2016
Mehr Mut? Mehr Seele!
Gedanken über ein existentielles Geschehen.
Inhalt
Verlust der Kreativität
Bedauern reicht nicht
Radikale Gegenüberstellung
Verlust der Kreativität
Ein Hinweis machte mich auf einen Artikel der FAZ aufmerksam, der im August erschienen war: „Früher war mehr Mut“. Der Untertitel lautet: „Die Amerikaner verhätscheln ihre Zöglinge“. Wir können dabei sicher sein, dass die beschriebene Realität nicht nur für die USA gilt, sondern auch für unsere eigene Heimat. Aber was steht in dem Artikel?
Es steht darin, dass die Anzahl der Unternehmensneugründungen in den letzten dreißig Jahren (seit 1973) um die Hälfte gesunken ist – und auch der Anteil jüngerer Menschen unter den Neugründern sinkt. Der Innovationsgeist verliert sich – und auch der Mut dazu.
Ein Aspekt dieses Geschehens, eine der Ursachen, wird nun in dem Artikel weiterverfolgt: der immer weiter wachsende Drang nach Kontrolle. Vor einem Jahr etwa wurde der vierzehnjährige Sohn sudanesischer Einwanderer in Texas in Handschellen aus der Schule abgeführt, weil er eine selbstgebaute Uhr mitgebracht hatte – man hielt sie für eine Bombe. Ebenfalls vor einem Jahr wurde gegen zwei Eltern, die ihre beiden Kinder (sechs und zehn Jahre alt) im wohlhabenden Silver Springs allein durch den Ort spazieren ließen, ein Verfahren wegen des Verdachts der Vernachlässigung eingeleitet.
Es wird dann auf die Langzeitstudien von Prof. Roger Hart verwiesen. Ein sehr langer Essay im Magazin „The Atlantic“ berichtet ausführlich darüber: „The Overprotected Child“. Dort heißt es unter einem Schwarzweiß-Foto mit Kindern und einem kleinen Baumhaus lapidar: „The children studied by Roger Hart in the 1970s spent much of their free time out of sight of parents, in secret places all their own.“ Heute, so wieder die FAZ, verlassen die Kinder Haus und Garten meist nur noch für terminlich geregelte Freizeitaktivitäten...
Ein weiterer Hinweis führt zu der Forscherin Kyung Hee Kim. Sie veröffentlichte vor einigen Jahren einen wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel „Die Kreativitäts-Krise“. Darin beschreibt sie, dass Kreativität und IQ in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen sind – bis 1990. Seitdem stieg nur noch der IQ, während die Kreativität wieder zu sinken begann! Die jungen Menschen werden also weiterhin immer intelligenter – aber sie verlieren die Kreativität. Laut FAZ zeigen ihre Studien, dass die Kinder auch weniger gesprächig, weniger humorvoll, weniger leidenschaftlich werden.
Im letzten Jahr wurde der Limonadenstand von zwei sieben- und achtjährigen Mädchen – ein Symbol des Unternehmergeistes – von der Polizei geschlossen, weil sie keine Betriebserlaubnis hatten. Die FAZ beschließt den Artikel mit den Worten: „In der Konfrontation mit der Ordnungsmacht lernen die Kinder natürlich auch. Nämlich, das sich all der Aufwand nicht lohnt. Oder sie haben Eltern, die sie ermuntern, nicht immer nach den Regeln zu spielen.“
Bedauern reicht nicht
Artikel wie diese bringen ein ungeheuer schwerwiegendes Menschheitsgeschehen auf den Punkt – aber sie gehen nicht über eine intellektuelle Analyse hinaus. Auch diese Artikel haben denselben Mangel: sie huldigen, ohne es zu wissen, dem Intellekt. Studien beschreiben die gesamte Faktenlage – eine erschreckende Realität. Artikel berichten dann darüber. Es ist die intellektuelle Ebene mit ein wenig beigemischter Betroffenheit. Und dann?
Unterscheiden sich die Artikelschreiber etwa von den „overprotecting parents“? Sind die Artikelschreiber denn leidenschaftlich? Oder regt sich in ihrer Seele allenfalls ein müdes, zugleich aber besserwisserisches Bedauern darüber, dass es früher noch kindliche Limonadenstände gab, diese heute aber wegen der überzogenen Kontrollvorschriften verschwinden? Wo ist die Seele der Artikelschreiber? Was empfindet sie?
Das Problem ist, dass alles immer wieder nur auf Basis des Intellekts wahrgenommen, beurteilt, vielleicht auch verurteilt wird. Mit dem Intellekt kann man sich dann sagen: Ich habe das Meinige getan, ich habe das Verrückte erkannt und benannt. Verrückt sind die Anderen. Was man aber nicht merkt, ist, dass es einen Unterschied macht, ob man etwas „falsch“ oder sogar „schlimm“ findet – oder ob man existentiell spürt, was geschieht ... und auch existentiell darunter leidet. Es ist der Unterschied zwischen Intellekt und Seele.
Aber wie lernt man, wieder mit Seele zu leben und zu erleben?
Das Wiederfinden des Seelischen – darum geht es in meinen Büchern immer wieder. Eine zentrale Fähigkeit der wirklichen Seele ist es, empfinden zu können. Prinzipiell zu erkennen und zu beurteilen, was geschieht, ist keine Kunst. Dafür wächst der IQ nach wie vor, aber das Intellektuelle reißt den Menschen von sich selbst los, denn wir verlieren immer mehr unsere Seele. Dann kann man zwar erkennen, dass die Menschen ihre Kreativität, ihre Gesprächigkeit (im besten Sinne), ihren Humor und ihre Leidenschaft verlieren – aber man empfindet nichts dabei. Oder viel zu wenig. Man muss bereits in ein wirkliches Erleben des Seelischen kommen können, um zu erkennen und zu empfinden, dass hier das Seelische selbst sich verliert. Wenn man es aber empfinden kann, wird auch die existentielle Dimension erlebbar und deutlich – erst dann. Die Seele empfindet nicht nur – sie erschrickt existentiell. Sie begreift erst wahrhaft, was hier geschieht. Denn es geschieht das wirkliche Sich-Verlieren und mehr noch, die wirkliche Vernichtung der Seele.
Die erwachende Seele nimmt die Realität wahr – und in dieser Realität wirken reale Kräfte, die in genau dieser Richtung wirksam sind, seit langem: in Richtung auf ein Erlöschenlassen von Begegnung, von Freude, von Leidenschaft. In ein Begraben des Seelischen, der Seele selbst. Die intellektuelle Ebene kommt an diese Sphäre der Wirklichkeit niemals heran. Die erwachende Seele aber erlebt sie – und kann sie erkennen. Dann ist eine Vorschrift nicht einfach nur eine Vorschrift, sinnvoll oder nicht, überzogen oder nicht, sondern dann wird erlebt, wie in einer solchen Vorschrift und auch in der Art ihrer Anwendung ganz real ein Geist lebt, der ebenso real darauf gerichtet ist, das Seelische so zu pressen, zu formen und zu behandeln, dass es erstickt. Es kann in diesem Geist nicht leben – es stirbt einfach. In unserer Welt wirken längst ungeheure Kräfte, die alle auf das Sterbenlassen des Seelischen gerichtet sind. Intellektuelle Artikel erfassen nur die intellektuelle Oberfläche dieser Wirklichkeit. Nur die Seele selbst kann die Wirklichkeit erfassen.
Radikale Gegenüberstellung
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf den großartigen Film „Captain Fantastic“ hinweisen. In diesem Film geht es um die Konfrontation eines Vaters und seiner Kinder, die in der Wildnis aufgewachsen sind, mit der übrigen Wirklichkeit und ihren „Errungenschaften“.
Es erweist sich als eine Begegnung zwischen dem Seelenvollen, Unverfälschten und einer Welt seelischer Destruktion, Flachheit, Unwahrhaftigkeit und Angst, aber auch Hochmut. All dieses Letztere ist so sehr üblich geworden, dass es überhaupt nicht mehr durchschaut wird. Das Einbrechen der anderen Seite jedoch macht es sichtbar, entlarvt es als das, was es ist. Auch hier gibt es „overprotected children“, denen man nichts über Krankheit und Tod zu sagen wagt – die aber gelangweilt vor ihren Bildschirmen hängen und nicht wissen, was die „Bill of Rights“ ist. Tod der Seele schon im Kindesalter...
Man kann, wie Ute Hallaschka, der Meinung sein, dass dieser Vater in der Wildnis seine Kinder auch in eine seelische Wildnis treibt, indem er sie abhärtet, Tiere töten lässt, ihnen mit rein intellektuellen Begriffen die Welt nahebringt. Und wäre dies so, wäre er nicht besser als die übrige Welt, er wäre in vielerlei Hinsicht nur das andere Extrem. Abhärtung gegenüber Verweichlichung, beiden gemeinsam aber wäre der Sieg des Intellekts über das Seelische, das verlorengeht und stirbt.
Aber das, was dieser Vater tut, und die Art, wie er mit seinen Kindern lebt, ist durchdrungen von Liebe – Liebe zum Leben, Liebe zu seinen Kindern, Liebe zur Menschlichkeit. Dieser Mann liebt seine Kinder – und er weiß, was wirkliches Menschsein bedeutet. Er weiß es auf seine Art, denn er ist Atheist – aber dieser Atheismus ist seelenvoller, geistvoller und leidenschaftlicher als alles, dem er sonst in der Welt begegnet. Diese Kinder kennen nicht nur die Bill of Rights – sie wissen auch, was sie bedeutet. Sie wissen es nicht mit dem Kopf, sondern mit der Seele. Dieser Mann gewöhnt seine Kinder an körperliche Strapazen – aber er gewöhnt sie auch an seelische Tiefe und an geistige Weite. Wenn man diesen Film sieht, kann man nur tief berührt miterleben, was in diesen Kindern heranwächst – was für eine starke und zugleich tief empfindsame Seele, was für ein freier Geist.
In diesem Film wird radikal die Frage gestellt, was eigentlich das innere Wesen des Menschen stärkt und wachsen lässt – und was nicht. Man kann es kaum in Worte fassen – aber man kann es sehen. Herausforderungen sind es. Herausforderungen, eingebettet in das Leben – und in die Liebe. Diese Kinder können selbstständig denken, sie wurden von Anfang an dazu angeregt – nicht nach dem Lustprinzip, sondern als Aufgabe. Diese Kinder können aufrichtig fühlen, sie sind von keiner Unwahrhaftigkeit verbogen. In diesen Kindern lebt eine tiefe, schöne Liebe zum Leben. Ihr Wille wird ihren späteren Lebensweg frei, aufrichtig und stark ergreifen – und sie werden sich mit ganzer Seele in das Leben hineinstellen.
Man schaue sich diesen Film an, und man bekommt ein Gefühl für das, was heute so unendlich fehlt – und welche scheinbar harmlosen, in Wirklichkeit aber furchtbaren, lähmenden Kräfte stattdessen wirken. Dieser Film kann tiefe Empfindungen geben – aber auch tiefe Erkenntnisse. Es ist ein wunderbarer Film.