20.12.2016

Das Geheimnis der Weihnacht

Von Gnade, Profanität und Unschuld.


Weihnachten – das ist eine heilige Zeit. Es sind heilige Tage und Nächte – und das Heilige kommt von den Nächten, aus der Nacht, die viel größer, weiter und unendlicher ist als der Tag.

Es sind Weihe-Nächte. Geheiliget werde dein Name, spricht der fromme Mensch zur Gotteswelt. Geheiliget werde die Erde ... spricht die Gotteswelt zur Zeit der Weihe-Nächte.

Ein überirdischer Friede taut zur Erde nieder und tauft sie in eine Heiligkeit, die alles heilen könnte – alles, was krank, was zerbrochen, leidend, getrennt, alles, was gestrauchelt und gefallen ist. Heilen – heilen könnte das Heilige alles, wirklich alles.

Aber es wird nicht mehr empfunden.

Wenn es wieder empfunden würde! Wie konnten – wie konnten nur die Seelen so arm, so hart, so leicht, so schal werden, dass sie nicht mehr empfinden!

Was empfunden wird, ist das Laue und Belanglose schlechthin. O, wie die Seelen so sehr all diesem Belanglosen hinterherrennen. Wie sie sich klammern an das Oberflächliche und denken, sie haben etwas. Wie sie ihr Leben verbringen in armem, faden Eigensein! Sich verlierend in Bedeutungslosigkeiten, Alltäglichkeiten, Diesseitigkeit und selbst da noch Oberflächlichem...

Wie ist es möglich, dass ein Lederball unendlich viel mehr Emotionen aufpeitschen kann, als in einem ganzen Leben Gefühle für das Heilige aufgebracht werden? Wie ist es möglich, dass die Seele, die eine unendlich heilige Welt als Heimat hat, diese so vollständig vergessen kann? Wie!

Wie kann es eine so bleierne Mauer sein, die die Seelen von dem Heiligen trennt – so dass sie es nicht einmal mehr suchen? So dass sie es nicht einmal mehr fühlen, wenn es kommt, den Menschen so unendlich nahekommt – wie in den geweihten Nächten...

Blau-samten offenbaren sich diese heiligen Nächte und überirdisch leuchtend strömt der reine Friede zur Erde, und blauer Samt und heiliges Licht berühren die Menschenherzen, ja strömen gegen sie an, mit ihrer Gnade ... aber sie begegnen Blei, bleischwerer Empfindungslosigkeit... Armut, die sich in ein unfassbares Nichts umstülpt. Wenn zumindest doch die Sehnsucht rein wäre! Der Verlust gefühlt würde! Das Nichts gefühlt – als schmerzliches Leid, eine Qual, ein Rufen! Aber das Nichts wird gefüllt mit wieder Nichts und nochmal Nichts – und alle Nichtigkeit wird lieber genommen als eine reine, arme Sehnsucht, als eine heilige, demütige wirkliche Armut der Seele...

Arme Menschheit, die du leidest und nicht einmal weißt, dass du leidest – und vielleicht sogar wirklich schon aufgehört hast, zu leiden, aber wie kann man das. Das Herz ist doch keine Maschine, und der Mensch ist es auch nicht... Aber das Leid ist noch nicht groß genug. Es ist erst dann groß genug, wenn die Schale bis an den Rand gefüllt ist. Dann – dann wird es einst wirklich empfunden werden. Und es wird überfließen, die Herzen werden es nicht mehr ertragen – und dann, dann werden sie wieder fühlen, fühlen in all ihrer Verzweiflung, aber fühlen... Es wird wie ein großer Aderlass sein, das Übermaß an Leiden wird wieder das Fühlen lebendig machen – und alles dunkle, giftige, dicke, schwere, kranke Blut wird mit hinausfließen. Fühlen! Wann wirst du wieder wahrhaft Fühlen, o Menschheit...?

                                                                                                                          *

An der Armut Stätte... Wenn der Mensch wieder lernt, an der Armut Stätte zu stehen... Nein, nicht zu stehen, sondern zu knien, in Demut, und wer dies nicht vermag, in Sehnsucht, zumindest dies...

Die wahre Sehnsucht, die ihre eigene Armut erkennt, erkannt hat – sie ist ja schon demütig, sie hat den Anfang der Demut gemacht. Demut aber, die Hingabe an die Ohnmacht, das Bekenntnis zur Ohnmacht, zur Armut und Armseligkeit der Seele, weil sie erkennt, wie unendlich wenig in ihr und von ihr geblieben ist ... diese Demut ist, wäre die Rettung. Demut rettet, weil sie Hingabe ist, das Tor zur Hingabe. Hingabe aber ist das Geheimnis der Empfängnis... Der wahren Armut kommt die Gnade entgegen. Leer muss das Herz sein, leer von aller Selbstsucht, die es so unendlich hässlich, laut und voller Getöse anfüllt. Wie kann der blau-samtene und leuchtende Gnadenstrom der Weihe-Nächte in Herzen einströmen, die bereits voll, voll, voll sind – und sei es von Nichtigkeit?

Wenn das Herz nicht dürstet, verriegelt es dem heiligen Strom selbst durch all seinen Hochmut den Zugang. Das Heilige will kommen – aber die Herzen wollen es nicht. Und vielleicht wollen die Herzen es wohl, aber die übrige Seele verhindert es.

Nicht fromm, nicht rein, nicht dürstend, nicht arm, nicht an der Armut Stätte leben die Herzen. Sie leben im Dunkel ihrer noch immer zufriedenen Nichtigkeit, und sei sie noch so hilflos. Erst wenn sie ganz hilflos würde, könnten sie das Gift ihrer Selbststolzheit loslassen, entlassen, frei davon werden.

Die Herzen kennen die Demut nicht. Sie wissen nicht, dass man für sie viel mehr Mut braucht als für vieles andere. Sie wissen nicht, dass man in der Demut das eigene Selbst viel wahrer findet als ohne sie. Sie wissen nicht, dass man sich in ihr nicht verliert, sondern dass man sich jetzt verloren hat. Nicht wissen sie, welcher Quell zu strömen beginnt, wenn das Heiligtum der Demut gefunden ist... Der wirkliche Schatz liegt hier. Das Heilige ist nicht fades Leben – es ist gerade Über-Fülle, etwas, was das unheilige Herz überall sucht, aber nirgendwo findet.

Blau-samtene Heiligkeit der Weihe-Nächte, die durchdrungen ist von dem unbeschreiblichen Licht... Kein Herz ermisst dieses Wunder. Und Herzen wollen auch nicht messen, es reicht ihnen, zu empfangen – in tiefer, heiliger Hingabe zu empfangen...

Die ganze Erde hält in den Weihe-Nächten gleichsam den Atem an und empfängt schweigend, in heiliger Hingabe, was vom Himmel herniederströmt. Wann wird es der Mensch...

                                                                                                                          *

Es ist viel zu viel Profanes in die Seele eingedrungen. Einen Marktplatz hat die Seele aus sich gemacht. Sich selbst und dem Heiligen fremd geworden, ist sie nur noch ein Schauplatz gewöhnlicher, schwacher Empfindungen, die das Heilige nicht mehr kennen, weil sie das Selbstbezogene und das Nüchterne nicht mehr verlassen können – selbst wenn sie es wollten. Gekettet ist sie, die Seele, an diese beiden Kräfte, die allem Heiligen fremd und feindlich sind. Selbstheit und Nüchternheit. Selbst wenn die Seele das Heilige längst sucht, kommt sie nicht los von ihren Ketten. Mit ihnen aber kann das Heilige nicht gefunden werden. Es ist, wie wenn man es in der Ferne erblicken darf – aber es ist so fern, es bleibt so fern, man fühlt seine Ketten, aber man kann sie nicht loswerden... Das Heilige bleibt fern, Weihnachten bleibt fern, alles bleibt fern...

Aber es gibt eine Führerin. Es gibt das heilige Wesen des Mädchens...

Wer andere Führerkräfte kennt, die ihn wirklich zum Heiligen führen können – dauerhaft, ernsthaft, wirklich, nicht nur eingebildet –, folge ihnen! Sinnlos sind auf einem heiligen Weg alle Einwände, die da kommen und sagen: Was hast du mit den Mädchen? Wer das Heilige auf welchem Wege auch immer finden kann, der ergreife es und lasse es nicht mehr los... Es ist doch immer so, dass man alle Wege an ihren Früchten erkennt. Man streite nicht über die heiligen Wege, sondern suche sie, suche nichts anderes als diese Heiligung der Seele...

Mein Weg ist es, das heilige Wesen des Mädchens erlebbar zu machen. Wer sich diesem Wesen nähert, wird selbst von dessen Heiligkeit umfangen. Die einzige Frage ist, ob man sich diesem Wesen nähern kann – und man kann es nur, wenn man von ihm berührt wird. Die Frage ist, welche Seele das Heilige des Mädchens empfinden kann – so empfinden, dass sie berührt wird... Nicht nur berührt, sondern verwandelt, in eine heilige Verwandlung gebracht...

Wer hat Angst vor dem Heiligen des Mädchens? Die meisten Menschen haben doch Angst, sich tief berühren zu lassen... Ja, in der Vertiefung in die „großen Heiligen“, in Maria selbst, in die Engel, in alles, was weniger verfänglich, nein, gar nicht verfänglich, sondern ganz und gar heilig ist, da braucht man keine Angst zu haben – da kann man fleißig streben. Das Wichtigste aber ist, sich nicht zu betrügen. An welchem Punkt bleibt man stehen mit seinem ganzen Streben nach dem Heiligen? Wo geht es nicht weiter? Wie weit will man wahrhaft kommen? Und wieviel tut man dafür? Und ab wann wird alles Streben Illusion, weil man ja gar nicht weiterkommen will? Sich beschäftigen mit Heiligen und Engeln ja – aber ein Heiliger und ein Engel werden...?

Wer hat Angst vor dem Heiligen des Mädchens? Ein Mädchen ist uns viel näher als ein Engel – und so ist es viel ehrlicher, sich von ihm berühren zu lassen, als die Engel zu bestaunen und es im Innersten doch nicht ernst zu meinen, weil man zehn Schritte zu weit greift...

Wer hat Angst, sich von dem reinen Wesen des Mädchens wirklich berühren zu lassen? Er wird hineingeführt in ein heiliges Reich, in dem er zum ersten Mal erleben kann, was heilige Unschuld eigentlich ist... Reinheit der Seele. Unschuld der Seele. All dies bleiben nicht mehr Worte, es bleibt kein bloßes Wissen – auch kein spirituelles Wissen, verbunden mit Einbildung und Selbstgefühl und ein bisschen Selbsterziehung –, es wird ein tiefes, tiefes Erleben. Wer keine Angst hat, sich wahrhaft bis in die Tiefen der eigenen Seele berühren zu lassen ... wird in der Begegnung mit dem heiligen Wesen des Mädchens eine Erfahrung machen, die er auf anderem Wege vielleicht nie in dieser Tiefe finden würde. Die heilige Unschuld...

Das ist es, was in meinem Buch „Von den Mädchen“ gefunden werden kann. Das Mysterium der Unschuld...

                                                                                                                          *

Und die Weihnachtsnacht
senkte sich auf die Felder nieder;
und der unendliche Friede aus den Höhen
taute bis in die Städte hinein.
Aber die Menschen – warum?
In Stadt und Land hasteten sie
etwas nach, was die Engel
nicht sehen konnten, denn
es war Nichts.

Einige Wenige suchten das
Geheimnis der Weihnacht,
suchten das Licht und die Gnade,
und fanden wohl etwas davon,
aber wie viel oder: wie wenig?
Sie wussten, dass es wenig war,
viel zu wenig, auch wenn sie
das Wenige hüteten, als den letzten
oder manche vielleicht auch
als den ersten Reichtum...

Aber das Mädchen kniete
vor der Krippe, und sie hatte
das reine Herz, das alle suchten,
halbherzig, viertelherzig oder
doch mehr, aber doch verloren,
noch immer verloren im Suchen
und Nicht-Finden.
Sie aber brauchte nicht suchen,
sondern nur fühlen, was sie fühlte,
und alles war da, denn ihr Herz
war die Schönheit, die Unschuld.

Blau-samten senkte sich die heilige
Weihnachtsnacht der Erde zu,
und ein Herz brauchte sich dafür
nicht zu bereiten, denn es war
immerwährend bereitet, es war
das Herz eines Mädchens...