21.06.2017

Vom Leuchten eines Mädchenherzens

aus: Holger Niederhausen: Liebesbriefe einer reinen Seele. Books on Demand, 2015.


Liebe Brüder!

Wenn Ihr nun aber trotz allem die Welt zu wenig liebhabt, dann lasst mich versuchen, Euch zu helfen, Euch an Eure Liebe wieder zu erinnern. Denn irgendwo in Euch wartet sie ganz sicher darauf, da sein zu dürfen. Man ist nicht geboren worden, um keine Liebe zu haben...

Seid Ihr einmal an einem frühen Morgen aufgestanden und habt alles in diesem besonderen Licht gesehen? In diesem wunderbaren Morgenlicht? Alles ist dann so zart, so neu, so frisch... Es gibt noch überall diese Morgenschatten und dann überall diese wunderbaren Farben, so deutlich, so farbig... Wie ein Wunder! Man schaut sich um, alles liegt noch ruhig und still da – und alles fühlt sich so ... heilig an.

Hier müsst Ihr es wirklich verstehen, wenn ich das sage, liebe Brüder! Heilig, unberührt, vom Wunder des frühen Morgenlichtes überstrahlt ... das müsst Ihr doch auch schon erlebt haben? Und dann das tauglänzende Gras. Von irgendwo vielleicht schon das leise Bimmeln weidender Schafe. Stille, Frieden, der langsam erwachende Morgen...

Liebe Brüder, das ist einfach ein Wunder! Aber das muss doch eigentlich jeder erleben?

Aber wenn man das nicht erleben würde... Ich habe mich gerade gefragt, ob es etwas Schlimmeres, Traurigeres geben könnte. Aber was könnte noch trauriger sein, als ein Wunder nicht mehr erleben zu können? Dann kann man doch eigentlich gar nichts mehr erleben...

Und wenn ich dann an einem frühen Morgen ... ich muss es einfach erzählen, liebe Brüder! Wenn dann an einem frühen Morgen in den Bergen auch die kleine Kirche des nächsten Ortes noch vollkommen friedlich daliegt, wenn noch kein Mensch unterwegs ist, aber das Morgenlicht hüllt schon die ganze Welt in seinen frischen, zauberhaften Glanz ein, und die kleine Kirche erhebt sich vor dem Hintergrund der friedlich-majestätischen, wunderschönen Berge – ach, dieser Augenblick ist nicht zu beschreiben!  

Aber dann ist man an der kleinen Kirche angekommen. Kein Mensch ist zu sehen, man steht ganz allein vor der großen Tür. Man öffnet sie... Man steht im Vorraum, schließt die Tür wieder, völlige Stille... Und nun öffnet man die andere Tür – zum Raum der Kirche... Diese Stille, die einen nun umgibt, ja empfängt, dieser unglaubliche Friede ist wirklich niemals und niemals mit Worten zu beschreiben! Es ist das Heiligste von allem.

Draußen ist der Morgen heilig, so wunderschön! Aber es ist, als würde selbst der zauberschöne Morgen sagen: ‚Ja, ich bin heilig, und du sollst es fühlen, denn ich bin es für dich... Aber eigentlich, im tiefsten Sinne, bin ich es für Gott und durch Gott, und wenn du einen noch viel heiligeren Zauber finden willst, ja, wenn du ihn ertragen kannst, so gibt es noch einen unaussprechbaren Ort...’

Das ist die ganz frühe Morgenstunde in einer Kirche in den Bergen! Oh, liebe Brüder, wenn ich noch andere Worte finden könnte! Wie ist es möglich, dass wir Menschen so etwas erleben dürfen? Was für ein Wundergeschenk ist unsere ganze Welt – eine Welt, in der man so etwas erleben kann, immer wieder...

Und wenn man erst einmal die einen Wunder erlebt, erlebt man auf einmal auch alle anderen. Man ist umgeben von Wundern!

Ein Spinnennetz am frühen Morgen... habt Ihr einmal überlegt, wie eine so kleine, liebe Spinne ein so wunderschönes Netz machen kann? Über Nacht? Vielleicht sogar nur in den frühen Morgenstunden? Wie fleißig dieses kleine Tier ist – und wie wunderschön sein kleines Netz?

Oder hattet Ihr einmal einen Schmetterling auf der Hand ... habt Ihr einmal aus nächster Nähe seine schimmernden Flügel gesehen? Und seinen winzigen Rüssel, mit dem er versucht, auf Eurem Finger zu lecken? Man staunt nur ... man staunt und liebt dieses winzige Tier, das so zart ist, das nur so kurz lebt, aber jetzt ist es hier, jetzt leckt es mit seinem ausgerollten Rüssel den Finger...

Oder habt Ihr einmal das Nachmittagslicht gesehen? Wenn bald die Sonne untergeht? So anders als am Morgen! Zartes, frisches Frühlicht ... goldenes warmes Nachmittagslicht. Beides ist so friedlich, aber selbst der Friede ist anders. Das wundervolle Erwachen des Tages ... und das wundervolle, so andere Sich-Neigen des Tages. Goldenes Licht, das die warmen Kiefernstämme bescheint, während unter ihren Zweigen die Mücken spielen... Am Boden liegen die Kiefernzapfen, man sieht einige Ameisen krabbeln, einen Käfer ... man riecht den Duft der Kiefern, und alles ist, wie es sein soll – man ist einfach glücklich.

Ach, es ist aber immer wieder das Licht, das alles so besonders macht! Das Morgenlicht, das Abendgoldeslicht, die Mittagssonne... Das Frühlingslicht, die Herbstsonne, die Sonne an einem Wintermorgen! Ach, haben Sie schon einmal wirklich gesehen, wie das Licht durch die herbstlichen Blätter scheint? Was für ein Wunder... Selbst wenn die Blätter schon am Boden liegen! Die Menschen gehen da einfach daran vorbei, aber für mich ist dann selbst der Boden bedeckt mit einem Wunder von Licht, von farbigem Leuchten...Und die lieben, abgefallenen, ja vielleicht schon vertrockneten Blätter, welche Schönheit, noch wenn sie am Boden liegen!

Und dann aber auch der Geruch des Herbstes; die Ruhe, die ganz anders ist als im Sommer, das langsame, langsame Sich-Vorbereiten auf den Winter. Das alles gehört immer zusammen...

Haben Sie einmal einen Regenbogen gesehen? Ein Vogelnest mit kleinen Vögeln drin? Ein ganz kleines Lamm? Ich meine, wenn man eines dieser Wunder gesehen hat, wenn man eines dieser wunderschönen Erlebnisse hatte, kann man die Welt – die ganze Welt! – nicht mehr nicht lieben...

Aber vielleicht vergisst man das Wunder. Oder vielleicht denkt man: Das eine war ein Wunder, das Übrige ist es nicht. Aber man kann doch nicht in einer Welt, in der es einen Regenbogen oder ein Nest mit kleinen Vögeln gibt, dem Anderen gegenüber gleichgültig sein? Man kann dann doch nichts gegenüber mehr gleichgültig sein?

Ach, liebe Brüder, man kann doch nicht das kleine Lamm lieben und nicht auch den überfahrenen Frosch, die vielleicht lästige Wespe oder eine vielleicht eklig wirkende Nacktschnecke? Man hat doch trotzdem alles lieb, wenn man das kleine Lamm liebhat? Anders kann ich es mir einfach nicht vorstellen, anders kann ich es nicht verstehen...