02.09.2017

Die Physiologie der Unschuld

Meditative Betrachtungen über die heilige Sphäre innerer Anmut.


Inhalt
Annäherung an die reine Seele
Das Mädchen in ,Frau Holle’
Das badende Mädchen
Lebendige Keuschheit
Die Physiologie der Unschuld


Annäherung an die reine Seele

Es gibt Bereiche der Wirklichkeit, die sind so heilig, dass man sich ihnen auch nur mit heiliger Seele nähern kann. Anders bleiben sie einem verschlossen. Man kann es dann mit Profanität, mit Spott, mit was auch immer versuchen – es bleibt ein heiliger Schutzraum, den man nie überwinden kann.

Ein solches Heiligtum ist das Innere eines Mädchens mit einer reinen Seele.

Es geht nicht darum, schnell die Frage zu bilden, ob ein solches Mädchen denn existiert. Es geht um seine Realität an sich – und würde sie nur als Möglichkeit existieren, etwa im Märchen. Jeder Mensch hat von all diesen Dingen ein sehr genaues Empfinden. Obwohl wir an diese Dinge normalerweise nie denken – was schlimm ist –, wissen wir, was eine reine Seele sein würde. Dazu muss man nur alle Alltags-Profanität abschütteln, man muss es wagen, in einen reinen, heiligen Bereich einzutreten. Es ist auch ein heiliger Bereich der eigenen Seele. Und in diesem Reich weiß sie, was das ist: ein Mädchen mit einer reinen Seele. Und sie weiß auch, dass es ein absoluter Unterschied ist, ob es ein Junge ist oder ein Mädchen. Tief innerlich in der Seele werden alle Qualitäten tief empfunden – um wieviel mehr eine solche grundlegende Polarität.

Die Seele weiß, dass die reine Seele eines Mädchens nicht erreichbar ist ... von einer Seele, die nicht Mädchen ist. Wer diese Erkenntnis abtun oder verspotten wollte, würde damit nur beweisen, dass er nicht diese Seele eines Mädchens hat. Denn das Mädchen würde niemals spotten...

Abstrakt kann man alles behaupten. Und es gibt eine Kraft in der Seele, die alle Unterschiede hasst. Der Faule soll gleichviel gelten wie der Fleißige, der Spötter dünkt sich ebensoviel wert wie der Heilige – und ein Junge oder Jüngling soll eine gleich reine Seele haben können wie ein Mädchen. Das ist aber nicht wahr. Die Seele eines Jungen kann auch sehr rein sein. Die reine Seele eines Mädchens aber ist damit gar nicht vergleichbar. Es ist, wie wenn sie für das Lichte, das Reine, geradezu geschaffen wäre. Das Mädchen ist in seinem Wesen viel freier von den Gegenkräften als der Junge. Man könnte es empfinden, wie wenn selbst ein Junge mit reiner Seele die Gegenkräfte bis auf Handbreite an sich herankommen lassen müsste, während sie einem Mädchen mit reiner Seele auf Armeslängen fernbleiben müssten...

Man braucht nur bestimmte Märchen wirklich mit dem Herzen aufzunehmen, um dieses Geheimnis bis in die Tiefen erleben zu können. In meinem Buch ,Von den Mädchen’ habe ich versucht, dieses Mysterium der Unschuld wirklich erlebbar zu machen.

Man könnte sagen: Das Mädchen wurde auserwählt, die übrige Menschheit – die Jungen, die Männer, die Frauen – an dieses Mysterium fortwährend zu erinnern...

Wir wissen zunächst gar nicht, was dies bedeutet: eine reine Seele. Wir haben nur eine aller-vageste Erinnerung, eine aller-vageste, abstrakte Vorstellung. Es ist schon viel, wenn wir den Begriff der Seele an sich wirklich und wahrhaft ernst nehmen würden. Dann aber auch noch wieder empfinden lernen, was es bedeuten würde, wenn diese Seele rein wäre...

Es gibt auch dagegen heute eine große Antipathie – es ist dieselbe. Tief innerlich weiß jede Seele, wie sehr sie diese Reinheit verloren hat, mutwillig, unabsichtlich, auf verschiedensten Wegen. Und ein großer Teil der Seele hasst diese Reinheit deswegen – obwohl er eigentlich sich selbst hasst –, hasst diese Reinheit und will sie nicht gelten lassen. ,Es gibt diese Reinheit nicht! Es gibt auch die Seele nicht! Es ist alles Unsinn – hinfort damit! Hinfort mit Romantik, Idealismus, Heiligem, mit reiner Erkenntnis und Erkenntnis des Reinen. Alles furchtbarer Unsinn! Zum Spotten...’

Aber unerschütterlich steht da dieses Mädchen ... und sei es das Mädchen aus dem Märchen – und offenbart seine reine Seele, offenbart, was Reinheit in tiefster Wirklichkeit ist... Und diejenige Seele, die sich darauf einlässt, wird es wieder in all seiner Tiefe begreifen...

Die reine Seele ist etwas so erschütternd anderes als alles, was die gewöhnliche Seele ausmacht. Es ist die absolute Umkehr der Seelenhaltung, der Seelenrichtung, des Seelen-Seins. Die heutige Seele ist dunkel. Die reine Seele des Mädchens ist lauteres Licht...

Das Mädchen in ,Frau Holle’

Man denke einmal an das Märchen ,Frau Holle’. Es gibt da den Unterschied des einen Mädchens mit dem reinen Herzen und der ,Pechmarie’. Es wäre völlig falsch, nur zu denken, dass das eine Mädchen fleißig sei und das andere faul. Das schöne Mädchen, das nur die Stieftochter ist, ist nicht einfach nur fleißig, sondern seine Seele ist so schön, wie man es sich nicht vorstellen kann. In diesem Mädchen ist die ganze Seele so schön, wie es in der Seele aller übrigen Menschen nur ein winzig-kleiner, zutiefst verborgener Teil ist, der von diesen so unendlich stiefmütterlich behandelt wird. In dem armen Mädchen ist dies die ganze Seele – das ganze Mädchen ist so...

All dies muss man überhaupt erst in seiner Realität empfinden lernen. Man nimmt es ja gar nicht ernst und liest einfach nur schnell darüber hinweg. Vielleicht steht es ja auch gar nicht da. Aber es steht dennoch so vieles da. Und so heißt es:

Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen.

Solche Sätze darf man nicht nur lesen, wenn man ihre Wirklichkeit erfahren will – man muss in ihnen leben. Schon der erste Satz umfasst ein Unendliches. Das Mädchen arbeitet bis auf das Blut, in unvorstellbarer Hingabe ... und es klagt nicht. Es arbeitet an einer großen Straße, vor den Augen der ganzen Welt ... und es schämt sich nicht. Allein schon hier müsste die Seele das nicht zu beschreibende reine Wesen des Mädchens tief empfinden. Dazu braucht es einen Mut, diese Schilderung absolut ernst zu nehmen – und den Mut, sich von dieser Wirklichkeit auch wahrhaft berühren zu lassen, bis in das Innerste der eigenen Seele, und nicht stehenzubleiben, bevor dieses wirklich Innerste auch erreicht wurde... Das sagt sich schnell und geschieht doch nie, wenn sich die Seele nicht mit vollkommener Wahrhaftigkeit und eigener Hingabe durchdringt...

Und die weiteren Sätze entfalten dieses lichte, heilige Wesen des Mädchens nur weiter. Einmal wieder war die Spule ganz blutig, und man weiß, mit welcher Hingabe und wie lange das Mädchen schon gearbeitet haben muss ... und nun tut es nichts weiter, als sich in den Brunnen zu bücken, um sie abzuwaschen, in tiefster Hinnahme seines Schicksals. Einfach nur das: die blutige Spule wieder waschen... Dann aber springt die Spule dem Mädchen aus der Hand. Entsetzt sieht es das Mädchen und weiß, was es bedeutet: die Stiefmutter wird furchtbar böse werden. Weinend läuft das Mädchen zu ihr... Es nimmt die tief herzlose Schelte hin. Und dann folgt es dem Befehl, sie wiederzuholen. Am Brunnen ist es nicht nur verzweifelt, es hat Herzensangst – seine Verzweiflung ist wirklich vollständig, brennt als helle Angst in seinem Herzen, und in seiner Verzweiflung springt es einfach in den Brunnen hinein, um die Spule irgendwie wiederzubekommen...

Die ganze Reinheit seiner Seele offenbart sich in der unfassbaren Reinheit und Tiefe seiner Empfindungen. Das Mädchen arbeitet – reine Hingabe an sein Tun, reine Ergebung gegenüber seinem Schicksal. Das Mädchen verliert die Spule – reines Entsetzen, dann reines Seelenleid, schuld- und angstvolles Weinen... Das Mädchen läuft wieder zurück zum Brunnen – Herzensangst und absolute, verzweifelte Ergebung: es springt in den Brunnen...

Wessen Seele hiervon nicht in tiefstem Staunen unbeschreiblich berührt wird, der braucht gar nicht weiterzulesen, denn er hat die ,Prüfung’ nicht bestanden. Er hat sich nicht bemüht, in ein Heiligtum einzutreten und dafür würdig zu sein...

Das arme Mädchen aber findet sich auf einer sonnenbeschienenen Wiese wieder, auf der viele tausend Blumen stehen. Auf dieser Wiese geht es fort, bis es zu dem Ofen kommt, und das Brot in ihm bittet darum, es herauszuziehen – und das Mädchen tut es. Dann kommt es zu dem Apfelbaum, und die Äpfel bitten darum, heruntergeschüttelt zu werden – und das Mädchen tut es. Es schüttelt die Äpfel, bis keiner mehr oben war, und dann legt es noch alle zu einem Haufen zusammen.

Die gewöhnliche Seele liest auch darüber hinweg und denkt nebenbei an bloße, wenn auch gewissenhafte Pflichterfüllung. Aber dass sie in ihren Gedanken und Empfindungen darüber nicht hinauskommt, ist eben ihre eigene reale Schuld, ihre eigene schuldvolle Erstarrtheit in oberflächlicher Empfindungsarmut, die die Tiefe der Wirklichkeit überhaupt nicht mehr erfassen kann.

Es besteht ein grundlegender, ein wirklich welterschütternder Unterschied zwischen ... bloßer Pflichterfüllung und der reinen Seele des Mädchens. Wie soll man dafür Worte finden? Die Seele des Mädchens kann nicht anders, als das zu tun, was sie tut. Es ist eine bedingungslose Liebe zu den ,Dingen’, die alle lebendig sind, es ist bedingungsloses Mitempfinden mit allem, was dem Mädchen begegnet. Das Mädchen lebt so sehr mit allem, was ihm begegnet, mit, dass sich das gewöhnliche Herz dies kaum vorstellen kann. Es gibt gleichsam nichts Trennendes. Das Brot bittet – und das Herz des Mädchens ist schon berührt, und selbstverständlich tut es, worum das Brot bittet. Die Äpfel bitten – und das Mädchen folgt ihrer Bitte und legt sie sogar noch liebevoll zusammen. Es ist alles Liebe, was das Mädchen tut – reinste Seelenhingabe und damit reinste Liebe. Das Mädchen tut überhaupt nichts ohne Liebe. Sein ganzes Wesen ist Hingabe – Hingabe aber ist Liebe.

Und hier gerade liegt das tiefe, das heilige Mysterium. Die Seele des reinen Mädchens ist tiefste Hingabe, immer und an alles. Das gerade ist seine weltenweite Unschuld – und ihr Verlust ist gerade das Wesen der Schuld im tiefsten menschheitlichen Sinne... Das Wesen des Mädchens aber ist seine reine, seine leuchtende Unschuld.

Das badende Mädchen

Diese unvorstellbare Unschuld lebt auch in Elisa, dem Mädchen aus dem Märchen ,Die wilden Schwäne’, das seine elf Brüder erlöst, weil es ihnen mit bloßen Händen Hemden aus Brennnesseln macht.

Die böse Königin will Elisa dumm, hässlich und voll bösen Sinnes machen, und so lockt sie sie in ein Bad, in das sie zuvor drei Kröten gesetzt hat. Folgsam steigt das Mädchen in das Wasser, und die Kröten setzen sich auf sie. Das schöne Mädchen aber scheint dies gar nicht zu bemerken – und tatsächlich schwimmen wenig später nur noch drei Mohnblumen auf dem Wasser...

Auch dieses Geschehen offenbart bis in alle Tiefen, was ein Mädchen ist – ein Mädchen mit einer reinen Seele.

Man kann sich auch vorstellen, wie ein Mädchen allein für sich baden würde... Nur muss hier der Weg in das Heilige mit einer ganz besonderen Willensanstrengung gemacht werden, denn jetzt geht es ganz und gar darum, jeglichen ,Zuschauer’-Standpunkt völlig zu verlassen und sich in das Wesen des Mädchens einzufühlen. Jeder Voyeurismus würde hier nur das Wesen der eigenen Seele offenbaren – jedes Spotten über das hier Beschriebene ebenfalls, denn was unterstellt würde, beträfe auch wiederum nur die eigene Seelenunvollkommenheit, die an diesem Punkt nicht weiterkommt.

Voyeurismus gibt es in unserer Welt übergenug – sie ist überschwemmt davon. Selbst unter Jugendlichen konsumierte schon 2005 über ein Drittel regelmäßig pornografische Filme, wohlgemerkt nur die Jungen [o]. ,Regelmäßig’ bedeutet dabei mehrmals im Monat. Bei den Mädchen waren es nur zwei Prozent. Nie solche Filme sahen nur 40 Prozent der Jungen, aber 91 Prozent der Mädchen...

Wenn wir nun also versuchen, uns einzufühlen, wie ein Mädchen mit einer reinen Seele allein für sich badet, hat dies nichts mit ,Susanna im Bade’ zu tun – einem uralten Motiv, etwa von Guido Reni malerisch umgesetzt –, sondern es ist eine Art Kommunion. Jedes wahre Einfühlen ist eine solche – nur geschieht dieses wahrhafte Einfühlen fast niemals. Auch das wieder ist die Schuld der modernen Seele. Denn das Mädchen kann sich immer zutiefst einfühlen...

Einfühlen bedeutet, das badende Mädchen zu werden. Dann versteht man, dass es keine voyeuristische Szene ist, sondern eine zutiefst verletzliche, denn auf einmal ist man es selbst, man empfindet die Situation von innen – und darum geht es. Anders kann niemals irgendeine Erkenntnis gewonnen werden.

Aber wie fühlt das Mädchen nun im Bade? Würde man wirklich glauben, dass eine Seele, die sonst fortwährend in zartester Weise an die Welt hingegeben ist, sich nun im Genuss des warmen Wassers auf einmal auf sich selbst besinnt und sich entspannend in dem warmen Nass räkelt und sich an diese Wärme hingibt? Der Selbstbezug der Seele ist auch in diesem Moment bei dem Mädchen überhaupt nicht da! Es fühlt völlig anders als wir bei einem heißen Bad. Und man sollte jede Beschreibung nur dazu zu Hilfe nehmen, es selbst zu empfinden. Es geht darum, selbst zu fühlen, was das Mädchen fühlt. Wenn die Seele nicht in ihre tiefste Empfindsamkeit hineinfindet, ist dieser Schritt nicht zu machen. Von Rilke gibt es ein wunderbares Gedicht, in dem er unnachahmlich beschreibt, was diejenigen vermögen, die erwählt sind, ,in diesem Streit ein Reinstes zu erreichen’:

       Das Leiseste darf ihnen nicht entgehen,
       sie müssen jenen Ausschlagswinkel sehen,
       zu dem der Zeiger sich kaum merklich rührt,
       und müssen gleichsam mit den Augenlidern
       des leichten Falters Flügelschlag erwidern,
       und müssen spüren, was die Blume spürt.

Nur, wer seine Seele so rein machen kann, so empfindsam, dass sie gleichsam unbewusst des Falters Flügelschlag erwidert und spürt, was die Blume spürt – nur der kann auch spüren, was des Mädchens Seele und Wesen ist, auch dann, wenn es badet...

Die reine Seele des Mädchens ist gleichsam immer an die Welt hingegeben. Es denkt nicht an sich, es fühlt nicht sich, es will nicht sich – seine Unschuld ist liebendes Hingegebensein an das Andere... Diese Hingabe ist etwas unendlich Zartes – es ist wie ein unendlich zartes Tasten. Wie ein fortwährendes, unendlich zartes Ausströmen des eigenen Wesens hin zur Welt, vorsichtig, sanft, aber fortwährend... Das Mädchen ist erfüllt von zarter Sanftheit seines Wesens, aber diese ruht nicht in sich, sie glüht und leuchtet fortwährend sanft hinaus, auf die Welt hin... Und dies ist ein Willens-Mysterium. Das reine Wesen des Mädchens ist diese sanfte Hingabe...

Lebendige Keuschheit

Das Mysterium der Unschuld durchdringt aber auch alles Andere. Diese zarteste Hingabe ist nur eine Offenbarung der Unschuld des Mädchens. Durchdrungen und durchklungen von Unschuld leben in der Seele des Mädchens auch Demut und Bescheidenheit, Zurückhaltung, Scham und Keuschheit... Es nützt ja nichts, darüber zu spotten, wenn es eine Realität ist! Nur empfinden können wird man sie niemals, wenn sich Spott und Abwehr in der eigenen Seele regen. Auch die eigene Seele braucht tiefste Hingabe, um zu erfahren, welche Wirklichkeit in einer Seele auch leben kann – in völligem Gegensatz zur Profanität und Selbstbezüglichkeit dieser modernen, armen, immer leereren Seele... In der reinen Seele des Mädchens lebt in voller Wirklichkeit und Zartheit dasjenige, was uns heute völlig verlorengegangen ist: aufrichtige, reine Keuschheit...

Wenn wir dies ernst nehmen und wenn wir versuchen, zu empfinden, was dies bedeutet, wie sich dies ,anfühlen’ würde, wie ein solches Seelenwesen erleben würde – dann können wir allmählich auch ahnen, warum man sogar von einer Physiologie der Unschuld sprechen kann. Denn dann hört es auf, etwas Abstraktes zu bleiben. Dann reicht diese Realität bis in die Lebensvorgänge. Dann kann man mit vollem Recht sagen: so etwas wie Keuschheit durchströmt den ganzen Leib, ist wie ein inneres Licht, das mit dem Blut mitströmt, ist selbst ein seelisch-ätherisches Lebensblut... Diese Dinge sind realer als alles andere, denn alles andere vermindert im Grunde fortwährend die Lebendigkeit und Wirklichkeit der Seele – diese Kräfte aber vertiefen sie...

Wenn das Mädchen aber nun in all seiner Keuschheit im Bad liegt, und wenn wir zu spüren beginnen, wie weitgehend dies alles Erleben der Seele vollkommen verwandelt, dann empfinden wir, dass dies nichts mit dem eigenen gewöhnlichen Erleben beim Baden zu tun hat. Das Mädchen mit der reinen Seele badet gleichsam in Keuschheit, es atmet Keuschheit, es bewegt sich in Keuschheit – und auch unsere Seele muss ganz davon durchdrungen sein, sonst werden wir dies nicht begreifen können.

Das Mädchen ist in seinem Wesen völlig selbstlos. Wenn man etwa sagen möchte, dass es die wohltuende Wärme genießt, muss man gleichzeitig mitdenken, dass sein ganzes Wesen gleichzeitig staunend-dankbar wahrnimmt, dass es so etwas gibt – und dass es gleichsam kaum glauben kann, dass auch ihm so etwas einmal vergönnt sein kann... Aber selbst dies vergisst es wieder, und alle Wärme und Entspannung können nur dafür sorgen, dass seine Seele noch inniger und zarter an das Andere hindenkt, hinfühlt, hinströmt – in Empfindungen, in Vorstellungen, in allem. Vielleicht führt die zarte Wärme des Wassers dazu, dass das Mädchen fast meditativ an etwas denken kann – aber immer wird es selbstlos etwas von der Welt sein, dem sich seine Seele zuwendet, wie auch sonst immer.

Die zarte Unschuld, die sein Wesen durchströmt, reicht vom Seelischen bis ins Physische – und so geht Physiologie über in Anatomie... Nie würde das Mädchen mit der reinen Seele sich im Bad räkeln – es kennt diesen Selbstbezug überhaupt nicht. Es kennt ihn nicht, und es braucht ihn nicht, wozu sollte er gut sein? Es würde auch nicht bequem die Beine spreizen – auch das kennt es nicht. Die Unschuld durchdringt wirklich alles – noch die unbewussteste Bewegung.

Man muss hier das vielleicht Normale noch unendlich vertieft erleben. Schon in der normalen Welt sind es nur die Männer, die im Bewusstsein ihrer Autorität und Stellung des Öfteren breitbeinig und selbstgefällig auf Stühlen sitzen – während der Frau eine völlig andere Geste natürlich ist. Hier liegt auch die Urpolarität des Männlich-Aktiven bis hin ins Aggressive und Erobernde und des Weiblich-Passiven, Bergenden, Beschützenden, Umhüllenden. Und all dies erreicht in dem reinen, unschuldigen Wesen des Mädchens seine größte Tiefe. In dem Mädchen liegt die Keuschheit selbst im Bade... In seinem Blut fließt die Unschuld, es atmet Unschuld, es denkt und fühlt unschuldig... Und so würde es auch seine Arme und Hände nicht einfach bequem ausstrecken und seine Brust frei sichtbar atmen lassen, es würde seine Blöße über dem Herzen mit verschränkten Händen in der Geste der Ehrfurcht bedecken – und diese Geste würde ihm ganz natürlich sein. Man kann dies niemandem begründen – es ist einfach so, und wer es selbst nachempfinden kann, erkennt es...

Das Geheimnis der Anmut ist, dass sich die innere Anmut in der äußeren offenbart. Anmut ist – das habe ich in meinem Buch ,Von den Mädchen’ gezeigt – nicht etwas, was man allgemeingültig definieren kann. Es ist in letzter Hinsicht ganz spezifisch die Offenbarung der Unschuld der Mädchen.

Das zutiefst unschuldige Mädchen braucht sich nicht zu räkeln, es empfindet die Gnade des lieben, warmen Wassers bis in seine Tiefe, ohne sie auch nur in kleinster Weise selbstisch genießen zu müssen. Es braucht nicht bequem, lässig in moderner ,Entspannungshaltung’ dazuliegen, es liegt da, wie es in seinem ihm innewohnenden Wesen, der Keuschheit, lebt. Und wenn es in einer natürlichen Bewegung im Liegen seine Brust bedeckt, so ist dies nichts Künstliches, sondern gerade in dieser Geste und Haltung lebt ein allertiefster Friede, der bis in himmlische Höhen reicht und der für das Mädchen das heilige Glück dieses Bades ausmacht...

Die Physiologie der Unschuld

In der modernen Seele, die so seelenlos geworden ist, haben sich seelische und leibliche Prozesse weitgehend getrennt. Der Leib lebt vor sich hin – und die Seele schädigt ihn allenfalls durch ihre Profanität und ihr ungesundes Verhalten. Je reiner eine Seele aber ist, desto inniger durchdringen sich die Prozesse von Seele und Leib – desto inniger werden auch die Leibesprozesse durchseelt. Im modernen Leben hat man in der ,Unschuld’ nur noch einen abstrakten Begriff – in der reinen Seele eines Mädchens ist die Unschuld eine Wirklichkeit, bis in die Physiologie, bis in die Anatomie hinein.

Es ist also nicht bildlich und vergleichsweise gesprochen, wenn gesagt wird, in dem Blut des Mädchens fließt Unschuld, in dem Atem des Mädchens webt Unschuld. Dies ist ganz real so. Hier geht Moralisch-Seelisches tatsächlich über in Physiologie.

In manchen Wendungen der Sprache klingt dies noch an. Etwa wenn gesagt wird, dass ,unschuldiges Blut vergossen’ wird. Oder man spricht auch von einem ,blutjungen’ Mädchen. Natürlich kann sich hier dann das ganze Begehren alter Männer regen – aber das tut es eben auch, weil ihr Blut längst verbraucht und auch ... schuldig geworden ist. Das Blut des Mädchens ist eben auch in dem Sinne jung, dass es so unschuldig ist. Es gibt eine natürliche Unschuld – aber es gibt auch eine heilige Unschuld. Und das ist jene, die selbst da noch in voller Tiefe lebt, wo andere Mädchen längst ebenfalls ,schuldig’ geworden sind, eingeholt vom Angriff jener Mächte, die den Selbstbezug in die Seele impfen. Da aber beginnt wirklich eine heilige Physiologie. Denn da wird das Leibliche nicht ein bloß Lebendiges, sondern da wird das Lebendige innigst durchdrungen von einem Seelischen, das in unvorstellbarer Anmut keine Grenzen kennt, sondern alles durchdringt, durchflutet. Zarter, anmutiger Atem der Seele...

In der reinen Seele des Mädchens sind Seele und Leib am wenigsten getrennt, weil in ihm auch die Seele am lebendigsten ist. Wenn das Mädchen Empfindungen hat, so sind sie tiefer als die jeder anderen Seele – und weil seine Seele so rein ist, gehen sie auch unmittelbar in den Leib über. Jede kleinste Freude wird zu zart frohlockendem Atem und freudig schlagendem Herzen – jede kleinste Traurigkeit ebenso. Alles, alles, was das Mädchen empfindet, geht über in die Physiologie seines Atems, seines Herzens, seines Leibes.

Das Mädchen mit der reinen Seele offenbart eine uralte Wahrheit: Das Herz ist keine Pumpe, es ist der Kristallisationspunkt der Empfindungen. Bewegt wird das Herz aber vom Blutstrom – und dieser wird bewegt von der Seele... In der reinsten Seele offenbart sich dies am deutlichsten. Was die Seele des Mädchens empfindet, geht unmittelbar über in Blut und Atem. Und sein Herz ist dann der Ort, wo sich dies so hell wie eine Sonne offenbart...

So ist das Mädchen mit der reinen Seele zugleich die Offenbarerin einer heiligen Physiologie.