2017
Die Physiologie der Unschuld – vom heiligen Geheimnis der Scheu
Weitere Besinnungen über die heilige Sphäre der Seele.
Inhalt
Einleitung
Scheu vor der Konfrontation
Scheu vor dem Schlimmen
Scheu vor dem Heiligen
Das heilige Wesen der Scheu
Die Scheu und das Wesen der Liebe
Einleitung
Die entscheidenste, wenn nicht die einzige entscheidende Frage der Zukunft der Menschheit wird die Frage nach der menschlichen Seele sein.
Zyniker und sogenannte ,Realisten‘ mögen meinen, der Mensch ändere sich nie. Aber diese Aussage ist selbst reinster Dogmatismus, der die Realität, die er behauptet, gerade erst in die Welt bringt. Jeder Gedanke verändert die Wirklichkeit. Jeder Gedanke, der wie eine Behauptung daherkommt, verändert sie stärker. Zynische Gedanken durchtränken die Welt mit Zynismus. Und in dem angeblichen ,Realismus‘ liegt oft nicht viel anderes: Resignation, Angepasstheit, Mitschwimmen im Strom des seelisch Hässlichen – der Übergang zum Zynismus ist also fließend.
Jeder hässliche Gedanke, der das heilige Wesen – oder den heiligen Teil des Wesens – des Menschen leugnet, trägt dazu bei, dieses Heilige immer weiter zu vernichten. Das Hässliche dagegen wird dadurch immer mehr zur Herrschaft gebracht – und selbst wenn es zunächst nicht zum Wesen des Menschen gehörte, immer mehr zu seinem Wesen gemacht.
Reale Spiritualität bedeutet, die Frage nach dem Wesen des Menschen mit einem allergrößten Ernst ins Leben zu rufen. Alles andere wäre ein Verharren in Profanität, Flachheit und seelisch-geistiger Hässlichkeit. Man kann nur davon ausgehen, dass die Welt über lange Zeiten so hässlich geworden ist, dass auch die eigene Seele viel zu hässlich geworden ist, um unmittelbar das eigentliche, das heilige Wesen des Menschen und auch ihrer selbst, der Seele, zu erfassen. Schafft die Seele es nicht, zu dieser Erkenntnis zu kommen, verharrt sie in Hochmut – der mit der übrigen Hässlichkeit der Seele Hand in Hand geht.
Hier aber wollen wir uns gleichsam mit einem Sprung auf eine ganz andere Seite bringen – auf jene Seite, die der wahren, tiefsten Sehnsucht unserer Seele entspricht. Denn die Seele hat keine tiefere Sehnsucht nach Hässlichkeit, sie hat aber tief innerlich eine reine, eine heilige Sehnsucht nach Unschuld, nach der heiligen Schönheit... Und warum hat sie dies? Weil all dies mit ihrem wahren, verschütteten Wesen so unendlich zu tun hat.
Scheu vor der Konfrontation
Jedes Sich-Verbinden mit heiligen Begriffen, die in der Seele selbst durch dieses Sich-Verbinden zu einer wachsenden Realität werden, beginnt mit einer unheiligen Realität, mit einem mangelnden Begriff und mangelnden Begreifen.
Der gewöhnliche, profane Begriff der Scheu besteht in einem bloßen Sich-Scheuen, einer gewissen Furcht oder Angst. Man kann etwa an ein unangenehmes Gespräch mit ,dem Chef‘ denken. An einem solchen Beispiel, das jederzeit an die eigene Lebenssituation angepasst werden kann, kann man innerlich, durch feines seelisches Wahrnehmen und Beobachten, unmittelbar erleben, was bei dieser Empfindung geschieht.
Ein Sich-Scheuen, ein Zurückscheuen bedeutet hier eine mehr oder weniger tiefe Verunsicherung der Seele, die sich in ihrem So-Sein bedroht fühlt – sei es, weil sie weiß, dass der andere Mensch jederzeit und unvorhersehbar zu scharfer Kritik in der Lage ist und man ihm gegenüber kein Selbstvertrauen gewinnen kann, sei es, weil man tatsächlich in einem konkreten Fall etwas falsch gemacht hat und nun die Konfrontation mit dieser Tatsache fürchtet. Diese gewöhnliche Scheu ist eine Furcht vor der Konfrontation mit verunsichernden, das eigene Selbstverständnis umstoßenden Situationen. Letztlich ist es immer die Furcht vor einem erwarteten und zu erwartenden Urteil. Und nach diesem Urteil bzw. dieser Fülle von Urteilen fühlt die Seele sich mehr oder weniger am Boden zerstört, und sei es nur für einen Moment.
Scheu vor dem Schlimmen
Eine andere Scheu betrifft ein eigenständiges Sich-Scheuen vor einem Schritt, zu dem man nicht unmittelbar gezwungen ist oder der nicht unmittelbar die Konfrontation mit einem fremden Urteil bedeutet.
Man kann etwa an die Scheu denken, einem Ort zu begegnen, an dem etwas Schreckliches geschehen ist oder noch immer geschieht. Der Ort eines Verbrechens. Ein Ort, an dem Massentierhaltung betrieben wird. Ein Buch, in dem Schlimmes beschrieben sein wird.
Versucht man, das Wesen dieser Scheu zu erleben, kann man wiederum spüren lernen, was mit ihr in der Seele geschieht. Es ist ein tiefes Berührtwerden der Seele von dem Schrecklichen – das zunächst über die vorausnehmende Vorstellung in die Seele einströmt und dort zu dieser Reaktion führt. Die Seele scheut sich. Sie scheut sich, der Realität dieses Schlimmen zu begegnen. Und diese Scheu ist anwesend, ist eine Regung der Seele, weil sie weiß, dass das Schlimme schlimm ist. Es ist das moralische Wesen der Seele, das Scheu empfinden kann. In letzter Hinsicht ist es das Zurückschrecken des moralischen Ur-Wesens der Seele vor allem, was dieses Ur-Wesen und sein lebendig-reales Ur-Empfinden und Erkennen verletzt.
Das Ur-Wesen der Seele empfindet alles Schreckliche – und es fühlt sich möglicherweise sogar mit schuldig... Es sind reinste, unmittelbarste moralische Regungen, die hier mitspielen und in jedem einzelnen Fall lebendig werden.
Es kann aber sein, dass diese Realitäten sehr verschüttet bleiben. Es kann sein, dass die Seele sich dann vor etwas Schrecklichem scheinbar nur deshalb scheut, um sich dem nicht auszusetzen, rein ,egoistisch‘ gesehen. Man kann einen Artikel über Massentierhaltung auch deshalb ablehnen, um sich dem nicht auszusetzen – und weiterhin gedankenlos sein Fleisch zu essen. Was hier geschieht, ist dann, dass die Seele verhärtet und gerade vor der Scheu zurückscheut, diese ablehnt, abweist. Die Seele kann mit großer Härte eine Konfrontation mit moralisch schlimmen Realitäten ablehnen. In tiefster Hinsicht ist es dann noch immer eine Scheu – nun aber eine völlig verhärtete Scheu vor der Empfindung der Scheu selbst. Die Seele erträgt es nicht, mit der moralischen Wirklichkeit konfrontiert zu werden, in Bezug auf die die Scheu die natürlichste aller Regungen wäre.
Wahre Scheu in dieser Hinsicht beruht immer schon auf einem Hineinragen der wahrsten, heiligsten Empfindungen der Seele gegenüber dem, was ihr bevorstünde, wenn sie die Begegnung zuließe.
Diese wahrste und reinste Empfindung gegenüber etwa dem konkreten Erleben von Massentierhaltung wäre das, was in der Seele aufsteigen würde, wenn sie sich in reiner Weise diesem Erleben ganz aussetzen würde. Ohne rationale Gedanken, die alles Erleben herablähmen, sondern wirklich nur empfindend. In diesem Moment, wo die Seele die unmittelbare, unverfälschte Begegnung mit der Kreatur, mit dem heiligen Geschöpf vor ihr hat, kann die Seele nur eines empfinden: Mitleiden. Erschüttertes Mitleiden mit dem Geschöpf und erschüttertes Leiden an dem, was hier geschieht.
Jegliche Scheu in dieser Hinsicht, und sei sie noch so herabgelähmt, ist in tiefstem Sinne die Scheu des reinsten Teiles der Seele vor dem Grauen – dem Grauen der absoluten Unmenschlichkeit und Seelenlosigkeit... Die Seele weiß, dass sie diesem begegnet, und sie reagiert mit Erschütterung und tiefstem Leiden daran. Das ist es, was sich in den heiligen Untergründen abspielt, da, wo die Seele wirklich ihr Wesen hat. Und mehr an der Oberfläche lebt dann die Scheu – die Scheu, sich dem auszusetzen. Die Scheu vor der Konfrontation ... mit dem Schlimmen.
Scheu vor dem Heiligen
Eine sehr andere Scheu lebt in der Seele, wenn sie ohne alles Schlimme etwas Heiligem begegnet. Man kann sagen, die Scheu ist die natürliche Regung der wahren Seele gegenüber dem Heiligen.
Das Heilige kann das unmittelbar Göttliche sein, das die Seele etwa in einem Kirchenbau wahrnimmt, ob sie es weiß oder nicht – wodurch sie unmittelbar den Laut ihrer Schritte oder ihrer Stimme dämpft. Das Heilige kann aber auch mit einem schlafenden Baby verbunden sein und dieses wie eine intensive Aura umweben. Die Seele scheut sich dann nicht nur, laut zu sprechen, sie scheut selbst jede gröbere Empfindung, jeden bloß profanen Gedanken. Und so sehen wir, dass die Scheu hier in eine unmittelbare Nähe zur Ehrfurcht rückt. Denn Scheu ist hier die unmittelbare Regung gegenüber dem Heiligen – und sie verwandelt sich in Ehrfurcht.
Hatten wir auf der ersten Stufe eine Scheu der Seele vor einer mehr oder weniger existenziellen Verunsicherung, so kehrt hier dasselbe Wesen der Scheu auf einer viel heiligeren Stufe wieder. Denn nun geht es nicht um ein egoistisches Am-liebsten-vermeiden-Wollen einer Begegnung, die tief verunsichern kann, sondern nun geht es um ein reines, heiliges Berührtwerden von etwas Heiligem. Und nun ist es in wunderbarer Weise so, dass die natürliche Regung der Seele ist, sich selbst zu ver-un-sichern, nämlich von selbst und in tieferem Sinne gewollt ihren sicheren Standpunkt aufzugeben. Sie gibt das profane, selbstsichere und selbstgefällige Selbstempfinden auf – und gibt sich einem reinen, tiefen, berührten Erleben des anderen hin. Mit anderen Worten: Sie lässt sich berühren.
Scheu in dieser Hinsicht ist die Scheu, dem Heiligen nicht zart, rein und unschuldig genug gegenüberzutreten... Die Seele wird von selbst andächtig und im besten Sinne ehrfürchtig, nämlich verehrend und scheu, um so dem Heiligen begegnen zu dürfen. Sie weiß, dass sie es sonst verlieren würde. Heute haben wir die Scheu vor dem Heiligen längst verloren. Wenn wir sie wiederfinden, fürchten wir uns zunächst weniger vor dem Heiligen, als davor, es wieder zu verlieren. Die Seele flüchtet sich gleichsam in die allergrößte Scheu, um das Heilige nicht wieder zu verlieren. Sie scheut sich vor dem erneuten Verlust und dämpft deswegen scheu all ihre groben Empfindungen und lässt an ihre Stelle die zartesten, die scheuesten Empfindungen treten…
Man kann auch einmal an eine heilige, unerwartete Begegnung mit der Kreatur denken. An einem frühen Herbstmorgen begegnet die Seele ganz plötzlich und unerwartet auf einer Wanderung durch die Felder einem Reh... Sie ist zutiefst berührt – weil in dem Geschöpf die Unschuld selbst begegnet. Und in einer heiligen Scheu dämpft sie wiederum alles, verharrt regungslos, scheut auch hier wieder jeden gewöhnlichen Gedanken, der diese Begegnung sofort verunreinigen und entheiligen würde – und tut alles, um das unschuldige Geschöpf nicht zu verscheuchen. Die Scheu der Seele heiligt die Begegnung, indem sie der heiligen Begegnung durch ihre eigene Heiligung Dauer verleiht... Indem sie der scheuen Kreatur selbst mit Scheu begegnet.
Das heilige Wesen der Scheu
Indem wir uns mit diesen Erlebnissen immer mehr zu dem heiligen, wahren Wesen der Scheu vortasten, können wir empfinden, was dieses Wesen wirklich bedeutet – im Grunde für alles. Es ist gerade ein Eintauchen der Seele in eine heilige Sphäre, in Bezug auf sie selbst.
Die Seele begegnet dem Heiligen mit Scheu, mit scheuer Andacht, Verehrung, Liebe, weil die Scheu diejenige innere Regung ist, die die Seele auch selbst heiligt. In der Scheu wird die Seele dem Heiligen ähnlicher als jemals sonst – gerade deshalb wird sie dadurch würdig, ihm zu begegnen. Und warum wird sie in der Scheu etwas Heiliges, warum taucht die Scheu die Seele in eine heilige Sphäre? Weil die Seele sich in der Scheu nur noch mit den heiligsten Empfindungen, Gedanken, Willensimpulsen erfüllt – und mit nichts anderem. Selbst diese ,stürmen‘ nicht drauflos, sondern treten in der Seele zart, scheu und sanft auf, in ihrer heiligsten Gestalt...
Das Wesen der Scheu ist zarteste Zurückhaltung – gerade darum ist sie von dieser heiligen Sphäre umgeben und ist sie diese Sphäre. Und in dem Wesen der Scheu gewinnt die Seele so eine heilige Unschuld. Denn die Ur-Schuld ist gerade der Verlust aller heiligen Zurückhaltung – wodurch die Seele in die Selbstheits-Schuld stürzte. Aus einer göttlich reinen und unschuldigen Seele wurde ... ICH. Der Impuls des Selbstbezuges, der die Seele durchtränkte, seitdem sich in ihr der luziferische Impuls geltend machte, wuchs immer mehr an, bis er in heutiger Zeit die Seelen so sehr ergreifen kann, dass ihnen nichts mehr heilig ist als ihr eigenes Selbstheitszentrum, dem sie alles unterwerfen. Das kann längst jene Stufe erreicht haben, in der die Seele im Grunde fast empfindungslos geworden ist – oder aber nur noch Empfindungen hat, die auf sie selbst gerichtet sind: Lust, Gier, Langeweile, Spott, Ironie...
Die Scheu aber ist eine Empfindung, die all das in sein absolutes, völlig unschuldiges Gegenteil verwandelt. Sie ist eine heilige Empfindung der Seele, in der sie in tiefstem Maße von sich selbst absieht. Ihr Impuls ist es nicht, sich zu fühlen, sondern sich mit heiligen Empfindungen zu erfüllen, die fähig sind, das Andere so tief und zart wie nur möglich zu spüren, zu empfinden, zu erleben.
Es geht gerade nicht um ein völliges Schweigen der Empfindungen, ein Sich-leer-Machen im Sinne gewisser spiritueller Richtungen, sondern um ein tiefes Sich-Erfüllen mit dem Wesen der Zartheit selbst. Hier sind die Scheu und die Zartheit innigst verwandt. Zartheit ist scheu – und Scheu ist ganz und gar zart.
Gemeint ist auch in keinster Weise mehr Schüchternheit im scheinbar negativen Sinne, sondern eine heilige, zurückhaltende Sanftheit. Eine seelische Bewegung, in der alles gezeigt und zugleich alles zurückgehalten wird. Und zugleich alles aufgenommen, wahrgenommen, empfunden wird – und zwar in zartester Weise, in tiefster, scheuester Achtung. Hier liegt wirklich der heilige Keim der Liebe...
Die Scheu und das Wesen der Liebe
Wollte man den Weg der Seele zur heiligen Scheu noch mit anderen Worten andeuten, müsste man sagen: Die Seele verschließt sich zunächst ganz keusch in sich selbst und findet hier das Heilige, ein reines, lauteres, inniges Inneres ... und dann, nachdem dieses Wunder geschehen ist, wendet sie sich in ganz und gar derselben keuschen Reinheit und Zartheit nach außen...
Einen leisen Hauch von dieser heiligen Ur-Bewegung der Seele findet man eingefangen etwa in dem Bild ,Verkündigung’ von Fra Angelico (sowohl im Engel als auch in der Maria) oder auch in dem Titelbild meines Buches ,Von den Mädchen’.
Die Scheu ist eigentlich die absolut unschuldig gewordene Seele. Und die Frage ist nur, ob die Seele diese heilige Sphäre finden kann.
Als heilige Empfindung oder sogar Stimmung ist die Scheu die natürliche Regung des heiligen Teils der Seele gegenüber dem Furchtbaren und gegenüber dem Heiligen. Ursprung dieser Empfindung aber ist das heilige Wesen der Seele selbst – und die in diesem Wesen zutiefst lebende Liebe zum Guten.
Man kann es nicht anders sagen, als dass in dem reinen Impuls der Scheu bereits das Wesen der Liebe liegt und lebt. Denn nur die Liebe selbst kann sich etwas anderem in scheuester Annäherung zuwenden (statt die Erfüllung irgendeiner Lust zu erstreben) – und nur die Liebe wird sich dem anderen in nie enden wollender Zuwendung hingeben.
Das Wesen der Scheu ist zarteste Zuwendung unter einem Schweigenlassen jeglichen Selbstimpulses. So ist es reine, heilige Hingabe – Hingabe in zartester, unschuldigster Zurückhaltung und Liebe. Es ist zurückhaltendste Liebe, die ihr Wesen gerade dadurch ganz und gar wahrmacht, dass sie sogar sich selbst nicht ins Zentrum stellt.
Die Scheu als das heilige Mysterium der Sanftheit wird einst jede menschliche Begegnung und alles menschliche Tun wieder neu heiligen, in die heilige Sphäre der Unschuld zurückführen können...