24.12.2017

Was ist Weihnachten?

aus: Holger Niederhausen: Engel-Mädchen. Books on Demand, 2017. | Bestellen.


Es war der Nachmittag des Weihnachtstages. Simone hatte alle Menschen der Gruppe zu sich eingeladen, und neun wollten kom­men. Sie wollte ein schönes Beisammensein mit allen haben – und natürlich sollte Marie hier dann etwas sa­gen. Am Nachmittag zuvor hatte es ein wenig geschneit, kaum, dass der Boden bedeckt war. Doch dieser Schnee war zumin­dest in der heiligen Nacht lie­gengeblieben.

Sie war mit Marie relativ früh gekommen. Während sie mit Si­mone noch ein wenig den großen Wohnzimmertisch vor­bereitete und sich dabei mit ihr unterhielt, blickte sie immer wieder auf das Mädchen. Dieses kniete vor dem Weihnachts­baum, auf dem Ker­zen brannten, und war ganz versunken ... in den Anblick einer Krippe, die unter den Zweigen stand.

Sie sprachen von selbst leicht gedämpft. Aber auch als die näch­sten Gäste kamen, lächelte sie nur einmal verlegen und entschul­digend, auf Verständnis hoffend, und versank wieder in das, was offenbar nur sie sah...

Als aber dann wiederum die Nächsten klingelten, erhob sie sich sanft und begrüßte ebenfalls alle. Doch man hatte fast den Ein­druck, als wäre ein Teil von ihr noch immer wo­an­ders. Sie schien so sanft, so zart wie eine Schneeflocke...

Als sie alle am Tisch saßen und Simone sie noch einmal will­kom­men geheißen hatte, sagte Bernhard, ein Mann, der noch nicht lan­ge dabei war:

„Eine tolle Idee, Simone! Ich finde das ganz großartig!“

Die anderen pflichteten ihm bei.

Danach wurde ausführlich der Stollen begutachtet und wur­den die drei verschiedenen Sorten sehr zahlreicher Plätzchen bewundert.

„Wann hast du die denn alle gemacht?“

„Na ja – in den letzten Wochen...“

„Die sehen toll aus!“

„Und der Duft erst.“

Tee, Kaffee und alkoholfreier Punsch fanden ihren Weg in die Tassen und Becher.

Dann kam das Gespräch recht bald auf den gestrigen Gottes­dienst. Es stellte sich heraus, dass außer Simone noch vier andere Men­schen dagewesen waren – für fast alle von ihnen war es der einzige Kirchenbesuch des ganzen Jahres. Sie wusste, dass aber auch Marie gestern dort gewesen war.

Der Tenor war, dass der Gottesdienst einschließlich der Pre­digt ,recht gelungen’ gewesen war. Die Frauen und der eine Mann, die dort gewesen waren, verbanden offenbar auch Kindheitserinne­rungen damit. So ging es unter anderem auch um die Lieder, die Orgelbegleitung, dann wieder die Predigt, in der es natürlich um die Liebe, das Jesuskind und die heu­tige oft schwierige Weltlage gegangen war.

Marie hielt sich ganz zurück. Aber natürlich kam der Mo­ment, wo sie gefragt wurde. Natürlich hatte auch jeder andere den großen Unterschied zu dem, was Marie mit ihnen übte, erlebt. Und so frag­te Brigitte, eine der Frauen, die von An­fang an dabei waren:

„Und du, Marie? Wie war es denn für dich? Wie hast du es erlebt?“

Dass der Pfarrer zuvor das Mädchen einmal besucht hatte, wusste außer Simone wahrscheinlich niemand...

„Für mich?“, fragte sie fast schüchtern, irgendwie zerbrech­lich. „Muss ich das denn sagen...?“

Sie spürte unmittelbar, dass sie tatsächlich am liebsten schweigen würde. Aber Brigitte bat:

„Ja, Marie – erzähl doch...“

Und das Mädchen, das so gut wie niemals eine Bitte abschla­gen konnte, überwand sich und setzte zögernd an.

„Ich...“, sagte sie leise, „hatte gehofft, etwas zu finden...“

Fast beschämt schaute sie Brigitte an, stellvertretend für alle an­deren.

„Aber das habe ich nicht...“, fuhr sie ebenso leise und noch trau­riger fort. „Ja ... doch ... ich habe etwas gefunden. In manchen Menschen. Wie sie dasaßen. Wie sie zuhörten und hinschauten. Wie sie sangen. In den Gesichtern sah man es. Das war schön...“

Wie eine Schneeflocke... Fast hatte sie Angst, das Mädchen könnte schmelzen. Diese zarte Traurigkeit, noch immer so verletzlich, so zerbrechlich, so einsam...

„Und als die Kinder gesungen haben“, sagte sie innig, auf­lebend. „Das war nicht nur schön – das war – –“

Eine plötzliche Rührung nahm ihr die Stimme. Entschuldi­gend blickte sie die versammelten Freunde an.

„Ich hab da wirklich geweint...“

Tief berührt spürte jeder, wie unendlich tief das Herz dieses Mäd­chens war ... und konnte es mit seinen eigenen Empfin­dungen ver­gleichen...

„,Stille Nacht’ haben sie zuerst gesungen. Das war so schön! So unglaublich schön! So schön, dass der ganze Gottesdienst eigent­lich nur diese Kinder waren! Diese Kinder und diese beiden Lie­der! Das war der ganze Gottesdienst – und da habe ich alles gefun­den... So viel...“

Auf einmal war sie fast glücklich, wieder wie entrückt. Aber dieser Moment ging bald vorbei. Und nun sagte sie traurig:

„Aber – für die meisten Menschen waren diese beiden Lieder nur wie ... eine kleine Zutat. Die Kinder gingen wieder, und man fand sie ,süß’ – aber dann ging der ,richtige’ Gottes­dienst weiter...“

Fast wie abwesend sah sie nun in die Runde. Und sehr leise fuhr sie fort:

„Ich konnte das nicht fassen... Alles, was dann noch kam, war so ... war so weit weg... Da ... da waren diese Kinder gewe­sen, und diese beiden Lieder – und man machte einfach wei­ter! Ich ... ich kann das nicht verstehen...“

„Was war mit diesen beiden Liedern?“, fragte Jean warm.

Sie kannte Jean inzwischen sehr gut. Seine warme Art war voller Verständnis – und sogar mehr. Unmittelbar fühlte sie, dass er dem Mäd­chen damit eine Brücke baute. Etwas in ihr wehrte sich noch immer gegen diese tiefe Zuneigung gegen­über dem Mädchen, die man unmittelbar spürte. Aber sie hat­te längst gelernt, dass sie diese nicht verurteilen durfte – weil es sie nur ins Unrecht setzen würde. Sie verstand mittlerweile sehr gut, dass er aus seiner Liebe heraus nichts anderes tat als das, was Marie allen von ihnen beizubringen versuchte. Und wäre sie mit Marie allein gewesen, hätte sie sicher die gleiche Frage gestellt...

Innig dankbar für das Verständnis und das Interesse, das in dieser Frage lag, sah sie Jean an – und konnte durch sie ihr Herz öffnen.

„Stille Nacht, heilige Nacht... Die Worte gehen alle viel zu schnell vorbei! Alle Worte! Die Nacht ist still – weil sie hei­lig ist! Und warum ist sie still? Weil die Engel singen! Man hört das nicht – aber sie singen. Und je schöner sie singen – und die Kinder auch! – desto stiller wird es ... auf Erden. Die Nacht ist heilig, weil sie ganz still ist. Und umgekehrt. Man kann das nicht erklären!“

Erfüllt von dem, was sie auszudrücken versuchte, leuchtete ihr An­gesicht sanft in die Runde.

„Wenn die Engel singen, dann müssen die Menschen doch wissen, dass etwas heilig ist... Es wird ja schon heilig, wenn die Kinder sin­gen! Es ist still... Alles ist still ... weil das Hei­lige geschieht... Es ist, wie wenn Gott selbst mit seiner Hand über die Erde streicht, weil das Kind geboren wird.
Die Welt wird still ... in heiliger Winternacht ... weil das Kind ge­boren wird. Es ist, wie wenn ... die Erde den Atem an­hält...! Aber nicht vor Schreck, auch nicht vor Freude, son­dern vor ... ich ver­gess’ das Wort immer...“

In ihrem Blick lag zart verlegen die unschuldigste Bitte um Nach­sicht...

Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit dem Mädchen.

„Ehrfurcht...?“

„Ja, Ehrfurcht...“, sagte das Mädchen in sehr reinem Empfin­den. „Deswegen ist es die stille, die heilige Nacht. Wegen dem Kind – und wegen der Ehrfurcht der Welt. Nicht der Menschen, aber der Welt. Und der Engel natürlich! Aber die freuen sich gleichzeitig. Und die Welt ... die Welt betet. Ja, sie betet! Sie betet das Kind an. Die Erde, die ja schläft, aber eigentlich schläft sie gar nicht, nur äußerlich schläft sie. Die Erde, die Natur, die Tiere – alles betet das Kind an. Die heilige Nacht ist so still, wie wenn man nachts draußen allein im Wald ist – aber im Winter! Und noch viel stil­ler... Und so heilig ist sie dann – so heilig, wie sie still ist...“

Das Mädchen verstummte.

Schließlich fügte es, wieder aufrichtig entschuldigend, hinzu:

„Ich kann es nicht besser erklären...“

In die berührte Atmosphäre hinein fragte Jean schließlich leise:

„Und das ... andere Lied?“

Das Mädchen sann noch wenige Momente zu Ende – dann sagte es:

„Das andere Lied war ,Süßer die Glocken nie klingen’. Das ist ein ganz seltsames Lied... Die Kinder... Wenn die Kinder es singen, dann ... versteht man etwas. ,Es ist, als ob Engelein singen’... Aber die Engel singen ja wirklich! Man singt so ein Lied und weiß das gar nicht mehr! Aber wenn man die Kin­der singen hört, müsste man es doch wieder wissen... Aber ... es hat niemand gewusst.
Aber – warum klingen denn die Glocken in der Weihnachts­zeit so süß? Weil die Engel singen! Es ist, wie wenn die Glocken wie ein Echo den Gesang der Engel nachmachen. Früher haben sie viel­leicht außerdem auch noch die Freude der Menschen gespürt – aber dann haben die Engel eben auch in den Herzen der Menschen ge­sungen, nicht nur da drau­ßen... Und dass die Welt betet, das wissen die Glocken na­türlich auch...“

„Aber was ist nun eigentlich das Christkind?“, fragte Bern­hard. „Ich war gestern nicht da. Aber geht die nächste Stro­phe nicht so, dass das Christkind vom Himmel kommt, wenn es die Glocken hört? Wie soll man sich das vorstellen? Ich meine, es ist ja schon geboren, vom Heiligen Geist und so – angeblich –, aber was ist das Christkind, dieses heilige Kind, nun?“

Alle Augen waren gespannt auf das Mädchen gerichtet.

„Das weiß ich alles noch nicht...“, sagte sie leise. „Ich weiß alles, was ich gesagt habe. Aber warum die Engel singen und was dieses Kind ist, weiß ich noch immer nicht...“

„Man sagt doch, es ist Gottes Sohn. Jesus eben. Der dann aufer­steht. Nachdem er gekreuzigt wurde.“

„Ich kann dazu nichts sagen“, beteuerte das Mädchen ent­schul­digend und leise beschämt darüber. „Ich würde es selbst gerne wissen. Aber ich verstehe es noch zu wenig. Eigentlich noch gar nicht... Es tut mir leid...“

„Es braucht dir doch nicht leid zu tun“, sagte Simone. „Aber vor­hin knietest du da ... als würdest du es wissen...“

Sie blickte zu Simone hinüber.

„Ich habe es ... ja versucht zu sagen. Man kann doch ... spü­ren, dass das Kind etwas Heiliges ist. Ich weiß es jetzt. Und doch kann es sein ... dass man es alles noch nicht versteht... Man kann doch...“

Sie suchte nach einem Vergleich.

„Man kann doch auch spüren, dass die Sonne wärmt – auch wenn man überhaupt nicht verstehen kann, wie das über eine so weite Entfernung möglich ist...“

„Du hast mal gesagt, die Engel leben auch in den Sonnen­strahlen und tragen sie zur Erde.“

„Ja“, lächelte das Mädchen. „Ich weiß das ja auch. Aber ich weiß ja auch, dass die Engel singen – und dass für sie das Kind heilig ist, und auch für die ganze Erde. Und trotzdem ... weiß ich noch nicht, warum...“

„Gottes Sohn – der die Sünden von der Welt nimmt, weil er selbst dafür stirbt?“

Das war wieder Bernhard.

„Ich kann dazu nichts sagen“, wiederholte das Mädchen be­teuernd. Man sah, dass es sich dafür leise schämte. „Wenn das so ist, verste­he ich es alles noch nicht...“

„Das geht uns nicht anders“, sagte Simone nun. „Früher dachte ich, ich verstehe es. Aber je älter ich werde, desto mehr wird mir klar, wie wenig ich verstehe. Es erscheint alles immer so selbstverständ­lich – und so wird dann auch darüber geredet. Aber in Wirklichkeit – was verstehen wir überhaupt? Mir scheint, dass ich jetzt erst an­fange, irgendetwas zu ver­stehen – durch dich, Marie. Willst du jetzt etwas sagen? Ich meine nun ganz von dir aus? Ich hatte ja ge­hofft, dass du in der Kirche sprechen könntest. Jetzt tu es doch bitte we­nig­stens für uns...“

Das Mädchen sah nun erst recht verlegen in die Runde. Sie kannte seine tiefe Bescheidenheit und Unschuld so innig – aber auch allen Anderen ging es nicht anders. Dennoch wuss­te jeder von ihnen, wieviel dieses Mädchen zu schenken hatte ... weil es selbst be­schenkt wurde.

Dann begann es.