2015
Wie die geistige Welt heute geleugnet und missdeutet wird
Eine kleine Schule des klaren Denkens und Unterscheidungsvermögens.
Inhalt
Clements kleines Kochbuch: Die Zutaten
Selektive Wahrnehmung und nichtssagende Dialektik
Abbruch der Diskussion mit völlig irrationalem Hintergrund
Der Egoismus in der Philosophie
Das Ich und das Christus-Wesen
Clements kleines Kochbuch: Die Zutaten
Christian Clement, der Herausgeber einer „kritischen Steiner-Ausgabe“ (SKA), vertritt den Anspruch, eine Deutung der Anthroposophie Rudolf Steiners zu liefern, die das bisherige Verständnis als „naiv“, „religiös“, „unkritisch“ usw. entlarvt.
In „akademisch korrekten“ Sonntags-Statments behauptet er zwar nur, eine bestimmte Deutung zu geben, in einer Vielzahl anderer Äußerungen wird jedoch klar, dass er von der Naivität und dem religiös-unkritischen Charakter anderer Anschauungen fest überzeugt ist.
Bereits hier liegt Clements erster unüberwundener Dualismus und gravierender Mangel an Dialektik: Er macht sein eigenes Unverständnis zum Maßstab und glaubt, Steiners Aussagen über die geistige Welt als einer eigenständigen Realität seien nur dann ernst zu nehmen, wenn man in einem naiven Realismus verbleibe. So kommt er über ein Schwarz-Weiß-Denken nicht hinaus: Für ihn gibt es zwischen seiner eigenen Deutung und einem „naiven Realismus“ nichts Drittes. Dass jede Naivität verschwindet, wenn man etwas versteht, unterschlägt er.
Was sind Clements weitere Voraussetzungen? Er behauptet, der Mensch begegne im Erleben einer geistigen Welt immer nur seinem eigenen Wesen, als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes – nach Steiner. Was er für eine solche These jedoch bei Steiner als Grundlage zu finden meint, sind Textstellen, die er massiv umdeutet.
Da, wo Steiner davon spricht, dass der Mensch im Denken ein universelles Ich ist – weil nämlich das Denken selbst etwas universelles ist, was jenseits von Subjekt/Objekt usw. liegt, auch diese Begriffe überhaupt erst schafft –, reißt Clement dies aus dem Zusammenhang, und schon hat er sein „universelles Ich“, das dem transzendentalen Ich der deutschen Idealisten (Fichte, Schelling etc.) entspricht.
Mehr braucht Clement überhaupt nicht für seine Thesen: Es reicht ihm, das Denken zum „Universal-Ich“ umzudeuten, schon hat er etwas, wovon Steiner nie gesprochen hat, aber das stört ihn nicht. Clements „Steiner“ ist fertig!
Fortan kann Clement alle, die mit Steiners Schriften sorgsamer umgehen, „naive Realisten“ nennen. Natürlich unterstellt er ihnen bequemerweise, dass sie Steiners Schilderungen wörtlich nehmen und nicht wüssten, dass Imaginationen bildhafte Ausdrücke sind. Dann schiebt er Steiner selbst auch noch falsche Aussagen in den Mund (sowohl die imaginative als auch die inspirative Erkenntnisstufe seien reine Halluzinationen). Von der Erkenntnisstufe der Intuition hat er überhaupt kein Verständnis, nicht mal ein falsches – also unterschlägt er diese ganz. Ohne all dies kann er Steiner ohnehin viel besser deuten!
Die ganze, simple Clementsche Dialektik basiert also auf einem herbeigezauberten „Universal-Ich“ (das zugleich geheimnisvolle Beziehungen zum Individual-Ich habe) und der Diskreditierung aller anderen Anschauungen.
Wenn Anthroposophie so einfach wäre! „Akademische“ Deutung ist offenbar so einfach...
Man braucht dann weder einen Schulungsweg, noch gesunden Menschenverstand, noch Ehrfurcht vor Wahrheit und Erkenntnis, noch Christus oder ein Ernstnehmen irgendwelcher Aussagen Steiners nach 1902, und seien sie schriftlich (wie etwa die „Leitsätze“). Das ist alles „viel zu kompliziert“.
Selektive Wahrnehmung und nichtssagende Dialektik
Selektiv überliest man dann auch alles, was darauf hinweist, dass dem Menschen nicht immer nur sein eigenes Wesen entgegenkommt, sondern dass dem „freien Erbilden“ des Menschengeistes eine geistige Welt entgegenkommen kann. Konfrontiert mit solchen Aussagen, nimmt man einfach nicht mehr Stellung!
Man überlässt die Stellungnahme lieber seinen Anhängern – etwa in Gestalt der „Egoisten“-Vizeblogmasterin Ingrid H., die dem, der all die hier nur angedeuteten und noch andere Argumente vorgebracht hat, vorwirft, er würde „selektiv wahrnehmen“ und gar nicht zur Kenntnis nehmen, was Clement und sein Anhänger (oder soll man sagen Vorläufer?) Felix Hau vorbrächten.
Wohlgemerkt: Die „selektive Wahrnehmung“ wird jemandem vorgeworfen, der stets auf alle Thesen und Argumente eingegangen ist, nicht etwa jenen, die dies nicht getan haben, sondern sich zu allen fragwürdigen Punkten ihrer Thesen plötzlich nicht mehr äußern. Aber dafür ist man ja Anhänger dieser Thesen, dass man dies alles selektiv übersehen darf.
Mir also wird selektive Wahrnehmung vorgeworfen – weil Clement die Existenz des „Engels“ zum Beispiel doch gar nicht definitiv leugne, sondern ihn als einen „Aspekt“ des konstruierten Universal-Ich weiterhin beschränkt gelten lässt und eine alles-und-nichts-sagende Dialektik entfaltet:
"Können Sie den Gedanken fassen, dass eine Offenbarung, die ein "Engel" Ihnen aus der "geistigen Welt bringt", eigentlich eine Offenbarung ist, welche Sie der Welt bringen?"
"Aus der Perspektive des Ich erscheint der Engel (und die gesamten Hierarchien), wie alles, was dem Ich bewusst werden kann, als Hervorbringung des Ich. Aus der Perspektive des Engels bzw. der Hierarchien insgesamt, erscheint das Ich (wie auch alles andere in dieser Welt) als Hervorbringung des Engels."
"DAS ICH (insofern es Individual-Ich ist) WIRD VOM ENGEL HERVORGEBRACHT. (Genauer: vom Universal-Ich, wobei das Bild des "Engels" Verbildlichung für einen gewissen Aspekt der universellen Schöpfungstätigkeit ist.) Und zugleich: DER ENGEL WIRD VON ICH (insofern es universelles "Ich" ist) HERVORBEGRACHT."
Wenn man dieser leeren Dialektik nicht zu folgen gewillt ist, weil bei Rudolf Steiner nichts dergleichen zu finden ist, wird einem also „selektive Wahrnehmung“ vorgeworfen. Mit Selbst-Immunisierung und Unterstellungen konnten immer schon Diskussionen erfolgreich abgebrochen werden...
Abbruch der Diskussion mit völlig irrationalem Hintergrund
Später stößt man dann auf Äußerungen der Vizeblogmasterin, die offenbaren, woher ihre Unterstellungen entspringen. Im eigenen inneren Erleben hörte sie im Laufe ihres Lebens während einer viele Jahre dauernden Krankheit bisweilen stärkend ihren Namen ausgesprochen. Sie erlebte dies ganz im Einklang mit ihrem eigenen höheren Wesen. Und nun schreibt sie:
Insofern begreife ich gut, wenn jemand den „Engel“ als „vom Ich hervorgebracht“ sieht und gleichzeitig das „Ich“ als „vom Engel hervorgebracht“, und ich habe auch keine Schwierigkeit damit, das „Ich“ sowohl als „Wesen“ als auch als „Tätigkeit“ charakterisiert zu finden. Für mich stimmt beides. [o]
Dass das geschilderte Erlebnis überhaupt nichts mit Clements Dialektik zu tun hat bzw. hergibt, ja, nicht einmal deutlich ist, ob es sich hier um ein „Engelwesen“ gehandelt hat, entgeht ihr völlig. Selbst wenn sie dieses Stimme-Wesen gleichzeitig als „höheres Ich“ und „Engel“ deuten würde – wer hat in dieser Situation überhaupt wen oder was „hervorgebracht“? Es war ein Erlebnis der Stärkung, nicht der Hervorbringung! Das Stimme-Wesen war plötzlich da – und wohl kaum vom gewöhnlichen Ich(-Bewusstsein) hervorgebracht.
Meine Fragen an Clement haben mit der Frage zu tun, welchen Existenz-Charakter dasjenige hat, was Rudolf Steiner als geistige Welt geschaut und geschildert hat. Wie also zum Beispiel das, was Rudolf Steiner als „Engelwesen“ bezeichnet und in seinem Wesen und seinen Taten beschreibt, sich zum Geistwesen Rudolf Steiners selbst verhält.
Rudolf Steiner sagt: das unsterbliche Geistwesen des Menschen wird von den höheren Wesenheiten getragen und ist von ihnen abhängig. Das Ich des Menschen ist eine Schöpfung der höheren geistigen Wesen.
Clement sagt: Es gibt nur ein Ich: Individual-Ich und Universal-Ich zugleich. „Seele“, „Gott“, „höhere Wesen“ usw., das sind alles nur Worte für Aspekte des einen. Der „Engel“ ist eine Schöpfung des Universal-Ich, im Grunde nur ein Aspekt von dessen Tätigkeit. Das Universal-Ich schafft den Engel, das Individual-Ich und auch alles andere. Da dies alles aber der Mensch selbst ist, kommt dem Menschen eben immer nur sein eigenes Wesen entgegen – in Gestalt von was auch immer.
Meine Feststellung ist, dass all dies bei Steiner nicht im Geringsten zu finden ist – im Gegenteil.
Festzuhalten bleibt aber nochmals, dass
(a) Clement meine Fragen nach dem Existenz-Charakter von Ich und Engel mit seiner expliziten Aussage über das von ihm konstruierte „Universal-Ich“ beantwortet hat;
(b) Ingrid H. mir „selektive Wahrnehmung“ vorgeworfen hat, weil ich Clements Thesen mitnichten einleuchtend oder auch nur irgendwie mit Steiner zusammenhängend finde;
(c) sich später herausstellt, dass Ingrid H. Clements Thesen „stimmig“ findet, weil sie sie mit einem persönlichen Erlebnis zusammenbringt, bei dem völlig unklar ist, ob überhaupt ein Engel-Wesen daran beteiligt ist, bei dem aber definitiv nicht von einem „Universal-Ich“ die Rede war;
(d) ihr Erlebnis unmittelbar durch Rudolf Steiner selbst verständlich werden kann, wofür Clements Thesen nicht im Geringsten gebraucht werden.
So sorglos geht man also mit Rudolf Steiner um – so sorglos folgt man einer völlig nichtssagenden Dialektik, so sorglos empfindet man sich im vollen Recht, einem anderen Menschen „selektive Wahrnehmung“ vorzuwerfen. So sorglos bläst man in dasselbe Horn wie jemand, der von „Gott und seiner albernen Combo“ [o] redet und seinen Spott voller Stolz vor sich herträgt und damit noch glaubt, dem frühen Steiner „seelenverwandt“ zu sein (Felix Hau).
Man kann sich nur wundern, wie weit die „Deutungen“ der Anthroposophie noch herabsinken können, immer mehr ins völlig Wesenlose, aber immer hochmütiger von ihrer Wahrheit überzeugt. Schockierend...
Der Egoismus in der Philosophie
Selektiv greifen die Anhänger der Simplifizierung Steiners dann auf Aufsätze wie „Der Egoismus in der Philosophie“ von 1899 zurück, in denen alles auf das „Ich“ gestellt ist. Dabei berücksichtigen sie nicht, was Steiner wirklich schreibt, auch schon in „Wahrheit und Wissenschaft“ oder der „Philosophie der Freiheit“. In oben genannten Aufsatz findet man also Sätze wie:
Im Erkenntnisprozeß entnehme ich aus mir das Wesen der Dinge. Ich habe also das Wesen der Welt in mir. Folglich habe ich auch mein eigenes Wesen in mir. Bei den andern Dingen erscheint mir zweierlei: ein Vorgang ohne das Wesen und das Wesen durch mich. Bei mir selbst sind Vorgang und Wesen identisch. Das Wesen der ganzen übrigen Welt schöpfe ich aus mir, und mein eigenes Wesen schöpfe ich auch aus mir. (GA 30, S. 150).
Steiner unterscheidet hier ganz klar das Ich und die übrige Welt – deren Wesen das Ich aber ebenfalls erkennt, weil es im Denken das Wesen der Dinge in sich trägt, während die Wahrnehmung zunächst nur eine Erscheinung, noch ohne das Wesen, gibt. Steiner weiter:
Die Gedanken, die ich mir über die Dinge mache, produziere ich aus meinem Innern heraus. Sie gehören, wie gezeigt worden ist, trotzdem zu den Dingen. Das Wesen der Dinge kommt mir also nicht aus ihnen, sondern aus mir zu. (ebd., S. 149).
Und, mit Bezug auf einen Steinwurf und sein Gesetz:
Ein Vorgang verläuft im Sinne der Gesetze, die ich durch mein Denken über ihn gewinne. Daß für mich beide Elemente getrennt sind und durch meinen Erkenntnisvorgang ineinander gefügt werden, ist meine Sache. Der Vorgang kümmert sich um diese Trennung und Zusammenfügung nicht. Daraus folgt aber, daß das Erkennen überhaupt meine Sache ist. Etwas, das ich lediglich um meiner selbst willen vollbringe. (ebd.).
Das Erkennen ist eine rein menschliche Angelegenheit. Das heißt aber überhaupt nicht, dass nichts Reales, Wirkliches erkannt werde. Das Gegenteil ist wahr. Steiner beschreibt und begründet fortwährend, warum der Mensch die Realität erkennt und dass der Mensch sich im Erkennen mit einer Realität vereinigt. Mit Solipsismus hat dies nicht das Geringste zu tun – alles jedoch mit einem spirituellen Realismus, einem realen Erkennen der wahren Natur des Erkennens.
Es ist wirklich so, dass alles durch das Nadelöhr des Ich hindurchgehen muss, was irgendeine Bedeutung für den Menschen haben soll. Zugleich aber ist das Ich das Nadelöhr zur Wirklichkeit. Diese Dialektik müsste ein Clement erst einmal begreifen.
Steiner ist nicht einfach „aus dem Idealismus hervorgegangen“ – die Anthroposophie knüpft sehr wohl in sehr vieler Hinsicht an den Idealismus an. Der Idealismus war jedoch ein Ideen- und Gedankengebäude. Erkennend das Wesen des Erkennens durchdringen, ist etwas Anderes. Allein schon die Differenzen und teilweise heftigen Streitigkeiten zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel können dies deutlich machen.
Clements „Universal-Ich“ ist eine Vergewaltigung Steiners. Es ist etwas, wogegen Steiner gerade auch in seinem Aufsatz „Der Egoismus in der Philosophie“ gekämpft hat:
Es erscheint nach diesen Ausführungen fast überflüssig, zu sagen, daß mit dem Ich nur das leibhaftige, reale Ich des Einzelnen und nicht ein allgemeines, von diesem abgezogenes gemeint sein kann. Denn ein solches kann ja nur aus dem realen durch Abstraktion gewonnen sein. (ebd., S. 151).
Wenn man eines durch Steiners Aufsatz von 1899 beweisen kann, dann die völlige Nichtigkeit der Clementschen These vom „Universal-Ich“.
Das Ich und das Christus-Wesen
Etwas ganz anderes ist es, durch Geist-Erleben schließlich zu etwas Realem zu kommen. Ein solches hat mit abstrakten Thesen dann nichts mehr zu tun.
Man muss sich vorstellen – aber auch dies kann nur das individuelle Ich versuchen zu vollziehen –, dass Rudolf Steiner das Wesen des Erkennens immer tiefer durchdrungen hat. So, wie Begriffe lebendig wachsen können und sollen, so ist auch das Erkennen Rudolf Steiners selbst ein immerfort lebendig Wachsendes und Sich-Erweiterndes und Sich-Vertiefendes. Wir wissen, dass er zum Beispiel von einem entscheidenden Umschwung in seinem Seelenleben sprach, der um 1896 lag. Wir wissen, dass er sich von Stirner deutlich absetzte. Wir wissen von seinem Wort vom „Gestandenhaben vor dem Mysterium von Golgatha“.
Man kann dies alles miteinander in Zusammenhang bringen, wenn man nur begreift, dass das Hineinwachsen in eine umfassende Geist-Erkenntnis bei Rudolf Steiner niemals aufgehört hat. Die Ablehnung jedes tradierten Ideengebäudes ist vollkommen vereinbar mit der Begründung eines lebendigen Erkennens.
Wenn das menschliche Ich erkennend-schaffend mit einer Geistwelt zusammenwächst; wenn das Ich des Geistesforschers immer mehr erkennt, in tiefstem Sinne, welche Wesenheit im Denken und im menschlichen Erkennen selbst anwesend ist, welche Wesenheit dieses Erkennen (was das Ich dann verwirklicht) ermöglicht, dann ist es nicht verwunderlich, sondern eine gewachsene, aufgeblühte Erkenntnis, wenn das Ich des Geistesforschers schließlich beginnt, das Wesen des Logos zu offenbaren. Diese Offenbarung ist dann auch keine Zumutung für den modernen menschlichen Geist – sondern jedes individuelle Ich hat die Möglichkeit, dieses Erkennen ebenfalls zu realisieren. Es hat natürlich auch die Freiheit, in seinen Vorurteilen und Deutungen zu verharren. Es kann bei dem frühen Steiner bleiben – und selbst diesen schon nicht vollkommen verstehen.
Um jeden Preis „modern“ sein wollen – das sagt mehr über den Geist des Deuters als über Steiner selbst. Man kann so „modern“ sein, dass man den wahren Steiner vor lauter Frühwerk nicht mehr sieht, weil man selbst das Frühwerk mit dem Ego und nicht mit dem Ich begreift. Simple Deutungen des Ego sind aber Fehl am Platze. Der „Deuter“ ist buchstäblich immer nur der Zweite (griech. deuteros) – der seinem Objekt übel mitspielen kann (lat. deutor, von de-uti). Erst da, wo das Ich zur wahren Erkenntnis durchstößt, braucht es nicht mehr zu deuten. Dafür muss man aber den Mut haben. Und wenn man Steiner verstehen will, braucht man den Mut, ihm auf seinem Weg erkennend zu folgen – und nicht beim frühen Steiner stehenzubleiben, um den späten Steiner durch die Brille des frühen (den man auch schon nicht verstanden hat) zu deuten und völlig zu pervertieren.
Den Geist dieser Moderne kann man in jedem Wort empfinden, wenn er spricht:
„Gott und seine lächerliche Combo“ ... „im Lichte einer später von Steiner entwickelten religiösen Überformung“ ... „eher Stimmungsbeleuchtung als Leselampe“ ... „gehe aber arbeitshypothetisch weiterhin davon aus, dass Steiner einer Erleuchtungserfahrung teilhaftig geworden ist“ etc. etc.
Da haben die hochmütigen, kaltherzigen, spottenden Deuter den „richtigen“ Steiner ja schon, ohne sich irgendeine Mühe zu machen. Hier sind die, die sich ihren Steiner zurechtgelegt haben – und die sich im Ich keinerlei Mühe machen wollen, zu wirklicher, realer und immer tiefer reichender Erkenntnis zu kommen.
Deuten und konstruieren und dann im Ego stehen bleiben – oder, zusammen mit Steiner, im Ich immer weiter, tiefer streben, um die Mysterien des Erkennens wahrhaft zu erschließen, das ist die existentielle Frage.
Man kann heute Werke von Theologen lesen [...], die etwa sagen: Ja, gewisse Theologen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts haben endlich ausgerottet den mittelalterlichen Volksglauben, daß der Christus in der Welt erschienen ist, um die Erde dem Teufel zu entreißen, um die Erde dem Luzifer zu entreißen. – Es gibt ja auch innerhalb der Theologie [und „Anthroposophie“, H.N.] heute einen aufgeklärten Materialismus, der [...] besonders aufgeklärt tut. Ja, so sagen sie, in diesem finsteren Mittelalter, da haben die Leute davon gesprochen, daß der Christus in der Welt erschienen ist, weil er die Erde dem Teufel hat entreißen sollen. – Die wahre Aufklärung führt uns zu diesem einfachen, schlichten Volksglauben zurück! Denn von der Erde gehört Luzifer all dasjenige, was durch den Christus nicht befreit wird. Und alles Menschliche, was in uns mehr ist als das, was bloß beschlossen ist in unserem Ego, es wird geadelt, es wird fruchtbar gemacht für die ganze Menschheit, wenn es durchchristet ist. [...] Zukunftshoffnung und Vertrauen in die Zukunft unserer Sache, sie können wohnen in unseren Herzen, weil wir uns bemüht haben, von Anfang unserer Arbeit an, zu durchdringen dasjenige, was wir zu sagen haben, mit dem Willen des Christus. [...] Nicht, weil wir von irgend etwas Christlich-Dogmatischem durchsetzt fühlen unsere Geisteswissenschaft, betrachten wir sie als christlich, sondern weil wir, in uns durchchristet, sie als eine Offenbarung des Christus in uns selbst betrachten.
16.7.1914, GA 155, S. 210f.
Christlich war es, alle Dogmatik um „Christus“ zu zerschlagen – und christlich war es, eine lebendige Geisteswissenschaft zu begründen, denn im Erkennen selbst lebt das Christus-Wesen. Auch dies kann schließlich Teil der lebendigen Erkenntnis werden...
„Geisteswissenschaft als eine Offenbarung des Christus in uns selbst betrachten“. Geisteswissenschaft ist vollkommen durch-ichte und durchchristete Erkenntnis zugleich.