05.02.2016

Ein anderer Blick auf die Kathedrale von Chartres

Mieke Mosmuller: Chartres – Ein anderer Blick auf die Kathedrale. Occident Verlag 2015, 86 Seiten.


In einem vor einigen Monaten erschienenen Büchlein gibt Mieke Mosmuller einen sehr anderen Blick auf die Kathedrale von Chartres, als es üblich ist.

Das Buch vereint vier Vorträge, die im Rahmen von zwei Reisen nach Chartres gehalten wurden. Einen Reiseführer findet man auf diese Weise nicht. Über die unglaublich vielfältigen Hintergründe allein schon der großartigen Portale der Kathedrale wird man einen solchen zu Rate ziehen müssen, will man sich in die Details und ihre Zusammenhänge vertiefen. Doch die Vorträge geben einen Reiseführer ganz anderer Art.

Man taucht unter anderem ein in das Denken der großen Lehrer von Chartres. Sie erlebten noch in letzten Anklängen das Walten der Göttin Natura, geistige Wirksamkeiten. Sie wussten noch um das hohe, heilige Menschenbild, das erst wieder auf dem anthroposophischen Weg der inneren Entwicklung der Seelenkräfte und des Geistes wiedergefunden werden kann.

Dieses Eintauchen in die spirituelle Welt der Schule von Chartres und in die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins verbindet Mieke Mosmuller nun mit einem wahrhaft spirituellen Blick auf die Kathedrale selbst. Sie wagt den Versuch, erlebbar zu machen, dass die Kathedrale im Grunde das Abbild einer völligen Umstülpung des menschlichen Herzens und des in ihm zunächst lebenden gewöhnlichen Selbstgefühls ist.

Indem man das Innere der Kathedrale betritt, verlässt man gerade dieses Selbst und betritt den ganzen übrigen Kosmos, eigentlich die geistige Welt selbst. Dies auch nur ansatzweise empfinden zu können, gibt wahrhaftig einen völlig anderen Blick auf die Kathedrale – einen Blick, in dem sie selbst ihr Wesen beginnen kann auszusprechen... Erst mit diesem Blick wird es möglich, die Kathedrale mit einer heiligen Empfindung zu betreten, die ihrem eigentlichen Wesen überhaupt erst entspricht.

Dann kann man auch die unbeschreiblich schönen Glasfenster ganz anders erleben – sie werden eine Art Akasha-Chronik der Menschheitsentwicklung. Aber Mieke Mosmuller geht noch weiter. Während der Aufenthalte in Chartres versuchte sie, erlebbar zu machen, wie auch zwischen den vollkommen unterschiedlichen Formen der einzelnen Glasfenster lebendige Übergänge, Metamorphosen und Umstülpungen stattfinden. Versucht man, diese nachzuvollziehen, kann man wirklich in ein anfängliches Erleben des Ätherischen hineinkommen.

In ihrem ganzen Wirken kommt es Mieke Mosmuller darauf an, auf die Möglichkeit und den Weg der Entwicklung der menschlichen Erkenntniskräfte hinzuweisen. Werden sie in energischer innerer Arbeit entwickelt, so eröffnen sie einen Zugang zur Welt des Geistes, zur geistigen Welt. Dann verwandelt sich der Blick immer vollkommen. Immer geht es in der Anthroposophie um das Geheimnis des „anderen Blickes“, der erst alle übrigen Geheimnisse aufschließen kann.

Die Bücher von Mieke Mosmuller sind still-ernste Meilensteine auf diesem Weg. Mit zehn Doppelseiten eindrucksvoller Fotos gibt das Buch über Chartres auch dem Auge etwas, was die wunderbare Schönheit der Kathedrale, ihrer Figuren und ihrer einzigartigen Glasfenster zumindest erahnbar macht.

Jedem, der eine Beziehung zu Chartres hat oder gewinnen will, kann dieses Buch nur ans Herz gelegt werden.