05.04.2015

Auferstehung

Gedanken zum Ostergeheimnis und zum künftigen Zeitalter der Brüderlichkeit.


Inhalt
„Es lebte Christus einst auf Erden...“
Von der Läuterung des Denkens
Logos-Licht und Ich-Hochmut
„Ich habe dich empfunden...“


„Es lebte Christus einst auf Erden...“

Ostersonntag! Heute ist der Tag, an dem in innerlicher Erlebens-Feier der Auferstehung des Christus-Wesens zur Zeitenwende gedacht und zugleich Seine Gegenwart hier und jetzt geahnt und gewusst wird – von all jenen Menschen, die in dieser innerlichen Weise eine Verbindung zu Ihm empfinden und suchen.

Wieviele sind dies? Es sind vielleicht immer weniger, aber die Frage ist: Kann es auch einmal wieder anders werden?

Es geht nicht um eine äußere Missionierung für ein längst nicht mehr verstandenes Christentum, sondern um die menschheitliche objektive Frage, ob die Menschheit einst wieder eine Beziehung zu einem realen, kosmischen Wesen finden kann, das sich mit seinem ganzen vollen Wesen seit der Zeitenwende mit der Erde und mit dieser Menschheit verbunden hat.

       Es lebte Christus einst auf Erden
       Und dieses Lebens Folge war...

In diesen und den folgenden Worten aus Rudolf Steiners Mysteriendrama „Die Pforte der Einweihung“ lebt das ganze erneuerte, reale Christentum – das in nichts anderem besteht als in einem wirklichen Erleben und Begreifen jenes Wesens, das uns so nahe ist und zu dessem wirklichen Erleben und Begreifen die Anthroposophie das Tor weit aufgestoßen hat. Dies ist das große Menschheitsgeschenk der Anthroposophie: ein Auge, ein Organ zu sein für das Erkennen jenes allerhöchsten Wesens, in dessen Anschauen der Mensch gerade sein wahres Menschentum finden wird.

Christentum ist ein reines Wachstums- und Wandlungs-Mysterium. Es ist das Mysterium einer wachsenden Beziehung zu jenem Wesen – und das Mysterium, dass gerade dies den Menschen fortwährend wandelt, seinem eigenen wahren Wesen entgegen. Es ist das Mysterium, dass der Mensch gerade dies sucht, dass es seine eigenste innerste Sehnsucht ist, dass sich all dies in voller Freiheit vollzieht – weil der Mensch fortwährend empfindet, wie sehr er zu seinem eigenen wahren Menschentum unterwegs ist. Er selbst geht jenem Wesen entgegen – und er selbst wird immer mehr wahr.

„Siehe, wie fein und lieblich ist's, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen!“

So lautet der 133. Psalm, und wenn man einmal tief den Inhalt dieser Worte empfindet und sie vom Konkreten in ein Allgemeines erhebt, dann sind sie wie eine Verheißung auf ein Zeitalter der wirklichen Brüderlichkeit. Und gerade ein solches Zeitalter kann man vorausahnen, wenn man sich auf die Wirklichkeit der Anthroposophie einlässt.

Die Anthroposophie und das Christus-Wesen – sie geben dem Menschen sein wahres Menschentum ... wenn er es denn empfinden lernen wollen würde! Wenn er zunächst einmal alle Vorurteile ablegen wollen würde: alle Vorurteile von sich selbst, von der Anthroposophie und von Christus, dem Christentum und auch allem anderen.

Von der Läuterung des Denkens

„Siehe, ich mache alles neu!“ – hat nicht genau dies jenes Wesen gesprochen? Wie wenig ernst nimmt man so etwas! Wie wenig ist man bereit, sein eigenes Denken, seine eigenen Vorstellungen zu verändern oder einmal abzulegen, damit sie verändert, verwandelt wiederauferstehen könnten, indem man einmal alles ganz neu, ganz eigen, ganz lebendig fasst oder zu fassen versucht!

Die Anthroposophie ist gewissermaßen die Sprache des Christus-Wesens. Sie schildert die volle Wirklichkeit des Geistigen – und sie kann den einzelnen Menschen zu dieser vollen Wirklichkeit führen.

Dies beginnt mit einer Verwandlung und Läuterung des Denkens. Schon immer haben Menschen gewusst, dass vor einer Verwandlung oder auch Einweihung eine Läuterung steht – und dass man nur unrechtmäßig zu etwas kommen kann, wenn man nicht vorher zu einer tiefgreifenden Läuterung bereit ist. Und in Wahrheit ist die Läuterung ja bereits der erste Teil der Wandlung. Denn das Geläuterte ist bereits das Verwandelte – und dieses kann dann weitergehen, immer neuen Wandlungen entgegen...

Die erste Läuterung des Denkens besteht darin, dass der Mensch den „guten Willen“ fasst, wirklich zu denken. Das Denken muss sich mit wirklichem Willen durchdringen. Der Mensch muss anfangen, willensstark, aktiv zu denken. Dann kann ein zweiter Schritt der Läuterung hinzukommen: das Erkennen des Unterschiedes zwischen Worten, Vorstellungen und Begriffen.

Das gewöhnliche Denken hantiert wie von selbst mit Worten, an die sich mehr oder weniger deutliche Vorstellungen knüpfen und geknüpft haben. Doch der Mensch kann im Denken dazu kommen, wieder zu erleben, was mit den Worten eigentlich gemeint ist – um welche Realität es geht. Diese Realität ist eine wirkliche – sie geht über die abbildhafte Vorstellung weit hinaus, und sie kann nur rein geistig, in einem wirklich real werdenden, aktiven Denken erfasst werden. Der Begriff des „Tisches“ etwa geht über alle passiven und konkreten Vorstellungen von Tischen weit hinaus, er erfasst das Wesen aller Tische, er selbst ist das Wesen des Tisches.

Wenn der Mensch lernt, in einem aktiven Denken wirkliche Begriffe zu erfassen, und dann dieses Denken und seine eigene innere Aktivität zu erleben, kommt er in ein ganz neues Bewusstsein hinein. Dies ist eine wirkliche Auferstehung des Denkens – und diese Auferstehung hat weitere Stufen...

Hier, wo der Mensch in das Element des Denkens wirklich hineinkommt, betritt er das Reich des Geistes auf seiner ersten Stufe. Das Denken ist dem Menschen als eine Fähigkeit gegeben – und es ist ein Mysterium. Denn im Denken und durch das Denken ist der Mensch ein Erkennender. Es ist das heilige Element des Logos selbst. Im Denken und durch das Denken kann der Mensch Alles in der Welt gleichsam von innen ergreifen – wenn er nur lernt, das Denken selbst zu einer innersten, aktiven, auferstehenden Qualität zu machen. Dann wird das Denken selbst eine Realität, eine Art geistige Substanz – und diese ist das Licht, das alle Dinge erleuchtet.

Logos-Licht und Ich-Hochmut

In diesem Element gründet auch die wahre Brüderlichkeit unter den Menschen. Wenn das Denken sich läutert, um immer reiner zu werden, um immer reiner das wahre Wesen der Dinge zu erfassen, um immer weniger bloße Vorstellungen und bloß persönliche Urteile in dieses Denken hineinzutragen – dann wird dieses Denken dasjenige Element, das der Urquell aller Verständigung sein wird. Das Denken selbst ist nichts anderes als Verstehen, Erkennen – und ist dies um so reiner, je reiner es selbst ist. Im Erkennen gibt es keinen Streit. Streit gibt es nur da, wo nicht völlig erkannt wird und wo persönliche Standpunkte vertreten werden. Wird das Erkennen immer vollkommener, so versiegt die Quelle des Streites, denn die dunklen Stellen der Irrtümer, bloßen Vorstellungen und einseitigen Sichtweisen und Standpunkte verschwinden.

Dies ist zunächst ein Ideal – aber die Verwirklichung jedes Ideals beginnt mit den ersten Schritten. In Bezug auf das Denken umfassen diese das Streben nach seiner Läuterung von allem, was dem reinen Logos-Licht im Wege steht.

Es kann eine Begeisterung entstehen, eine Sehnsucht nach dieser Läuterung. Eine immer mehr wachsende Liebe zu einem Denken, das von Begriff zu Begriff fortschreitet, ohne dass die Seele ihre eigenen Meinungen, Urteile, Spott oder Hochmut hineinmischt. Flapsigkeit, Jovialität, Oberflächlichkeit, Suggestion, Vereinnahmung oder Unehrlichkeit werden immer mehr als etwas empfunden, was das Denken verunreinigt, ja entheiligt. Das Hin-und-Herspringen, das Ungründliche, das Seichte wird immer mehr als etwas Schmerzliches empfunden.

Die Seele, die auf diese Weise lernt, das Licht des Logos zu lieben und zugleich die Läuterung zu lieben, die notwendig ist, um sich Ihm zu nähern, empfindet, dass alles, was diese Läuterung zunehmen lässt, dem Christus-Wesen näher bringt. Gerade diese Läuterung ist es, die die Seele immer geistähnlicher macht.

Gerade dies wird von den modernen Leugnern des Christus unter den „Anthroposophen“ verspottet. Diese Läuterung des Denkens wird verspottet als „allzuernst“ oder als „religiös“. Sie vertreten eine „aufgeklärte Anthroposophie“, in der es keine Wesen gibt (Felix Hau: „Gott und seine lächerliche Combo“) – nur das Selbst, das Ich, individuell und universell. Sie haben kein Bewusstsein davon, mit welchem Hochmut sie ihre armselige Weltsicht vertreten und verbreiten – und sie haben nicht das geringste Organ für die wahre Würde und Größe des Menschenwesens. Nicht klein wird der Mensch durch die unendlich differenzierte geistige Welt und die Existenz des Christus-Wesens – sondern der Mensch wird selbst unendlich groß. Dies kann man aber nur empfinden, wenn man ein Empfinden für diese heilige Läuterung hat, mit der die Verwandlung des Denkens beginnt.

Der Mensch, der nur sich selbst in den Mittelpunkt stellt, weil er nichts anderes kennt und nichts anderes denken will, kann überhaupt keine Ehrfurcht mehr empfinden – wovor auch? Er begegnet ja überall nur sich selbst. Wer aber die Ehrfurcht in der Seele erwecken kann, der lernt auch das Geheimnis der Wandlung kennen. Denn die Ehrfurcht ist bereits die erste und größte Wandlung, die es gibt in einem Zeitalter, in dem der Hochmut die Seele so tief durchdrungen hat. Und mit dieser Ehrfurcht kann dann auch ein Verständnis für die Läuterung erwachen. Ohne Ehrfurcht kann auch so etwas wie „Läuterung“ überhaupt nicht erfasst und begriffen werden – es kann nur Spott erregen.

„Ich habe dich empfunden...“

Wenn aber die Ehrfurcht und die Läuterung und eine zunehmende Liebe zu dieser Läuterung erwachen, dann vermag der Mensch auch immer mehr zu empfinden, was im Denken wirklich waltet und immer mehr zu walten beginnen kann, wenn das Denken immer reiner und reiner gemacht wird.

Der Mensch empfindet dann das Wesen des Logos im Denken. Das Wesen des Logos, das Christus-Wesen, kann im Denken immer mehr als anwesend empfunden werden, wenn die Liebe zu einem reinen, wahrhaftigen, behutsamen, gründlichen und innig-aktiven Denken so stark wird, dass das Denken rein werden kann von allem, was im gewöhnlichen Denken dieses Erleben völlig verdeckt, weil es dieses gewöhnliche Denken flach und vage macht, dazu auch frivol und oberflächlich, allzu persönlich und vieles andere. So, wie der Diamant geschliffen werden kann, so kann auch das Denken rein gemacht werden. Und so wie der Diamant dann in reinem Glanz erstrahlt – so kann auch das reine Denken zu leuchten beginnen. Dieses Licht aber ist lebendig, und es ist die Offenbarung eines Wesens...

Je mehr der Mensch im Denken aufersteht – und diese Auferstehung beginnt mit der Läuterung des Denkens –, desto mehr kann die Realität des Auferstandenen erlebt werden. Ein Gotteswesen hat sich mit „der Menschen Werden“ verbunden, und es ist dem Menschen so nah wie nur möglich...

Wenn dies mehr und mehr eine lebendige, wissende Ahnung, eine wenn auch noch leise, doch aber bereits innig empfundene Gewissheit wird, so kann man auch wieder aus tiefem Herzen mit Novalis singen:

       Ich habe dich empfunden,
       O! lasse nicht von mir;
       Laß innig mich verbunden
       Auf ewig sein mit dir.
       Einst schauen meine Brüder
       Auch wieder himmelwärts,
       Und sinken liebend nieder,
       Und fallen dir ans Herz.

Das Zeitalter der Brüderlichkeit – es beginnt erst, wenn das Denken rein werden und auferstehen wird. Dann aber wird es beginnen...