2017
Feminismus, Genderismus und das Weibliche
Gedanken im Nachklang zum Frauentag.
Inhalt
Das Natürliche und seine Überwindung
Mutter, Kind und Transgender
Alles kann Diktatur werden
Befreiung oder Verschwinden des Fühlens
Weder Mann noch Frau
Die Anzüglichkeiten eines Brüderle
Vom Wesen des Übergriffigen
Das sanfte Wesen
Die Erlösung des Weiblichen
Leib und Seele
Das Opfer
Das Natürliche und seine Überwindung
Der Weltfrauentag und die Debatte um die Abschaffung der Röcke bei Paraden der britischen Royal Air Force [o] hat wieder einmal die Geschlechterfrage in die Medien gebracht. Die Frage ist hoch komplex, weil überall die Fallen der Intoleranz, der Gleichmacherei und der Einseitigkeit lauern.
Wenn man zum Beispiel sagt, die Geschlechtertrennung ist natürlich, ist damit schon eine Wertung verbunden? Oder kann man sagen: Das Natürliche – als das von der Natur, vielleicht von einer göttlichen Welt, vielleicht von einem Einschlag der Widersachermächte, jedenfalls das irgendwie ,Vorgegebene’ – kann auch für nichtig erklärt werden, verändert, umdefiniert...
Der Mensch hat sich mit dem Natürlichen nie abgefunden – er hat immer wieder die Natur überwunden, ihr etwas hinzugefügt, er hat sie zerstört, er hat sie durch Kultur verändert, vielleicht sogar gesteigert. Warum sollte er das mit dem, was an ihm selbst natürlich ist, mit seiner eigenen Leiblichkeit und hier mit dem Geschlecht, nicht auch tun?
Warum sollte ein Mann nicht sagen können: Ich fühle mich als Frau, ich will als Frau gelten und als solche anerkannt und behandelt werden? Und umgekehrt? Oder eben auch: Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau und will auch weder als das eine noch als das andere behandelt werden? Oder aber: Ich fühle mich als Mann und möchte auch so behandelt werden? Oder: Ich fühle mich als Frau und möchte auch so behandelt werden?
Aber – wie wird denn ein Mann behandelt? Eine Frau? Ein Mensch?
Kehren wir einmal zur Royal Air Force zurück. Die Abschaffung der Röcke aus Rücksicht auf Transgender-Personen hat zu dem Aufschrei geführt, dass allmählich immer mehr die Weiblichkeit abgeschafft werde.
Der Aufsatz von Birgit Kelle in der WELT hat es durchaus in sich. Sie schreibt:
Die Entwertung der Weiblichkeit und ihr Verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung scheint für manche Programm zu sein. [...] Man muss wissen: Frau folgt damit nämlich nur männlichen Schönheitsidealen. [...] Merke: Weibliche Schönheit darf objektiv nicht erkennbar sein, weil sie sich falscher Motivation verdächtig macht. [...] Alles, was wir mit typischer Weiblichkeit assoziieren, macht sich verdächtig. Dass Frauen schön sind, manchmal schwach, weich. Sexuell anziehend, begehrenswert. Dass sie Mütter sind, häuslich. Sorgend. Empfangend. All diese Begriffe, die feministischen Brechreiz auslösen, sind in Bildern nicht mehr gerne gesehen. [...]
[...] hat man sich längst geeinigt, dass echte Weiblichkeit sich darin vollendet, dem Mann auf seinem Lebensweg, in Handlung, Ambition und Umsetzung zu folgen. Und den Protagonistinnen dieser Idee scheint nicht einmal aufzufallen, dass ihr Feminismus damit per se maskulin ist. [...] Wir brauchen endlich einen weiblichen Feminismus.
Mutter, Kind und Transgender
Auch in einer Transgender-Welt sieht Kelle das Weibliche mehr und mehr verschwinden:
„Elton John und sein Lebensgefährte werden Eltern.“ Was stimmt nicht an diesem Satz? Richtig: Die Mutter fehlt. Die Frau, die das Kind neun Monate in ihrem Bauch getragen hat. [...] Eine urweibliche Macht – die Weitergabe von Leben – nur noch eine Serviceleistung. Käuflich, ausnutzbar. Niemand protestiert am Weltfrauentag gegen diese Entwertung. Oder muss man fast sagen: Entwürdigung?
Wahr daran ist: In einer Welt, in der die natürlichen Zusammenhänge aufgebrochen werden, geschieht genau dies. Das Natürliche ist nicht mehr ausschlaggebend. Alles nur Denkbare wird machbar, verhandelbar, austauschbar. Dennoch muss dies die Selbstbestimmung der Frau nicht antasten. Zu einer bloßen „Serviceleistung“ gehört auch immer jemand, der dazu bereit ist. Oder aber eine Frau, die das von ihr ausgetragene Kind gar nicht selbst aufziehen möchte, sondern es zur Adoption freigeben möchte. Hier entsteht Freiheit. Die Freiheit, ein Kind in andere Hände geben zu können – die Freiheit, ein Kind aufnehmen zu können.
Die Frage, ob sich das Kind aber gerade diese Eltern gesucht hat, oder aber, was es für ein Kind bedeutet, nicht Vater und Mutter (auch im natürlichen Sinne, als Mann und als Frau) zu haben, ist wiederum eine andere. Transgender-Vertreter (im Sinne einer völligen Überwindung der Geschlechtertrennung, ja sogar -zuschreibung) werden sicherlich sagen, hier werden nur Rollenzuschreibungen forttradiert und das Geschlecht habe keinerlei Bedeutung bzw. sollte nur die Bedeutung haben, die der Einzelne ihm gibt. Kinder dürften nicht „überwältigt“ werden durch die unhinterfragte Konfrontation mit „Vater“ und „Mutter“. Dem muss man entgegenhalten, dass Kinder immer überwältigt werden, weil sie mit ihrem ganzen Wesen zunächst alles hinnehmen müssen, was sie umgibt – und dies tiefe Wirkungen hat.
So, wie Rollenzuschreibungen ein Korsett, ein Gefängnis sein können, so kann jedoch auch die Beseitigung aller „Rollen“ in eine neue Diktatur und Diskriminierung ausarten. Man kann sich einerseits vorstellen, dass ein Junge, der in Mädchenkleidern herumlaufen möchte, schlimmste Diskriminierungen ertragen muss – so, wie es früher die Mädchen erleiden mussten, die sich nicht mädchenhaft genug verhielten. Man kann sich aber auch vorstellen, dass künftig Jungen und Mädchen schlimme Diskriminierungen erleiden könnten, wenn sie einfach nur Junge oder Mädchen sein wollen – weil ihre Umgebung ihnen mit allen Mitteln einreden will, dass das nicht normal, nicht emanzipiert oder nicht sonstwas ist. Man habe sich Gedanken zu machen, was man „wirklich“ sein will, und sich nicht an vorgegebene, auch nicht an angeborene Geschlechterrollen zu halten.
Deutlich ist also: Diskriminierung und Druck, sozialer Druck, ist in jeder Konstellation möglich – und dies ist das eigentliche Hauptproblem.
Alles kann Diktatur werden
Die Transgender-Forderungen sind einerseits eine Art Einschlag des Ich-Impulses – ein Impuls hin zu einer Bewusstwerdung des Ich, das frei von jeglicher äußeren Bestimmung sich selbst zu bestimmen vermag und nicht gebunden ist an das Leibliche. Andererseits können diese Forderungen auch wie eine neue Geistesdiktatur wirken. Der Versuch, jede Diskriminierung zu beseitigen, kann eine neue Diskriminierung werden. So, wie der real existierende Kommunismus mit Gewalt versuchte, die Menschen zu einer „Brüderlichkeit“ zu zwingen, die die Apparatschiks selbst nicht hatten, so kann auch „Transgender“ eine Diktatur werden, die im Sinne der „Kulturrevolution“ (Mao) nichts gelten lässt, was nicht von ihr bestimmt wird. Unisex-Toiletten, Tampons für Transgender-Personen auf Herrentoiletten etc. [o].
Es könnte sein, dass die ganze Welt, aus dem aggressiven Impuls heraus, sie so zu gestalten, dass keinerlei Diskriminierung mehr möglich ist, irgendwann eine solche wird, in der sich Mann und Frau, wie sie geboren wurden, in einer scheinbaren Minderheit wiederfinden. Es könnte sein, dass massive politische Strömungen aufkommen, die diese „Anti-Diskriminierungs-Politik“ überall durchsetzen und mit Millionenaufwand Flyer, Poster und Plakate drucken, auf denen zum Beispiel steht: „Wähle dein Geschlecht!“ Eine solche letztlich geradezu Orwellsche Welt ist durchaus denkbar. Denn es wird nicht gesehen, dass das gewaltsame Aufrechterhalten und das gewaltsame Aufbrechen von Rollen eines gemeinsam haben: ein Zuviel, ein massiv Übergriffiges.
Das Relativierende kann so weit gehen, dass sogar vorgeschlagen wird, Vergewaltigungs-Opfer neutral bloß noch als „Erlebende“ zu bezeichnen. In dem entsprechenden Artikel der taz heißt es, dieser Begriff treffe „keine Aussagen über Motivationen und Rollenverteilungen“. An solchen Vorstößen kann man empfinden, wohin die Tendenz geht: Sie geht in Richtung einer Beseitigung jeglichen Empfindens, jeglicher Unterschiede. Im Grunde wird hier das Herz ausgeschaltet. Es ist ein rein abstraktes Denken, das ohne Empfindung alles aufheben will, was Wertung, Färbung ist. Hier aber liegt gerade die Realität des Lebens. Nur ein Computer würde bei einer Vergewaltigung allein Person A und Person B unterscheiden. Konsequenterweise müsste man auch das Wort „Vergewaltigung“ ändern in „Erlebnis-Gebung“.
Befreiung oder Verschwinden des Fühlens
Letztlich wird in dem genannten Artikel deutlich, dass es den Autorinnen auch darum geht, die betroffene Frau nicht in der Weise als „Opfer“ zu stigmatisieren, dass sie fortan nur noch unter dieser Kategorie wahrgenommen wird. Ein Er-lebnis kann innerlich irgendwann auch abgeschlossen werden. Und es wird am Ende auch gesagt, dass es gerade die Betroffenen selbst sein sollen, die entscheiden, wie sie sich wahrnehmen und dann auch beschreiben (Opfer, Überlebende, Betroffene usw.). Insofern schlagen die Autorinnen nur einen Begriff vor, der ergänzend zu allen übrigen auch verwendet werden kann, wenn die Frau es will. Ihr Recht ist es, zu definieren, wie sie wahrgenommen werden will. Dies hätte der Artikel aber ganz anders deutlich machen können. So bleibt ein schaler Nachgeschmack. Viel zu sehr regiert in diesem Artikel jener Intellekt, der zwar alles richtig sezieren und analysieren kann, aber nicht in der Lage ist, Leben in sich zu tragen (obwohl er dieses Wort gerade verwendet), geschweige denn Wärme...
Der entscheidende Punkt ist, dass es in einer Vergewaltigung immer Täter und Opfer gibt. Es gibt einen Täter – und eine Frau, die die Tat erleiden muss, auch wenn sie sich vielleicht aktiv wehrt. In dem Moment existieren Täter und Opfer ganz eindeutig. Eine ganz andere Frage ist, wie die Frau mit diesem biografischen Erlebnis später umgeht und von der Außenwelt umgegangen wissen will. Vielleicht möchte sie Verständnis, vielleicht möchte sie vergessen, vielleicht verarbeitet sie das Erlebnis sehr aktiv. Dennoch war sie in dem Moment Opfer einer tief demütigenden Gewalt-Tat. Eine Frau kann ein zweites Mal zum Opfer werden, wenn man sie von da an nur noch in ihrer Opfer-Rolle wahrnimmt. Sie kann aber auch zum zweiten Mal ein Opfer werden, wenn man intellektuell dieses Opfer-gewesen-Sein relativiert und wegdiskutiert.
Der Vorschlag des Begriffes „Erlebende“ kann mancher Frau helfen, sich aktiver dem Erlebnis gegenüberzustellen und aus der Opfer-Rolle herauszukommen. Er kann aber für viele Frauen auch wie ein unfassbarer Zynismus wirken. Ebenso könnte man Kriegsflüchtlinge als „Krieg-Erlebende“ bezeichnen oder Globalisierungs- und Profitopfer als „Hartz-IV-Erlebende“. Die mitschwingende Botschaft ist immer auch: Du bist selbst schuld, wenn du dich als Opfer siehst. Darum geht es aber nicht. Der Begriff „Opfer“ bedeutet zunächst alles leidvolle, unfreiwillige Erleiden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine vergewaltigte Frau hat das Recht darauf, dass das anerkannt wird – und sollte nicht befürchten müssen, dass sie mitleidig belächelt wird, weil sie in diesem Zusammenhang tatsächlich den Begriff „Opfer“ wählt, weil sie es so empfindet. Je mehr Begriffe aber auftauchen, desto mehr setzt ein neuer Leistungszwang ein, doch einen der „emanzipierteren“ Begriffe zu wählen. Ich-Stärkung und Mangel an Empathie, Empfindungslosigkeit bis hin zum Zynismus liegen hier sehr nah beieinander.
Im Grunde müsste jeglicher Ich-Impuls aus einer vertieften Empathie hervorgehen. Die Empathie müsste das erste sein – daraus erst dürfte der Versuch einer inneren Stärkung hervorgehen. Alles Andere ist abstrakt-intellektuelle Diktatur ohne Bezug zum realen Wesen und Leben der Seele. Der Kopf kann noch so vernünftig sein – wenn er nicht begreift, wie sehr ihm bereits der Zusammenhang zum lebendigen und warmen Fühlen verlorengegangen ist, kann er immer nur dazu beitragen, dass der Welt dieses Fühlen und alle Seele noch weiter ausgesaugt wird. Er selbst ist es, der das tut, weil in ihm inmitten alles ach so „Vernünftigen“ längst die Gegenmächte wirken, die darauf gerichtet sind, das Denken vom vollen Menschenwesen immer weiter abzutrennen.
Weder Mann noch Frau
Es gibt Menschen, die sich so massiv mit der „Genderfrage“ auseinandersetzen, dass sie jede Geschlechtsfestlegung ablehnen. Lann Hornscheidt arbeitete bis vor kurzem an der Humboldt Universität Berlin. Auf der entsprechenden Seite steht:
Wenn Sie mit Lann Hornscheidt Kontakt aufnehmen wollen, verwenden Sie bitte respektvolle Anreden, die nicht Zweigeschlechtlichkeit aufrufen. Bitte vermeiden Sie zweigendernde Ansprachen wie "Herr ___", "Frau ___", "Lieber ___", oder "Liebe ___". Es gibt nicht die eine richtige und gute Anrede, sondern es bedarf respektvoller neuer Anredeformen – ich freue mich auf Ihre kreativen anti-diskriminierenden Ideen.
Dieser Mensch bezeichnet Worte, die sich auf die Geschlechtertrennung beziehen, also als respektlos und diskriminierend. Der Grund dafür ist, dass er nicht als das eine oder andere Geschlechtswesen angesehen werden möchte. Auf seiner eigenen Webseite schreibt er:
Ich verstehe mich als entzweigendernd. Das heißt: ich verstehe mich weder als Mann noch als Frau und lebe auch nicht als Frau oder Mann. Dies lebe ich auch darüber, dass ich neue Sprachformen für mich wähle. Diese fordern die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit heraus. Momentan benutze ich die Endung –ecs und das Pronomen ecs als Bezugnahme 3. Person Singular.
Ecs steht für Exit Gender, das Verlassen von Zweigeschlechtlichkeit. [...] Die Form ist identisch in allen Fällen. Ein Beispielsatz: „Lann und ecs Freundecs haben ecs Rad bunt angestrichen.“
Man mag das übertrieben finden, abgedreht, weltfremd oder anderes. Dennoch ist es die konsequente Umsetzung eines individuellen Entschlusses und einer persönlichen Selbst-Bestimmung. Es ist ein Freiheits-Akt. Und so, wie Christian Morgenstern und andere Dichter sprachschöpferisch wurden oder spielerisch die Sprache dekonstruierten, aber auch erweiterten, so verändert dieser Mensch die Sprache, um ihr das in seinen Augen diskriminierende Element zu nehmen: dass sie keine Möglichkeit enthält, sich als bewusst geschlechtsloser Mensch in ihr auszudrücken.
Die Anzüglichkeiten eines Brüderle
Einen Gegenpol stellt die „Affäre Brüderle“ dar, die vor vier Jahren die Gemüter erhitzte. Damals hatte die 29-jährige Journalisten Laura Himmelreich im „Stern“ in einem Porträt über den Politiker auch ihre eigene Erfahrung wiedergegeben:
Für mich ist es nicht immer angenehm, 29 Jahre alt zu sein, eine Frau und Politikjournalistin. Das liegt an Männern wie Rainer Brüderle, der neuen, nun ja, Lichtgestalt der FDP.
Es war vor einem guten Jahr, in der Nacht vor dem Dreikönigstreffen in Stuttgart. Wie jedes Jahr stehen Journalisten und Liberale an der Bar des Hotels Maritim zusammen. Rainer Brüderle hat ein Glas Weißwein in der Hand. Ich möchte von ihm wissen, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Er will lieber über etwas anderes sprechen: mein Alter. Auf 28 Jahre schätzt er mich. Ich sehe ihn erstaunt an, weil das zu diesem Zeitpunkt stimmt. "Mit Frauen in dem Alter", sagt Brüderle, "kenne ich mich aus."
Ich frage, was er in seiner Rede wenige Stunden zuvor meinte, als er beklagte, Deutschland verändere sich nicht schnell genug. Brüderle möchte wissen, woher ich komme. "München", antworte ich. [...] Brüderles Blick wandert auf meinen Busen. "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen." [...]
Der FDP-Hoffnungsträger befindet sich selbst in einem Zustand von Dauererotisierung. Er gefällt sich als Verkörperung des wandelnden Herrenwitzes. Den Ruf des Unseriösen nimmt er in Kauf, solange die Männer um ihn herum lachen.
Brüderle steht für all jene Männer, die noch immer patriarchal denken und nicht wissen, wie ekelhaft und übergriffig sie sich benehmen. Männer, die wie eitle Pfauen das Gift der Anzüglichkeiten verspritzen und sich ganz bewusst oder aber unbewusst von diesen Übergriffen, dem Machtgefühl, der subtilen Demütigung und dem Besitz-Erleben zumindest in diesem Moment real nähren. Diese Menschen wären gleichsam ein Nichts, eine leere Hülle, wenn sie nicht immer wieder den Machtkitzel des seelisch Übergriffigen kosten könnten. Armselige alte Herren sind es – aber durch ihre Übergriffe, unter anderem durch ihre „Altherrenwitze“, saugen sie wie ein Vampir fremdes Leben in sich hinein.
Vom Wesen des Übergriffigen
Der Machtkitzel – das ist einer der stärksten Versuchungen, die die Gegenmächte in der menschlichen Seele aufleben lassen wollen. Jeder Übergriff verletzt die Freiheit und die Integrität eines anderen Menschen (oder überhaupt eines anderen Wesens) – und ist ein Übertritt des eigenen ,Wesens’ in das andere, um sich durch diesen Übertritt zu nähren. Es ist Lust an der Unterwerfung. Dies kann sehr subtil sein, aber jeder Übergriff ist eine Unterwerfung, denn die Freiheit und das Wollen des anderen Menschen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Im Gegenteil – das Empfinden, den Willen des anderen Menschen gerade zu verletzen und in ihn einzubrechen, gibt gerade dieses besondere Gefühl der Lust, der Macht über das verletzte Freiheits-Wesen eines anderen Menschen.
Das kann der Chef sein, der sich bewusst oder unbewusst daran nährt, Macht über die ihm Untergebenen zu haben. Oder es kann der Mann sein, der sich daran nährt, dass ihm ein weibliches Wesen in irgendeiner Weise ausgeliefert ist – sei es, dass es seinen Worten nicht entfliehen kann, sei es, dass es sogar physische Übergriffe zulassen muss.
Insbesondere die Frauen trifft dieses Übergriffige, weil sie das schwache Geschlecht sind. Und für dieses Übergriffige gibt es keine Grenze, das Ausmaß ist letztlich fast unvorstellbar. Ob es die jährlich tausendfachen Morde an Frauen im machistischen Südamerika sind [o], die jährlich tausendfachen Vergewaltigungen innerhalb der US-Armee [o], die millionenfache Genitalverstümmelung an Mädchen in Afrika und Nahost [o], die geradezu selbstverständlichen sexuellen Übergriffe in der arabischen Welt [o o] – weltweit werden Frauen zu Opfern männlicher Gewalt. Und in jedem einzelnen Fall siegen in der männlichen Seele die dunklen Impulse von Lust, Machtkitzel und Dogma – und machen den Mann zu einem Un-Menschen, zu einem Täter, der die Frau letztlich als Objekt und Eigentum behandelt und misshandelt. Zu einem Un-Menschen, der in die Freiheit der Frau einbricht, der sie psychisch und physisch verletzt, sie vergewaltigt und sie sogar tötet.
All dies ist nur die Spitze des Eisberges. Das ganze Drama besteht in dem Bewusstsein des Mannes – und in ganzen Kulturen, in denen die Frau im Grunde fast schon als Opfer geboren wird, weil sie den Übergriffen der Männerwelt gar nicht entrinnen kann.
Das sanfte Wesen
Der volle Gegensatz zu diesem unmenschlich gewordenen, übergriffigen Wesen des Mannes, das getrieben wird von den Gegenmächten alles Menschlichen, wäre ein Wesen, das in keinster Weise die Freiheit und das Wesen eines anderen Menschen antastet. Ein Wesen, das dazu nicht einmal in der Lage ist – weil sein Wesen gerade darin liegt, das Geheimnis der Sanftheit zu offenbaren. Ein Wesen, das so sanft ist, das es unmittelbar berührt – nicht äußerlich durch aktives, übergriffiges Tun, sondern innerlich, durch sein Wesen, das nichts von alledem hat.
Ein solches Wesen ist das Mädchen. Es ist ein Urbild. Ich meine das Mädchen, das ganz eins ist mit seinem eigenen Ursprung, das sich wie eine Quelle noch in keiner Weise von seinem eigenen Ur-Wesen entfernt hat und also auch wie sie noch ganz rein und unschuldig ist.
Da mögen alle aufschreien, die das wollen. Es geht hier nicht um eine neue oder alte Rollenzuschreibung. Jeder Mensch und auch jedes Mädchen ist frei, sich von allem hier Gesagten unendlich weit zu entfernen. Und doch sind Ur-Bilder etwas Reales. Es sind nicht nur Mythen einer patriarchalischen Gesellschaft. Frauen sind einfach nicht für Krieg und Gewalt geboren. Männer vielleicht auch nicht. Aber wofür Männer definitiv nicht geboren sind, das ist, selbst wiederum Leben zu gebären, zu säugen und sanft und warm zu umhüllen. Das Sanfte ist gerade das Wesen des Weiblichen – und das Unschuldige ist gerade das Wesen des Mädchens, sein ganz ursprüngliches Wesen.
Ich habe dieses Wesen in meinem in der Adventzeit erschienenen Buch „Von den Mädchen“ in seiner ganzen Tiefe erlebbar zu machen versucht – auch mit Hilfe der Dichter und Dichterinnen, denn gerade das Wesen der Mädchen, aber auch das Wesen des Sanften überhaupt lässt sich im Grunde nur durch Poesie ausdrücken. Erst in der Poesie vermag die Sprache selbst wieder so sanft und unschuldig zu werden wie das, was sie zu beschreiben versucht.
Die Erlösung des Weiblichen
Der Feminismus hat die Frauen gelehrt, zu kämpfen – und sich auf diesem Wege zu befreien. Aber das war nur die halbe Befreiung – wenn überhaupt. Die wirkliche Befreiung wäre es nicht, sich in einer noch immer männergeprägten Welt zu behaupten und dort „seinen Mann stehen zu können“. Die wirkliche Befreiung würde die Befreiung der Männer mit einschließen. Sie sind es, die befreit werden müssen – aus der dunklen Macht, von der sie besessen sind.
Das aber würden die Frauen nur können, wenn sie mit den Waffen der Sanftheit gegen die dunkle Macht selbst kämpfen – und das wäre zugleich Manichäismus im tiefsten Sinne. Verwandlung der Welt durch das Geheimnis der Liebe. Denn Sanftheit ist nichts anderes. Sie ist wesenhaft gewordene Liebe.
Sich emanzipierende Frauen definieren ihr Frausein, wie sie wollen – weil sie nicht darauf reduziert werden wollen und es darüber hinaus selbst bestimmen und ausleben wollen, nach ihren individuellen Vorstellungen. Der alles überragende Impuls ist der der Individualisierung, der Ich-Impuls. Dieser aber ist in unserer Zeit zugleich tief durchdrungen von den Impulsen des Selbstbezuges, des Egoismus, des Genussstrebens (um nicht zu sagen der Genuss-Sucht) und dem Hinabziehen der Seele in das bloß Körperliche, dem Verlust aller zarteren Empfindungen und Gedanken.
Etwas vereinfacht könnte man sagen: Die sich emanzipierenden Frauen tun genau das Gleiche wie die Männer: sie folgen dem generellen Impuls der sehr selbst-bezogenen „Selbstverwirklichung“. Sie ordnen ihr Frausein diesem von sehr viel Ego und einer immer weiter zunehmenden Abstraktheit korrumpierten Ich-Impuls unter.
Der Gegenpol wäre ein Mädchen, das auf alle „Emanzipation“ verzichtet, weil es gleichsam sein Recht wahrmacht, ganz Mädchen zu sein – und zwar in wirklich urbildhafter Unschuld. Und in diesem Sinne kann man wahrhaft sagen: Die Welt braucht noch eine zutiefst weibliche Emanzipation. Denn solche Mädchen, die zurückfinden zu dem Wesen, das nur die Mädchen so sehr haben, oder die sich von diesem Wesen gar nicht entfernen – sie bräuchten nicht sich zu emanzipieren, sondern sie würden durch ihr ganzes Wesen die übrige Welt emanzipieren, nämlich befreien, erlösen, heilen ... von dem Alpdruck des Dunklen, des Harten, Brutalen, Gewalttätigen, Empfindungslosen.
Leib und Seele
Selbstverständlich dürften diese Mädchen – und Frauen – nicht allein bleiben. Ihnen müssten Jungen und Männer zur Seite stehen, die in gleicher Weise den Mut haben, den dunklen Alp der Seele zurückzuweisen. Und hier ist deutlich, um was es geht: um die Rettung der menschlichen Seele.
Es geht um die Bewusstwerdung des ursprünglichen, reinen Seelenwesens überhaupt. In den Mädchen aber ist dieses noch am wenigsten verschüttet. Und um das Rückgängigmachen dieses Verschüttetseins und -werdens geht es. Es geht um das reine Seelenwesen, um seinen heiligsten Kern. Hier liegt die Zukunft des Menschlichen, des Mensch-Seins, nirgendwo anders.
Das reale, heilige Menschenwesen entscheidet sich nicht an der Frage, ob der Mensch sich äußerlich-leiblich als Mann oder Frau oder keines von beidem oder beides zugleich versteht. Das heilige Menschenwesen liegt in dem, was jenseits des bloß Leiblichen lebt. Die sanfte Seele, die sich Sanftheit errungen hat, jetzt oder in früheren Leben, eine Sanftheit, die sich zu einer tiefen, zugleich aber auch zutiefst zarten Liebe steigert – sie ist es, die mit diesem heiligen Geheimnis des Menschen unendlich viel zu tun hat.
Deswegen sind alle Genderfragen ein Nebenschauplatz, sogar einer, der mit in die Irre führen kann. Denn alle diese Fragen machen sich viel zu sehr an der bloßen Leiblichkeit fest – Symptom einer materialistisch gewordenen Welt, die zwar überall jede nur mögliche Diskriminierung beseitigen will, aber die noch viel wesentlicheren Fragen verliert. Was nützte eine Welt, in der „Gender“ völlig gesiegt hätte, jeder nach seiner Façon glücklich werden könnte, der Mann als Frau, die Frau als Mann, der Geschlechtslose als „Ecs“ – in der aber dennoch jedes Individuum immer selbstbezogener, empfindungsloser und einsamer werden würde? Was nützt ein „Gender-Paradies“ in einer seelenlos werdenden Welt? Was nützt die volle sexuelle Befreiung und Gleichberechtigung für Schwule, Lesben, Bi, Trans, Nix und alle anderen existierenden oder noch zu erfindenden sexuell-leiblichen Orientierungen, wenn alles Suchen immer mehr ohne Erfüllung bleibt oder immer mehr in die bloße Körperlichkeit versinkt?
Die wirkliche Frage betrifft die menschliche Seele – ihre Rettung. Was das wirklich bedeutet, wird man erst in der Meditation erleben. Der Mann, wie er sich heute darlebt, als profitmachender Unternehmer, als Macho, als Übergreifer und Gewalttäter gegenüber Natur und Mensch, immer aber auch der Frau, ist das Ende der Menschheit, ist ihr Vernichter. Das Mädchen, wie es sich heute immer weniger darlebt, als sanftes Wesen voller Mitleid und reinsten Seelenregungen, unschuldig und jeder Härte unfähig, ist die Zukunft der Menschheit, ihre Heilerin.
Das Opfer
Die Männer machen heute unzählige Mädchen und Frauen zu Opfern. Aber sie sind selbst Opfer ihrer eigenen Einseitigkeit geworden, die zur Unmenschlichkeit führt, zum radikalen Vorbeigehen an allem, was erst in Wahrheit menschlich genannt werden könnte.
Wenn sie aus ihrem Opfer-Schicksal herauskommen wollen, müssen sie aktiv werden – aber in der eigenen Seele. Nicht „mehr vom Gleichen“, sondern radikale Umkehr! Die Frauen haben sich selbstständig gemacht, auf eigene Füße gestellt, gelernt zu kämpfen. Der Mann muss lernen, weich zu werden, verständnisvoll, liebend, ohne Macht.
Wenn die Menschheit den Christus finden will, kann sie ihn nur auf diesem Weg finden: dem Weg der Ohn-Macht. Da, wo die Herzen empfindsam werden, in der Tiefe berührbar, wo sie Opfer werden – im besten Sinne. Hingabe ist Opfer – dies ist dann ein absolut positives Wort. Sich hingeben und noch den zartesten Eindruck in vollkommener, unschuldiger Hingabe aufnehmen können, gleichsam sein Opfer werden wollen. Das ist ... Liebe.
Da, wo die Seele aus der Opfer-Rolle nicht heraus will, sondern wo sie liebend gerade nichts anderes werden will als ein hingebungsvolles Opfer dessen, was an die Seele herantreten will und in aller Tiefe und Empfindsamkeit von ihr aufgenommen werden will – da ereignet sich sie die wahre Kommunion. Da, wo die Seele sich sanft „überwältigen“ lässt, da erst ist wahre Vereinigung möglich – das Durchbrechen der selbstbezogenen Einsamkeit, der Leibgebundenheit und des Ego-Impulses.
Dieser heilige Weg zum wahren Wesen der Seele, das in aller Fülle die Liebe kennt und in sich trägt, er ist möglich. Und wer kann ihn lehren? Das Mädchen... Es lehrt ihn durch das, was es ist.