2017
Mahatra – ein einzigartiges Einweihungsmärchen
Buchbesprechung: Franziska Oertel: Mahatra. Books on Demand, 2017 (196 S., 12,99 €). | Bestellen.
Großen Büchern ist es eigen, dass die wenigen Sätze, die als eine Art Zusammenfassung einen ersten Eindruck auf dem Einband oder Buchrücken geben sollen, ihren Zweck hoffnungslos verfehlen müssen, weil der Inhalt jede Zusammenfassung so weit überragt wie ein Berg seinen eigenen Schatten. So geht es einem mit dem Buch, über das ich hier etwas zu schreiben versuchen möchte.
„Mahatra gilt als der Auserwählte, der die Menschheit befreien wird, auf den alle ihre Hoffnung setzen. Doch er ist nur ein stiller, junger Mann, der ein einziges Mal in seinem Leben von der Last der Prophezeiung befreit wird: als er die schöne Prinzessin Aria erblickt... die letztendlich seinen Bruder heiraten wird. Mit Mahatras Flucht vor dem fremden Glück beginnt sein langer, schmerzvoller Weg zur wahren Größe und zur Erfüllung seines Schicksals.“
So lautet die Zusammenfassung dieses Büchleins – und es ist wirklich hoffnungslos, von dem Schatten (in diesem Fall: dreier armseliger Sätze) auf den realen Berg zu schließen. Obwohl das Buch nur 100 Seiten umfasst, taucht man beim Lesen mehr und mehr ein in ein Geschehen, das seinesgleichen sucht. Denn dieser Roman schildert das Größte, was ein Mensch je erreichen könnte: als Auserwählter die Menschheit von dem erdrückenden Joch des Bösen zu befreien.
Ein Ur-Thema der Menschheit. Moderne Filme wie ,Matrix’ versetzen es in eine technisierte, kalte, völlig unmenschliche Zukunft. Franziska Oertel dagegen nimmt den Leser mit in eine altindisch anmutende Welt, und ihre poetische Sprache lässt die Seele sogleich eintauchen in ein fernes Land, gleichsam jenseits aller gewöhnlichen Zeit, fern von aller profanen Gegenwart, nah aber dem wahrhaft Wesentlichen.
„Höre, Mahatra. Das Leben des alten Mannes, den du vor dir siehst, hatte nur einen Sinn: hinzuwarten auf diese Stunde. Verbeuge dich nicht, darum bitte ich dich. Du weißt, warum ich so spreche.“
Der junge Königssohn schloss die Augen, denn er ahnte es dunkel und unbestimmt. Seit vielen Jahren hatte er sich vor derselben Stunde gefürchtet, die der Priester so sehnsüchtig erwartet hatte.
Der Alte fuhr fort.
„Dunkle Zeiten sind heraufgezogen. Finsternis hat sich der Menschenherzen bemächtigt, wer die Augen hat, dies zu sehen, der sieht es. Und du hast diese Augen, mein Sohn, und darum hat sich dein Blick verschleiert, je besser du zu sehen verstandest, und er wurde wund vor Traurigkeit.“
„Es gibt auch Licht in der Welt.“, antwortete Mahatra abwehrend, denn das Wort des Weisen schnitt ihm ins Herz und er war jung – oder wollte es sein.
„Die Schatten werden es fressen“, antwortete der Priester, „so nicht einer kommt, von dem prophezeit ist, er würde den aufsteigenden Dämon besiegen können, jenen Dämonenkaiser, der sich nährt von der Finsternis in den Menschenherzen und der sich eine Gestalt erwählt in der stärksten Verdichtung, in der größten Verwirrung – inmitten des Dickichts der Gefühle und Gedanken der Menschheit. Du kennst die Legende.“
Der Priester verkündet Mahatra, dass er dieser Eine ist – aber Mahatra, der junge Königssohn, wehrt sich gegen diese Prophezeiung.
“Wer hat bestimmt, dass ich es bin und nicht ein anderer? Wer sind diese Mächte, die eines Menschen Schicksal nehmen und nach Belieben umherwerfen? Wer hat mir diese Bürde bestimmt – und ist es denn die meine? Steht nicht geschrieben, er bleibt unbekannt, bevor er sich selbst offenbart? Steht nicht geschrieben, er ist armlahm, blind und ohne Zunge? Dies soll mich erwarten? Nein, niemals!”
Damit riss er sich los und floh aus der Höhle des Priesters, lief fort, und Mahal, der wiederum auf ihn gewartet hatte, erhob sich und ging ihm entgegen, um ihn in die Arme zu schließen, auch wenn er sich nicht denken konnte, was den Bruder so bewegte.
Und dieser sagte es ihm auch nicht.
Da nahm Mahatra den Schmerz und begrub ihn in seinem Herzen.
Im Traum der ersten Nacht schaufelte er voller Wut das Grab.
Im Traum der zweiten Nacht stieß er die Verzweiflung über den Rand in den Sarg, doch sie klammerte sich an seiner Seele fest.
Im Traum der dritten Nacht stieß er seine Seele hinterher und schob die Grabplatte darüber.
Und in jeder folgenden Nacht schaufelte er Erde über diesen Stein, bis ein großer Hügel entstand.
Mahatra flüchtet sich in das äußere Leben, und sein Schmerz wird vollständig, als er Prinzessin Aria erblickt, aus einem benachbarten Königreich, die die Frau seines Bruders, des künftigen Königs, werden soll.
Voller Verzweiflung flieht Mahatra aus seiner Heimat und kommt in das seltsame Waldland Whyfarhen, wo die bezaubernden Waldpflegerinnen leben. Vor der Schwelle ihres Tempels fällt Mahatra in eine Art Einweihungsschlaf, und in seinen Träumen beginnt er, den unendlichen Berg über seiner Seele wieder fortzutragen...
Zwei Winter durchlebt Mahatra in diesem Zustand, dem Tode näher als dem Leben, dann erst ist das Werk vollbracht.
Und es kam der Tag, da kehrte seine Seele zu ihm zurück, und in seinem Herzen öffnete sich der Grund und gab eine strahlende Kammer frei. Da war ein Weg, der hinabführte in den glänzenden Raum, und er fand nicht mehr den Zorn in sich, die ihn einst fortgetrieben hatte. Verwundert durchschritt er fremde Räume. In dem schönsten von allen fand er die Bürde, sein Schicksal, und es war seine Seele selbst. Und er öffnete die Arme und sie floh in sein Herz und Mahatra erwachte.
Als er erwacht, ist er blind – er hat das Sehen verlernt. Doch als er sich mit dem Willen zu sehen durchdringt, erkennt er nicht nur die Außenseite der Dinge, sondern auch die Wirklichkeit dahinter.
Bis zu diesem Punkt, an dem Mahatra seinen Einweihungsweg längst begonnen hat, ist noch nicht ein Siebtel des Buches durchschritten. Und auch der eigentliche Leidensweg von Mahatra hat gleichsam noch nicht einmal begonnen. Das weitere Geschehen des Romans soll nicht erzählt werden, denn es will nicht zusammengefasst, sondern vollständig durchlebt werden. Es ist eine Welt, die sich hier auftut – die Welt einer erschütternden, vollkommenen Verwandlung, geboren aus allergrößten Prüfungen, die Mahatras Seele läutern wie in einem Feuerofen, einem unerbittlichen Malstrom des Unvorstellbaren. Was aber aus diesem unnennbaren Leiden geboren wird, ist gleichsam reinstes Licht.
Selbst die Grenzen von Leben und Tod verschwimmen in diesem Geschehen, es lässt sich nicht beschreiben, und auftauchend aus dieser Dramatik gewahrt man, dass technische Machwerke wie ,Matrix’ oder auch ,Herr der Ringe’ dem hier beschriebenen Geschehen nicht einmal gleichen wie ein flackernder Kerzenschein der Sonne. Man möchte das hier Beschriebene mit der ,Sonne um Mitternacht’ vergleichen – und das ist es auch wirklich.
Als der Kampf gegen den Dämon der Finsternis immer mehr herannaht, ergreift das Geschehen sogar die Toten, selbst im Totenreich muss man sich entscheiden. Und dann ist da noch die Seele von Shendo, seines eigenen Volkes, und selbst sie stellt sich gegen Mahatra, hat sich dem Dämon verschrieben, weil Mahatra einst seine Bestimmung verleugnet hatte.
Mahatra aber befindet sich längst auf dem Pfad der Hingabe. Gegen nichts mehr stellt er sich, was mit seinem eigenen Schicksal zu tun hat. Er durchlebt das Mysterium der völligen Opferung. Aber mit allem, was er hingibt, und er gibt wirklich alles hin, was er ist, wird er geheimnisvoll ein Träger einer allerlösenden Kraft. Und die Poesie der Autorin führt dazu, dass man dies nicht nur liest, sondern dass das Geschehen einen mitnimmt. Das Geheimnis der Katharsis durchzieht dieses Büchlein. Vereint mit Mahatra, den die eigene Seele staunend und erschüttert begleitet, macht auch sie ein kathartisches Geschehen durch. Das jedes Menschenmaß übersteigende Geschehen geht auch an ihr nicht spurlos vorbei. Wie mit einem ewigen Licht leuchtet in fast mythischen Bildern das heilige Ur-Geheimnis in die Seele hinein.
Dieses Geheimnis muss nicht in Worte gefasst werden – die menschliche Sprache ist überhaupt noch nicht heilig genug, um es fassen und aussprechen zu können. Und so kann es nur in Bildern ausgedrückt werden. Und das hat Franziska Oertel getan. Scheinbar ein Märchen, führt es doch in die tiefste Wirklichkeit hinein – und die Seele weiß es.