13.10.2017

Das tote Denken und die lebendige Liebe

Der Grundgegensatz in einem vor-manichäischen Zeitalter


Inhalt
Schnelllebigkeit und heilige Sehnsucht
Vom wahren Begriff der Sehnsucht
Der unbeachtete Mysterienort
Vom (un)reinen Denken und einer heiligen Quelle
Ur-Tat und Ur-Meditation
Die Mächte dieser Welt und die rettende Macht


Schnelllebigkeit und heilige Sehnsucht

Ich möchte in dieser Besinnung einen großen Bogen schlagen, um etwas erlebbar zu machen, und das braucht etwas Zeit – und Geduld auch des Lesers. Aber um dieses Geheimnis geht es ja gerade.

Wir leben in einer Zeit, die nicht umsonst, sondern mit vollem Recht der Wahrheit ,schnelllebig’ genannt wird. Und – wir schließen uns davon immer gern aus, aber es wäre ein Akt der Wahrhaftigkeit, dies nicht so schnell zu tun. Sondern zu erkennen, wie auch wir rastern, überfliegen, in eine völlig extreme, seelen- und gefühllose Haltung hineingekommen sind, allein durch die bloßen Umstände des heutigen Lebens. Das betrifft dann alle Texte, um so mehr aber Texte am Bildschirm. Die Seele differenziert nicht mehr. Sie findet nicht mehr die Haltung des Heiligen...

Man könnte sich fragen: Welchen Sinn hat dann überhaupt noch jegliche innere Entwicklung? Denn müsste es nicht so sein, dass eine solche auch Frucht trägt? Wie kann sie es aber, wenn ich es gerade wieder zunichtemache, dadurch, dass ich an meinen Gewohnheiten nichts ändere? Wo würde sich diese innere Entwicklung denn äußern, zeigen, offenbaren?

Das Erste ist, dass wir offenbar eine gewisse Sehnsucht nach einer inneren Entwicklung haben. Vielleicht glaubt der Eine oder Andere, auch schon mehrere Jahre auf einem entsprechenden Pfad zu sein, vielleicht sogar schon gewisse Früchte ernten zu können. Aber worin bestehen diese?

Eine unglaublich entscheidende Tatsache wäre es, sich überhaupt einmal ganz und gar ernsthaft nach dieser Sehnsucht zu fragen. Sich auf sie zu besinnen. Was ist eigentlich meine Sehnsucht? Was ist diese Sehnsucht? Denn es geht nicht nur darum, sie irgendwo zu ,haben’, sondern sie zu finden. Nicht nur darum, sie irgendwo zu spüren, sondern sie zu suchen – und dann in den Mittelpunkt zu stellen.

Meditation besteht darin, einen einzigen Inhalt in den Mittelpunkt zu stellen, seine Seele ganz und gar nur damit zu erfüllen, in ihn einzutauchen, mit ihm eins zu werden. Wie könnte eine innere Entwicklung je ernsthaft auch nur beginnen, wenn man dies nicht gerade mit der eigenen Sehnsucht tun würde? Soll sie denn für immer ein kleines, merkwürdiges Flämmlein bleiben, das einen irgendwie dazu bringt, dies und jenes zu lesen, dies und jenes ein wenig zu üben, vielleicht sogar ernsthaft, aber immer so, dass man sich nicht auf den Urgrund dieser Sehnsucht als solcher besinnt?

Das Einzige, was uns antreibt, etwas zu tun, ist doch diese geheimnisvolle Sehnsucht? Aber wenn wir überhaupt etwas erreichen wollen – müssen wir dann nicht zuerst diese Sehnsucht groß und stark, rein und klar, entschieden und unüberwindlich, kostbar und heilig machen? Werden lassen? Müssen wir uns nicht, wie auch immer, zuerst auf sie besinnen und uns fragen, wie wir dies überhaupt tun können, wenn wir es nicht wissen?

Welchen Sinn hätte es, in der Entwicklung drauflos zu stolpern und irgendetwas zu tun, aber nie dazu zu kommen, die eigentliche Quelle zu heiligen, zu stärken, wachsen zu lassen, in einen heiligen Mittelpunkt zu rücken?

Vom wahren Begriff der Sehnsucht

Das klare Denken kann mit so einem Begriff wie ,Sehnsucht’ schon als Wort wenig anfangen – es könnte ihn ohne weiteres als neuen ,Mystizismus’ verurteilen, ohne auch nur einen Schimmer von seiner Wirklichkeit zu haben. Es mag ihn vielleicht sogar auch deshalb verachten, weil man meint, doch längst einen viel klareren Willen zu haben und die eigene innere Entwicklung längst klar bewusst und willensstark in Angriff genommen zu haben. Wenn man dies schon jahrelang tut – wozu hätte man dann noch einen so vagen, nebelhaften, verschwurbelten Begriff wie ,Sehnsucht’ nötig? Das ist also das massive Vor-Urteil, was einem entgegenschlagen könnte, wenn jemand meint, er hätte längst einen Begriff von Sehnsucht – was er ja auch hat, aber einen ganz bestimmten, der in dieser Hinsicht durch und durch negativ besetzt ist. Ist dies aber gemeint? Nein.

Man kann vor aller Klarheit übersehen, dass der Begriff Sehnsucht auch einen absolut positiven Klang haben kann – dass es nur von einem selbst abhängt, was man aus diesem Begriff macht. Ob man ihn missbraucht, weil man meint, ihn eben überhaupt nicht mehr zu brauchen, oder ob man seine wahre Natur wieder erkennen, erleben, empfinden kann. Man kann meinen: Wozu brauche ich eine ,Sehnsucht’, wenn ich längst klar erkannt habe, was mein Weg innerer Entwicklung ist und wie ich ihn gehen will? Ja, ist das so? Dass man die Sehnsucht dann nicht mehr braucht? Oder ist es eher so, dass man etwas unendlich Kostbares verloren hat, wenn man die Sehnsucht verliert – oder sogar meint, sie ausgrenzen zu müssen, als rückwärtsgewandtes, hinderliches Gefühl? Als ,schwärmerisch’ oder was auch immer...

Man hat bei alledem immer einen bestimmten Begriff von Sehnsucht – nie aber den, der gerade ihr Heiligtum ausmacht. Sehnsucht ist die vielleicht heiligste Empfindung und Stimmung, die die Seele überhaupt haben kann. Und es ist eine allertiefste Tragik, wenn sie diese Stimmung nicht mehr kennt – entweder, weil sie sie noch nie gekannt hat, oder aber weil man meint, diese Stimmung verbannen zu müssen.

Man kann gar nichts Heiligeres tun, als die tiefste Sehnsucht der Seele in den Mittelpunkt der Seele zu stellen, wirklich meditativ – und nichts anderes zu tun, als diese Sehnsucht zu heiligen, auf dass sie in dieser Atmosphäre wirklich ihre wahre Gestalt offenbaren kann und wachsen kann...

Die heilige Sehnsucht der Seele erwecken und sie wachsen lassen – das ist die Ur-Tat innerer Entwicklung überhaupt. Die bleibende Ur-Tat, fortwährend.

Diese heilige Sehnsucht steht in völligem Gegensatz zu unserem gewöhnlichen Alltag. Der Alltag absorbiert die Seele. Er schleudert sie in eine gnadenlose Gewöhnlichkeit – nicht nur in eine gewöhnliche Welt, sondern auch in ihre eigene Gewöhnlichkeit. Die Seele selbst wird gewöhnlich, ohne es zu merken, und indem sie dies wird, geht ihr das Heilige völlig verloren. Wie ein Muskel, der nicht mehr benutzt werden kann, weil er so absolut schwach geworden ist, so geschieht es auch mit dem völligen Gegenteil, dem Allerheiligsten, dem Allerzartesten, was die Seele empfinden kann: mit der Stimmung des Heiligen selbst. Die Seele muss das Heilige wiederfinden – sonst kann sie eine wahre innere Entwicklung gar nicht finden, niemals, immer nur Surrogate, die selbstverständlich auch das Etikett ,spirituell’ haben können, sich auch so anfühlen können, die aber niemals das Mysterium sein werden.

Wir glauben sehr, sehr schnell, Spiritualität und Alltag miteinander vereinen zu können – gerade ,Anthroposophen’ sind stolz darauf und berufen sich gleichsam innerhalb von Sekundenbruchteilen auf Rudolf Steiner, auf Christian Rosencreutz und so weiter, um deutlich zu machen, dass ,moderne Spiritualität’ gerade darin besteht, das zu können. Aber was ich meine, ist, dass hier Hochmut und Unwahrhaftigkeit so hoch sitzen, wie diese Urteile schnell gefällt werden. Denn es kommt ja gar nicht darauf an, den ,Alltag’ zu fliehen, aber darauf, das Heilige radikal und abgrundtief wiederzufinden. Solange man den Alltag und das Laboratorium (die Berufsstätte) nicht bis ins Kleinste hinein als Altar empfinden würde, dürfte man sich kaum mit heiliger Aufrichtigkeit auf die Rosenkreuzer-Strömung berufen...

Worum es geht, ist, schon die Sprache, schon die einzelnen Begriffe heilig zu halten – und nicht zu glauben, man könnte mit dem Heiligen etwas anfangen, wenn man nicht eine tiefe Sehnsucht nach einem Läuterungsweg der Seele hat – wenn man also nicht empfinden kann, wie gewöhnlich, wie flach, wie oberflächlich und nichtssagend die moderne Seele längst geworden ist. Erst wenn daran ein erstes Leiden einsetzt, kann man von einer ganz leise beginnenden Sehnsucht nach dem Heiligen sprechen – und von einem aufrichtigen Verständnis.

Der unbeachtete Mysterienort

Dieses Heilige, nicht als Schlagwort, sondern als etwas zart und sehr lebendig Erlebtes, ist gleichsam der Mysterien-Zukunftsort der eigenen Seele. Solange dies nicht erlebt werden kann, bleibt der Begriff ,heilig’ ein Abstraktum, damit aber auch das eigene Denken ein totes, ein lebloses. Das ist berechtigt, insofern es von den Engelwesen gerade gewollt ist, dass der Mensch in diese Abstraktheit fällt, weil sie seine Freiheit (von ihnen) garantiert. Aber der Mensch kann sich in dieser toten Sphäre seines abstrakten Intellekts auch sehr, sehr häuslich einrichten – und gar nicht merken, wie er dann automatisch Opfer anderer Wesen wird, die gar nicht wollen, dass er etwas anderes tut als das, was er gerade tut. Diese Wesen wollen, dass er das Heilige nie wieder kennenlernt...

Die spirituelle Entwicklung beginnt aber mit den Empfindungen des Heiligen. Vorher beginnt sie also nicht. Rudolf Steiner stellte die Seelenempfindung der Ehrfurcht an den Anfang der gesamten inneren Entwicklung. Und die goldene Regel aller Geistesschulung heißt: ,Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.’ Wie aber könnte man je in seiner Seele in diese Richtung tätig werden, wenn man nicht gerade die Liebe zum Guten suchen würde?

Natürlich kann man diese voraussetzen und einfach losmarschieren. Versuchen, ein toleranterer Mensch zu werden, ein besserer Zuhörer, ein Mensch mit mehr Idealen, was auch immer. Es gibt unzählige Wege, und man kann Unzähliges üben. Aber warum versäumt man so gerne den zentralen Punkt, die geheime Quelle, den heiligen Ursprung? Was wäre, wenn man vor jedem anderen Schritt und vor jeder Frage, wie man denn nun ,seinen Charakter zum Guten vervollkommnen’ könne, danach streben würde, erst einmal die eigene Liebe der Seele zum Guten unendlich tief werden zu lassen?

Dies ist so etwas wie das unbeachtetste Element der Seele überhaupt. Bequem wird es vorausgesetzt – etwa, weil sich jede Seele schon für ,gut’ hält? Und nur denkt, sie müsse graduell noch weiterstreben? Was ist mit der Liebe zum Guten an sich? Wieso glaubt man, diese müsse nicht überhaupt erst erweckt werden, wahrhaft erweckt?

Vom (un)reinen Denken und einer heiligen Quelle

Rudolf Steiner sprach vom Denken als dem unbeobachteten Element – denn das Denken denkt fortwährend, aber sich nimmt es nie in den Blick. Hier liegt ein Ausnahmezustand, der zugleich ein Ur-Punkt auch für das Moralische ist. Denn das sich selbst ergreifende Denken ist durch nichts anderes mehr bestimmt – und kann zum ersten Mal wahrhaft Freiheit verwirklichen. Reines Denken – das ist der Zielpunkt der ,Philosophie der Freiheit’. Und in diesem reinen Denken dann auch die Welt des Moralischen in ihrer Unendlichkeit zu finden und aus ihr moralische Impulse zu schöpfen, um diese auf Erden zu verwirklichen – das ist der andere Zielpunkt.

Aber wenn das gelänge, dann müsste die Erde längst ein anderer Ort geworden sein, zumindest unter Anthroposophen. Dann dürfte es nicht so sein, dass selbst hier der große Zersplitterer wirkt und der Eine den Anderen nicht versteht, der Eine des Anderen Ansatz und Gedanken verurteilt und nur den seinen gelten lassen möchte, dass auch überhaupt das Interesse aneinander nicht da ist. Und es dürfte auch nicht so sein, dass sich ein ganzes äußerliches Leben von Vorträgen, Veranstaltungen, Seminaren, Veröffentlichungen und so weiter ausbreitet, aber man sich zugleich fragen kann: Und sind das aber jetzt auch wirklich andere Menschen geworden?

Was ich sagen will, ist: Wer geht den Weg des Denkens wirklich so aufrichtig, dass er im Denken so beweglich, aber auch so liebevoll und so begeisterungsfähig wird, dass er wie Rudolf Steiner eintauchen kann in das Wesen anderer Menschen, um sie in ihrem ganzen Wert und Wesen zu erkennen. So sehr, dass Steiner zum Beispiel begeistert über Nietzsche schreiben konnte, bis man ihn für einen Nietzscheaner hielt, für einen Haeckelianer und, und, und? Aber auch gegenüber jedem anderen Menschen. Es gibt so viele Schilderungen von Menschen, die Rudolf Steiner begegneten und sich unglaublich gesehen fühlten, so sehr wie von keinem anderen Menschen zuvor.

Was lag da vor? In dem älteren Rudolf Steiner vereinigten sich die beiden Pole des Seelenlebens – ein reines Denken und eine ungeheure Liebe zum Guten, und inmitten dessen offenbarte sich ein reiches, tiefes, zutiefst menschliches Fühlen.

Das Denken ist ein Pol des Seelenlebens. Aber bleibt die Seele an diesem einen Pol, so droht unmittelbar auch die Einseitigkeit – wenn die Entwicklung nicht allmählich leuchtend ausstrahlt auf den anderen Pol...

Der andere Pol ist dieses geheimnisvolle Willenselement. Und hier liegt gerade der Ursprung der Sehnsucht, dieser heiligen Seelen-Regung. Denken wir an das wunderbare Wort von Saint-Exupéry:

,Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.’

Man müsste über diese Worte nur einmal tief meditieren und man würde immer tiefer erleben können, was Sehnsucht ist.

Es geht auf diesem heiligen Feld nicht um die Frage, ob man Sehnsucht ,lehren’ kann, sondern viel mehr um die Frage, ob die Seele diejenige Sehnsucht, die sie in sich zu finden vermag, zu einem wirklichen, realen Feuer entfachen kann, wenn sie sie einmal wirklich in den Mittelpunkt rückt. Und die erste Frage ist, ob dazu überhaupt der Mut da ist.

Denn auch das ist ein Phänomen: Dass es sehr angenehm ist, eine Sehnsucht zu haben, und ihr unverbindlich ein wenig zu folgen, sich dadurch lebendig zu fühlen, strebend zu fühlen und so weiter. Aber die ganze Zeit eigentlich seine Sehnsucht nicht ernst zu nehmen, weil man sie bewusst oder unbewusst an der kurzen Leine hält – wie ein Schoßhündchen. Schön ist das, so eine Sehnsucht, die unverbindlich und ungefährlich vor sich hinköchelt... Dann kann man etwas zu seinem Hobby oder sogar zu seinem Lebensinhalt machen, ohne dass man je näher hingeschaut hätte. Ohne dass man ein einziges Mal der heiligen Quelle Auge in Auge gegenübergestanden hätte...

Ich will mit diesen Versuchen, es auszudrücken, nichts anderes erreichen, als dass die Seele eine Empfindung für diese Prozesse bekommt. Und auch ein Versäumnis, ein vielleicht lebenslanges Versäumnis, ist ein Prozess. Es ist ein Nicht-Tun, ein Vermeiden, ein Anderes-tun-aber-nicht-das... Diese Dinge vorsichtig, aber aufrichtig zu empfinden, ist überhaupt der erste Schritt.

Ur-Tat und Ur-Meditation

Der Willenspol ist viel heiliger als der Denkpol – in dem Sinne, dass der Mensch im Denken zunächst die völlige Freiheit hat, zu tun, was er will. Er kann denken, was er will, so stark, wie er will, so unbeteiligt oder so empfindungsvoll, wie er will, so unverbindlich, wie er will. Es macht zunächst alles keinen Unterschied. Gerade das macht das Wesen des Denkens aus – dass der Mensch so, wie es zunächst ist, im Denken in die völlige Freiheit und Unverbindlichkeit gesetzt ist. Der Willenspol steht dem Menschen nicht so zur Verfügung – er ist ihm zunächst überhaupt nicht verfügbar. Der Mensch kann darüber nicht verfügen – gerade das ist seine Heiligkeit. Der Wille entzieht sich dem Menschen, wenn dieser über ihn verfügen will. Darum kann sich der Mensch diesem Pol nur in einer völlig anderen Haltung nähern. Denn das Heilige findet das Heilige...

Die Sehnsucht ist heilig. Und eine Seele, die in sich Empfindungen des Heiligen weckt, die sich bemüht, ihren Innenraum heilig werden zu lassen, wozu nichts anderes notwendig ist als tiefe Aufrichtigkeit – eine solche Seele findet unweigerlich Zugang zu diesem zarten, heiligen Mysterium der Sehnsucht. Von der Liebe zum Guten zu sprechen, wäre zunächst völlig übertrieben, aber von einer verborgenen, heiligen Sehnsucht nach dem Guten zu sprechen – das deutet auf den heiligen Ort hin, den die Seele in sich finden kann. Und der erste Schritt, die Ur-Tat innerer Entwicklung, würde dann sein, dieses heilige Flämmlein immer tiefer lieben zu lernen. Es immer tiefer hüten zu lernen – und es immer aufrichtiger lebendig werden lassen zu wollen. Es in einer heiligen inneren Geste in den Mittelpunkt zu stellen...

Diese Ur-Tat bedeutet, die Seele nähert sich mit dem Heiligsten, was sie hat – an Empfindungen, die sie aufzubringen vermag –, dem Heiligsten, was sie zart und verletzlich in sich finden kann: dem Mysterium dieser heiligen Sehnsucht nach dem Guten. Das ist die Ur-Geste heiliger Hingabe – und damit im Grunde auch die Ur-Meditation...

Dies mit tiefster Aufrichtigkeit zu tun, würde die Seele von Grund auf verwandeln, buchstäblich: von Grund auf, von der heiligen Quelle aus...

                                                                                                                                    *

Man kann die beiden Pole der Seele auch anders benennen. Dann wäre die Seelenkraft des Denkens der Pol der Erkenntnis – die Seelenkraft des Willens aber der Pol der Liebe. Spätestens wenn man dies einmal aufrichtig meditiert, müsste empfunden werden können, welche Einseitigkeit an dem ersten Pol droht.

Erkenntnis ist zunächst a-moralisch. Sie kann völlig ohne moralische Empfindungen gemacht werden. Wie ein Dieb in der Nacht kann ein Geistesschüler sich Erkenntnisse aneignen, ohne dass es ihn als Mensch besser machen muss – es kann sogar das Gegenteil eintreten. Es kann sich die Seele so entwickeln, dass sie immer weniger Bedürfnis nach anderen Menschen hat, weil sie mit sich selbst immer zufriedener wird. Sie kann auf die anderen Seelen, die weniger Erkenntnis haben, herabzublicken beginnen. Sie kann, obwohl sie Erkenntnisse sammelt, völlig blind für ihr eigenes Wesen bleiben. Sie kann alles Mögliche, weil sie sich an einem Pol bewegt, der mit dem Moralischen, mit der lebendigen Moralität, zunächst nichts zu tun hat – und wo es ganz von ihr abhängt, wie viel er vielleicht doch damit zu tun hat.

Der Wille kann natürlich auch in jede Richtung wirken – aber er ist in jedem Fall von Anfang an moralisch in dem Sinne, dass jede kleinste Willensregung moralisch beurteilbar ist, nicht zuletzt vom aufrichtigen Wahrheitsgefühl der Seele selbst. Ich vermeide hier ganz die Trennung von Ich und Seele, weil ich auf das unmittelbare Erleben hinauswill – die Trennung mag jeder für sich machen, wenn er nur nicht aus dem Erleben herausfällt. Bei dem Willen kann ich also nie sagen, das hat mit Moralität nichts zu tun, denn der Wille ist gerade das Gebiet der Moralität. Jede noch so kleinste Handlung offenbart sofort ihren Grad an Selbstbezogenheit oder Selbstlosigkeit, an Indifferenz oder Hass, an Zuneigung oder Liebe. Man kann jetzt sagen: Das sind doch aber auch Gefühle. Aber das macht den Willen gerade aus, dass er, wenn er überhaupt moralisch sein will, von Empfindungen begleitet sein muss – sonst wäre er mechanisch und damit eben ... lieblos.

Der Wille kann in jede Richtung wirken – aber die heilige Ur-Tat in Bezug auf jede innere Entwicklung ist gerade das Umgekehrte: eine einzige Richtung. Denn es ist die aufrichtige Suche nach der Sehnsucht. Und damit die heilige Suche nach dem Geheimnis des guten Willens. Es geht um die in jeder Seele zu findende zarte Sehnsucht nach dem Guten, um die zarte Liebe zum Guten. Das ist die heilige Ur-Meditation.

Hier lebt das Mysterium der Liebe, nirgendwo anders. Hier kann es gehütet und heilig entfaltet werden, nirgendwo anders.

Die Mächte dieser Welt und die rettende Macht

Die Welt wird noch weiter den Weg der völligen Missachtung dieses Mysteriums gehen, obwohl am Urgrund jeder Seele diese Sehnsucht lebt. Aber die Kräfte und Mächte, die sich diesem Mysterium entgegenstellen, sind viel zu stark. Sie können niemals überwunden werden, wenn man sich nicht mit michaelischem Ernst und Mut dieser Sehnsucht zuwendet um sie zum ersten Mal wahrhaft ernst zu nehmen.

So unendlich viele Kräfte zielen darauf, dass diese Sehnsucht unerkannt und schwach bleibt, gefesselt und ohne Einfluss. Während das Böse und das Lieblose seine Kraft weiter vergrößert. Und dazu gehört auch die Tragik der bewusstlosen Seelen, die ihr Leben dahinbringen in Desinteresse oder Sinnlichkeitswahn, in Kaufrausch und falscher ,Individualisierung’, aber auch in Resignation oder leise wachsendem Hass – und daneben die machtvollen Interessen, die, obwohl ebenfalls vielfach geblendet, sehr genau ,wissen, was sie tun’ und hundert-, tausend-, millionenfach moralisch schuldig werden durch ihre Taten, Entscheidungen und Versäumnisse. Aber inmitten all dessen schreitet die Macht der Widersacher mehr oder weniger ungebremst voran, treu ihrem Ziel, die Liebe und alles damit Verwandte nach und nach auszulöschen.

Bloße Gedanken und Erkenntnisse werden die dumpfen Seelen oder die ganz bewusst agierenden Seelen nicht von ihrem Tun und Nicht-Tun abbringen. Man kann sich selbst fragen, wen man mit Gedanken überhaupt erreicht. Und die Welt ist längst voll von Erkenntnissen, ohne dass die meisten Dinge, deren Notwendigkeit längst offensichtlich ist, überhaupt getan werden. Zu groß, viel zu groß, sind andere Interessen und vermeintliche Sachzwänge. Aber an Erkenntnissen fehlt es nicht.

Wenn man dies meditativ vertiefen würde, würde man bis in die Tiefen immer mehr spüren können, woran es fehlt. Denn es fehlt an der Liebe. Überall und überall fehlt es an der Liebe. Und das – das und nichts anderes wird eines Tages der absolute Grundimpuls derjenigen jungen Seelen werden, die sich inkarniert haben und die ein großes Grundgefühl und Grunderleben in sich tragen werden: Es fehlt an der Liebe. Aber dieses Erleben wird zugleich eigener tiefster Impuls sein.

Manichäische Seelen...

Das Böse wird noch viel stärker werden. Aber es ist völlig verschwendete Kraft, sich darüber zu ,ärgern’ (und sich auf diese Weise moralisch zu recht-fertigen) oder es zu verurteilen oder darüber zu diskutieren oder, oder, oder. In der heiligen Meditation wird man immer finden, dass es nur eine Kraft gibt, die das Böse stoppen, heilen und erlösen kann. Und die Seelen der Zukunft und diejenigen Seelen, die diese Zukunft heute schon vorbereiten und den Impuls fühlen, dazu beizutragen, dass es diese Zukunft geben kann, werden dieser Kraft ihr ganzes Streben, ihre ganze Kraft schenken...

Das Böse hat die Aufgabe, ein noch tieferes Gutes hervorzubringen. Unser Zeitalter ist das Zeitalter des Bösen – das Zeitalter, in dem die Menschheit dem Bösen begegnen muss. Denn die Zeit ist reif. Die Seelen haben heute die Kraft, das Gute in sich zu suchen und zu finden. Sie müssen es nur tun... Die Seelen haben heute die Kraft, das Gute so heilig lieben zu lernen und das Böse so heilig nicht zu hassen, sondern an ihm zu leiden, dass eine Zeit des neuen, des realen Manichäismus bevorsteht. Aber alles, alles hängt davon ab, ob die Menschen ihre heiligste Sehnsucht michaelisch ernst nehmen. Dieser Ernst wäre die heilige Flamme, die aus dem Funken ein Feuer entfacht. Heiliger Ernst ... heilige Liebe...

Manichäische Seelen...