16.12.2017

Über das Weiche

Gedanken über die unsichtbare Hälfte der Welt.


Nach meinem letzten Aufsatz reagierte der vor allem angesprochene Mischa mit folgenden Worten:

Holger Niederhausen war in seiner Kritik sehr milde. Das "rechne" ich ihm hoch an. Es ist der tragische Streit [...] zwischen Realpolitik und Utopie, zwischen Fundis und Realos.
[...] Es ist dies der Abgrund, der klaffende, der übersprungen wird, kommend dem Hintergrund des Prinzips des Fisches, der allverständig umfassenden Weltseele des Neptunischen, aus welchen sich das Prinzip des Mars herauslöst, um Individuelles - vertrieben aus dem Paradies - Erscheinung werden zu lassen.
Jeder, auch Niederhausen, der in der Welt steht, erzeugt Gegenkräfte, denn Erscheinung werden ist- streng spirituell besehn - "unrein". Immer. Wir werden in das Sein geworfen, durch die Geburt, und werden eine Last, nicht nur eine Freude. Wir nehmen anderen Wesen Raum, Nahrung, Dasein. "Erbsünde" eben.
[...] Ursache des Streits, auch der mit RH war ja mein Unmut: Wie kann es sein, daß [...] akademisch geweihte Meinungsführer ... anthroposophischer Herkunft [...] völkische und populistische Tendenzen intellektuell aufbereiten... und Wirklichkeitsverzerrern das Wort reden? [...] Steiner definitiv mißbrauchen, in dem sie seine Weltkriegsvorträge ... für antidemokratische Machenschaften durch ihre Fähigkeiten aufbereiten und instrumentalisieren? [...]
Wer Freunde verliert, gerade in der Realität, hier ist nur eine virtuelle Gesprächfunktion, besinnt sich ... um nicht "Opfer" zu sein .. auf die anderen alten Werte, der des "einsamen Marlboro-Cowboys", dessen Urbild allerdings das des keltischen Kriegers ist, der in den Sonnenuntergang hineinreitet, um "die Reise des Helden" anzutreten. Immer auch ein Bild für Neubeginn. [...]
Was ich bei Holger Niederhausen finde, ist eine Ahnung des Neptunischen, aus dem der Realo und Realist sich lösen muß, um die realen Umstände zu gestalten [...]. Beim "Fundi" Holger Niederhausen spüre ich, daß er [...] die andere Hälfte der Welt bewahrt, damit das Erkennen selbst nicht zur Ausweglosen Moebiusschleife werde.
Der Realo nennt es "Phantasie". Der Wissende nennt es die unsichtbare Hälfte der Welt, um dereinst einmal wieder die Welt der Erscheinung, wo der "unreine" Daseinskampf herrscht, so einzurichten, - die Kulturlandschaft der Parks, die chinesische Verbotene Stadt, sie träumten nur davon - daß sie zum Spiegel der Welt des Himmels werde.


In diesen Worten fühle ich mich sehr verstanden. Und diese dankbar zum Anlass nehmend, möchte ich darüber noch mehr schreiben.

Mir scheint, dass auch für Mischa sehr deutlich ist, wie das Heilige, das Unschuldige, der eigentliche Urgrund der Welt und auch des Menschenwesens ist – dieses jetzt wirklich in seinem ganzen Ursprung verstanden, den es aber noch immer mit sich trägt, selbst in der Erscheinung, aber ganz im Verborgenen – während das Ungeborgene das in die Erscheinung Tretende, einsam und schuldig und unvollständig Gewordene ist. Die Unschuld aber, die heilige und heilende Unschuld, sie wohnt noch immer in jedem einzelnen Herzen, wie geborgen und verborgen, wie geschändet und verschüttet auch immer...

Mischa nennt es hier das Neptunische, den Hintergrund des Fisches (griech. ichthys, I-CH oder Iesous Christos, von den Urchristen auch mit dem Chi, dem X, dem Kreuz wiedergegeben). Die unsichtbare Hälfte der Welt, die dazu bestimmt ist, einst wieder in die Erscheinung zu treten, ja, die Erscheinung der Welt zu sein. Wesen und Erscheinung, die heute getrennt sind, in einer heiligen Einheit wieder zusammenzubringen. Der ,Realo’ nennt es ,Phantasie’ – nicht wissend, wie sehr Novalis’ magischer Idealismus und sein ,Romantisiren’ gerade ein Durchbruch zur wahren Wirklichkeit war und ist.

Der ,Realo’, der sich von seiner ,Phantasie’, überhaupt von seinen reinen Sehnsuchts- und Unschuldskräften abtrennt, trennt sich von seinem eigenen wahren Wesen – und macht fortan nur noch ... Realpolitik. Eine Politik, die die Welt weiter in den Untergang führt. Die sich anpasst, die mitmacht, die zu Geopolitik wird. Zu einem Kampf um Ressourcen, um Macht, um Interessen. Strategie, Taktik, Berechnung. Es ist eine schleichende Anpassung – das Gegenteil von Emanzipation, wahrer Emanzipation: der Emanzipation von den dunklen Kräften, die Seele und Wesen auf ihre Seite ziehen wollen. Diese schleichende Anpassung führt immer mehr zum Mit- und Selbst-Tätertum. Sie macht gerade das wahr, an das sie sich anpasst: den Kampf, das Schuldhafte, das Vereinsamte und Vereinsamende, das Zerschlagende, das Kalte und Leere.

Der Christus trat nicht in die Welt, damit dies sich fortsetze. Er kam nicht ,in das Seine’, damit die Welt weitermache mit der ,Realpolitik’, die diesen Einschlag der Unschuldssphäre in das Irdische nicht zur Kenntnis nimmt, sondern mit einem müden Lächeln beiseite wischt, als ob es ihn nie gegeben hätte. Es gab ihn aber. Von Henning Köhler gibt es ein wunderbares Buch: ,Vom Ursprung der Sehnsucht’. Er zeigt, wie in der Pubertät ein Allerheiligstes aufbricht, wenn die Ideale im Herzen geboren werden. Er macht das reine Sehnsuchtswesen des Menschen erlebbar. Und dies hat nichts zu tun mit der groben Abwendung von den Erwachsenen, es hat etwas mit einem tiefen, zarten Leiden an dem Ist-Zustand zu tun, mit etwas überhaupt nicht in Worte zu Fassenden. Nicht der Marlboro-Mann, sondern das heilige Unschuldswesen ist es, was die Seele hier berührt und in ihr ruft...

Das Mädchen, von dem ich immer wieder schreibe, ist es, was diese ,Pubertät’ in reinstem Sinne wahrmacht. Nicht, indem es selbstständig wird, männlich und einsam (puber = geschlechtsreif, mannbar, erwachsen), sondern im Gegenteil, indem es ganz vereint ist mit jener Sehnsuchtssphäre, die zugleich die wahre Wirklichkeitssphäre ist – die Sphäre des magischen Idealismus von Novalis, die Sphäre der geistigen Welt, aller helfenden Wesenheiten, die Sphäre der Weihnacht, der Menschenweihe überhaupt. Das Mädchen – nicht der Mann.

Der Mann macht gerade das Prinzip der Emanzipation wahr – der Emanzipation von der geistigen Welt und von der Wahrheit, von dem Frieden, von der Heimat, von dem Heiligen und Heilenden. Und die Tragik ist, dass er nicht mehr zurückfindet – und irgendwann auch gar nicht mehr zurück möchte... Er vergisst diese Sphäre erst, dann verleugnet er sie, dann verspottet er sie, dann bekämpft er sie...

Das Mädchen aber vergisst diese Sphäre nicht. Denn es bleibt mit ihr ja immer so unendlich stark vereint, der ganze Himmel lebt ja im Herzen des Mädchens. Und deswegen kann, wenn jemand, gerade das Mädchen den Frieden bringen. Wer denn sonst? Die, die das Heilige in sich verleugnen und die Anpassung des ,Realos’ vollziehen? Nein – nur das Mädchen, das mit den tiefsten Quellen des Heiligen vereint bleibt. Das lateinische ,fundus’, das den ,Fundis’ so gern um die Ohren geschlagen wird, bezeichnet den Grund, den Ur-Grund – und es wird auch eine innere Verwandtschaft zur ,fons’, zur Quelle haben. Das Mädchen bewahrt fundamental und mit reiner Quellkraft das Allerheiligste in seinem Herzen – und es ist das Mädchen, das sich in stärkstem Maße emanzipiert hat, nicht von der geistigen Welt, sondern von der irdischen Welt, die den Übergang zu ,Realismus’, zu Kampf, Spott und Hässlichkeit macht. Es wandelt auf der Erde – aber es ist nicht von ihr...

Es gibt aber noch eine andere Welt – die Welt der Schönheit, die auch in dieser Welt ist. Etwa in der Natur, in einer noch heiligen Kunst, in allem, dem gegenüber die Seele gleichsam hymnisch entgegeneilen kann, weil sie sich ihm verwandt fühlt. Das Mädchen neigt sich mit Liebe zur Erde, weil es die Erde liebt. Es tut dies ganz unbewusst oder ganz ohne dass es dafür eine Erklärung bräuchte. Aber das Gleiche tat das Ur-Liebe-Wesen – es kam in Liebe zur Erde und vereinte sich mit ihrem kranken, gefallenen Wesen. Und so kann auch das Mädchen nichts anderes tun – es liebt diese Erde...

Die Welt der ,Realos’ vergisst die unsichtbare Hälfte der Welt. Und sogar die sichtbare. Denn die Hälfte der Welt ist weiblich. Diese weibliche Hälfte hat sich der männlichen nur angepasst – aber zuvor hatte die männliche längst ihre wahre Hälfte vergessen und verloren. Nun ist ihr auch die weibliche Hälfte nachgefolgt. Und nur Eines ist noch nicht gefolgt – das ist das Mädchen. Es blieb stehen, einsam, nun von allen verlassen. Und zugleich ist das Mädchen das Einzige, das nicht stehenblieb – denn es folgte immer und in jedem Augenblick dem Christus, dem Ewig-Voranschreitenden, dem Ewig-Wandelnden, dem immer Kommenden.

Und das Mädchen hat sein eigenes Tempo. Es rast nicht wie Ahriman in eine Zukunft, die noch gar nicht für den Menschen, für das wahre Menschenwesen bestimmt ist. Es geht in heiliger Anmut gemeinsam mit Christus, hält Schritt mit Ihm – und nicht mit den dunklen Mächten. Deswegen ist es einsam, denn alle anderen eilen voran, besessen von Tempo und Macht, oder bleiben auch zurück, besessen von Vergangenem, vielleicht auch hier wiederum von Macht. Das Mädchen ist die Machtloseste von allen – aber in seinem Herzen trägt es den Himmel, die einzige wahre Macht auf Erden, die heilige Macht der Liebe.

Ja, das Sanfte kann eine Welt, die in Härte und Hässlichkeit stürzt, nicht ,gestalten’. Aber auch ,Realpolitik’ kann dies nicht. Es ist nicht möglich, das Böse kaputtzubomben, ohne dass es in sieben neuen Köpfen neu geboren wird – in Köpfen, die vorher vielleicht gar nicht böse waren, es aber nun werden. Nur das Gute kann das Gute hervorbringen – nicht aber das selbsterklärte ,Gute’, das sich in realpolitischer Weise auf der richtigen Seite glaubt. Das wahre Gute ist bedingungslos – wie die Liebe. Und nur diese eine einzige Kraft im Kosmos kann das Gute hervorbringen. Und kann sogar noch durch Granitschichten hindurch das andere Gute wieder an seinen Ursprung und sein Wesen erinnern. Das gerade ist die Macht des Mädchens, des irdisch ohnmächtigsten Wesens schlechthin.

Das sanfte Wasser streichelt den Stein so lange, bis er selbst weich und rund wird. Aber von Erich Fried stammt das Wort: ,Zu den Steinen hat einer gesagt: 'Seid menschlich.' Die Steine haben gesagt: 'Wir sind noch nicht hart genug.'’ Das bedeutet: Das Menschenherz kann sich noch mehr verhärten als selbst der Stein. Das Geheimnis des Menschenherzens ist, dass es selbst wieder geheilt werden wollen muss – es kann sich sogar noch vor dem Heiligsten und Heilendsten verschließen. Ein Stein kann das nicht. Der Mensch kann es...

Die Menschheit entfernt sich von ihrem Urwesen, und die Frage ist in größtem Leid offen, wie sie es wiederfinden kann. Realpolitik ist nicht die Lösung – sie ist Teil des Problems. Einstein sagte: ,Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.’ Realpolitik aber ist die volle Anpassung an die existierenden Probleme, die Anpassung an die Schuldhaftigkeit der Welt. Und das Dogma ist: Dies ist nie wieder rückgängig zu machen. Oder gar: Unschuld? So etwas gab es nie. Das aber ist das Dogma der katholischen Kirche. Die ,Realos’, die sich von ihrer heiligen Heimat brutal abschneiden, haben also mit dem ,Schuld-Diskurs’, der die Seele in einer niederdrückenden Abhängigkeit halten sollte, mehr gemein, als sie denken. Sie nun halten die Seele nicht in der Abhängigkeit des Religiösen, aber in der Abhängigkeit der tieferen Hoffnungslosigkeit.

Für den ,Realo’ ist das höchste eine halbwegs erfolgreiche Gestaltung der Verhältnisse nach der ,Vernunft’. Aber den Tsunami des Intellekts kann auch er nicht aufhalten. Und so wird Vernunft immer mehr ... Pragmatismus, Kälte, Effizienz. Ahriman siegt dennoch. Dann mag das Leben technisch angenehm sein – und doch wird es regiert von Kalkül, Verwaltung, Geopolitik, Überwachung und Bomben. Der ,Realo’ kennt nicht den Kniefall eines Brandt in Warschau. Er kennt nicht das ,Prinzip Hoffnung’, er kennt nicht die Sehnsucht, nicht die Phantasie. Er kennt auch nicht die moralischen Intuitionen, auch nicht die moralische Phantasie – und nicht die ,moralische Technik’, die nichts anderes ist, als auf die Erde gebrachte Liebe.

Auch das Mädchen kann die Welt nicht retten, wenn sie sich nicht retten lassen will. Aber Realpolitik kann es erst recht nicht. Das Mädchen trägt alles Rettende in seinem Herzen – die Welt bräuchte nur wieder eine Sehnsucht nach Rettung, nach Heilung, aber selbst diese verliert die Welt ja. Gerade das ist der Realismus: das Verlieren und das mutwillige Aufgeben der Sehnsucht. Die Schändung der Sehnsucht, ihr Verrat. Jedes Scheitern des Menschlichen ist zuerst ein Verrat an dem heiligen Sehnsuchtswesen des Menschen. Rettung kann nur aus einer Wiederverbindung der Seele mit diesem Wesen kommen. Das ist Religion – die Wiederverbindung.

So ist das Mädchen das Wesen des Religiösen schlechthin – denn es hat die Verbindung nie verloren. Was das Mädchen ist – das kann der Mensch werden. ,Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.’ Das Mädchen ist die große Lehrerin der Emanzipation. Die Menschenseele ist den dunklen Kräften längst unendlich viel mehr verfallen, als sie es von sich glauben mag. Selbst ,die Guten’ haben sich tief hineinbegeben in jene Sphären, die nur die Vernichtung bringen. Die Emanzipation ist die eine Zukunftsaufgabe der ganzen Menschheit. Und es ist das grandiose Paradox unserer Zeit, dass gerade das Mädchen, das in seiner hoffnungslosen ,Zurückgebliebenheit’ so verlacht wird, die gefallene Menschheit an das Rettende erinnern kann.

Auf Wikipedia kann man lesen, ,emancipatio’ sei die ,Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt’. Darin liegt ein ,ex manu capere’, ein ,aus der Hand nehmen’. In wessen Hand aber ist die Menschheit heute? Nicht mehr in der Hand des Vaters – denn der väterliche Urgrund hat die Menschheit seit langem entlassen. Sie fiel dann in die Hand der Gegenmacht – und die ganze Menschwerdung der Zukunft ist eine Emanzipation aus dieser. Das Mädchen aber lehrt sie gerade, weil es selbst nie in die Hand der anderen Macht fiel. Sein Herz verfiel dieser Gegenmacht nie – und so kann gerade das Mädchen die gefallenen Herzen erinnern.

Die Macht, mit der der Widersacher arbeitet, ist unsichtbar. Es ist der Intellekt, der die Kälte, den Spott, die Eigensucht, das Kalkül und den ,Realismus’ bringt. Der Widersacher überwältigt ausgehend vom Kopf das Herz – oder, man kann auch sagen, bannt erst die reinen Herzenskräfte in eine dunkle Gefangenschaft und überwältigt dann mit dem kalt und selbstbezogen gewordenen Rest die einst reinen Gedanken. Wie man es auch ansieht: Erkaltende und kalte Kräfte siegen über die wahren, heiligen Kräfte des Herzens (und des reinen Hauptes). Aber das Mädchen lehrt die Seele ein neues Geheimnis: Das Herz kann sich aus der Macht der Widersacher befreien. Und ... es kann selbst Gedanken haben...

Siehe – das ist das Mädchen. Die Retterin der menschlichen Seele, denn sie als Einzige hält heilig und sanft Schritt mit dem Fische-Liebe-Wesen...