann gesagt werden: Selbstverständlich fördert auch die unheilig-hochmütige Forschung manche Wahrheit zutrage – und doch tut sie dies inmitten eines Berges von Fehlinterpretationen, Unwahrheiten und Irrwegen (und doch absoluter Selbstgewissheit...).

Dieses hier am allerklarsten zutage liegende Beispiel kann man auf alles übertragen – und natürlich auch auf den Umgang mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie. Wie wird mit ihm und ihr umgegangen? Gewaltsam und hochmütig – oder so, dass sie verwandelnd wirken können? Kann man auch einmal lernen, sich selbst zum Objekt zu machen, nicht immer nur Anderes? Und kann man lernen, dabei in Lebensprozesse hineinzukommen? Kann man lernen, eine Forschung zu betreiben, in der die Ehrfurcht unabdingbar ist, weil gerade sie sehend macht?

Das wäre ein Ernstnehmen der Anthroposophie, das wäre wirkliche „Nachfolge“. Wollte Rudolf Steiner allein bleiben? Selbstverständlich nicht! Erweisen wir ihm einen Dienst, wenn wir den gleichen Fehler wieder und wieder machen? Wenn wir im toten Intellekt verbleiben, im unverwandelten Denken, das per se von Hochmut und sogar Tod durchdrungen ist, ob dies nun bemerkt wird oder nicht?

Die ganze Diskussion um die SKA ist in letzter Hinsicht erschütternd müßig – sie ist unwesentlich. Man möchte das Christus-Wort anführen: „Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist.“ Jedem das Seine. Wer meint, im toten Buchstaben das Leben zu finden; wer meint, in den Tiefen seines unverwandelten Intellekts wesentliche Erkenntnisse oder Interpretationen über Rudolf Steiner oder die Anthroposophie finden zu können, möge dies tun. Die SKA ist mit ihren Vorworten und Einleitungen in der Welt und wird sich vervielfachen. Möge sie dies tun. Das römische Reich war auch in der Welt. Der Dogmatismus im Zusammenhang mit dem Christentum war und ist auch in der Welt. Die Herrschaft des toten Intellekts wird sich immer weiter ausbreiten – und immer weniger wird man überhaupt noch verstehen können, worauf es ankommt, wenn man sich nicht auf den Weg macht. Die äußere Welt einschließlich der Wissenschaft, der Blogs und sogar der „anthroposophischen“ Zeitschriften wird den Blick auf die eigentliche Aufgabe immer mehr verhüllen. Irgendwann wird man vergessen, was man überhaupt einmal gesucht hatte.

Es sei denn, Geistesforschung und spirituelle Entwicklung wird so ernst genommen, wie sie genommen werden muss, um den Niedergang des Intellekts grundlegend umzuwenden, in eine völlig andere Entwicklung hinein. Dass die Vertreter der heutigen Wissenschaft dies nicht vermögen und auch gar nicht wollen, ist selbstverständlich. Dass es zumindest einige Menschen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen, erkennen wollen werden, bleibt die fortwährende Hoffnung...