28.12.2017

Die Weihnacht und das Mädchen

Eine wahre Geschichte.


Das Mädchen kam am Nachmittag des Heiligen Abend in die Stadt. Grau waren die Straßen in der früh einfallenden Dämmerung. Tiefblau waren die Augen des Mädchens, aber niemand achtete darauf.

Die Augen des Mädchens... Hätte sie jemand wirklich angeschaut, hätten die eigenen Augen ertrinken können in jenem Blau, das so rein schaute wie ein Bergsee und das zu einem Herzen gehörte, das in diesem Moment nur ein Einziges in sich trug: die heilige Weihnacht. Und nur wer selbst ein so ganz und gar reines Herz gehabt hätte wie das Mädchen, hätte wissen können, dass eigentlich eine ganze Welt nicht ausreicht, um dieses heilige Geheimnis zu bergen. Aber ein Mädchenherz vermag es, denn es ist größer als eine Welt...

Die Welt aber beachtete das Mädchen nicht.

Vielleicht fragt sich nun mancher, wieso das Mädchen die heilige Weihnacht im Herzen trug, bevor sie überhaupt anbrach. Vielleicht liegt auch die Antwort darauf in ihren Augen. Das tiefe Blau ihrer Mädchenaugen würde im eigenen Herzen ganz sicher die Erinnerung an Himmels-Sternen-Höhen wecken – an jene Höhen, aus denen der heilige Friede der Weihnacht auch in diesem Jahr zur Erde herniederströmen würde, zwölf heilige Nächte hindurch.

Vielleicht war das Mädchen seine Botin? Damit soll nicht gesagt sein, dass sie aus Himmelshöhen kam – aber ihre Augen hätten einen daran erinnert, wie sie das Herz auch an Marias Mantel erinnert hätten, und wird nicht auch Maria die Sternenkönigin genannt? Aber die Stadt lag auch am Meer – und so hätten die Augen des Mädchens einen auch an das Meer und seine Tiefen erinnern können.

Aber niemand achtete auf das Mädchen.

Das Mädchen aber hatte noch eine Sehnsucht: dass es das, was es selbst im Herzen trug, in den anderen Herzen wiederfinden würde. Das bedeutete keine Spaltung oder Minderung dessen, was es im Herzen trug, denn es war nichts anderes als die Sehnsucht der heiligen Weihnacht selbst. Diese würde nicht zur Erde strömen, ohne Wohnung finden zu wollen, begnadend nicht nur Stein, Pflanze und Tier, sondern auch ... des Menschen Herz.

Aber die Menschen beachteten das Mädchen nicht.

Das Mädchen fand einen Weihnachtsmarkt. Es trat an einen Stand heran, betrachtete die Auslagen. Dann fragte es den Mann hinter dem Stand:

„Spürt Ihr die nahende Weihnacht?“

„Wie bitte?“, erwiderte der Mann zerstreut. „Willst du etwas kaufen? Sonst geh weiter – du vertreibst mir die letzten Kunden!“

Bestürzt blickte das Mädchen den Mann an. Dann ging es traurig weiter.

,Weihnachten kann man nicht kaufen...’, dachte es in seinem Herzen.

Aber soviel es auch suchte, sah es auf dem Markt nur hastende Menschen, die nichts vom nahenden Weihnachtsfrieden spürten.

,Weihnachten darf man nicht hasten...’, dachte es in seinem Herzen.

„Warum eilen alle so?“, fragte sie eine Frau.

„Wer eilt denn?“, fragte diese.

„Alle – in ihrem Herzen.“

„Sie wollen nach Hause.“

„Und dann?“

„Weihnachten feiern.“

Das Mädchen sah die Frau an.

„Aber es ist doch die falsche Eile.“

Die Frau sah die Augen des Mädchens nicht in der Dunkelheit.

„Du hast gut reden!“, erwiderte sie spöttisch. „Du bist ja fast noch ein Kind!“

„Was meint Ihr?“, fragte das Mädchen traurig.

„Werd’ du mal erwachsen! Hab erst mal eigene Kinder...“

„Aber wollt Ihr sie nicht beschenken?“

„Ja doch! Wenn du einem nicht die Minuten stehlen würdest.“

Erschrocken sah das Mädchen die Frau an.

„Aber...“, wagte es noch zu fragen, „schenkt Ihr auch Weihnachten?“

Die Frau sah das Mädchen verständnislos an.

„Das ist Weihnachten!“

Dann drängte sie weiter.

„So, und nun lass mich in Ruhe!“

Traurig und bestürzt sah das Mädchen, wie die Frau davonging. Sah es, wie der Markt sich allmählich leerte. Wie die Budenbesitzer zusammenpackten – oft fluchend über die viele Arbeit und vielleicht auch über das schlechte Geschäft.

Das Mädchen wollte wenigstens einen Menschen aufheitern. Es trat an eine Bude heran und wollte gerade etwas sagen, da kam ihm der Mann zuvor:

„Wir haben geschlossen!“

„Aber ich wollte doch nur – –“

Der Mann hatte bereits die Arme gehoben.

„Keine Zeit! Scher dich nach Hause!“

Mit einer fassungslosen Traurigkeit verließ das Mädchen den Markt.

Während es durch die Straßen der Stadt ging, in denen immer noch Leute eilten, spürte es, dass der Weihnachtsfriede nun auf der Erde ankam.

Glückselig blieb es einen Moment stehen und breitete mit geschlossenen Augen die Arme aus. Wunder strömte zu Wunder; wie Wellen, die sich brachen, nur in einer unendlichen Sanftheit und Stille, strömten die vom Himmel herniederströmende Weihnacht und das, was im Herzen des Mädchens lebte, zusammen, Hingabe das Mädchen, heiliger Gnadenstrom aus den Höhen.

Aber niemand beachtete das Mädchen.

Das Mädchen trat in eines der Häuser. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten bereits ihre Geschenke unter dem Weihnachtsbaum aufgerissen und spielten nun mit diesem und jenem, das Mädchen sah Plastik und Elektrisches.

„Kommt!“, rief die Mutter. „Wir wollen essen!“

Das Mädchen sah eine gebratene Gans auf dem Tisch.

Von neuem bestürzt sah es die Frau an.

„Und wo ist Weihnachten?“, fragte es erschüttert.

Die Frau deutete auf den Weihnachtsbaum.

„Das ist Weihnachten!“, sagte sie.

Traurig schüttelte das Mädchen den Kopf, eine Träne rann ihm über die Wange.

Als das Mädchen in eine andere Stube ging, fand es unter dem Weihnachtsbaum dort eine Krippe. Selig kniete es davor nieder. Ein kleines Mädchen kam zu ihm und tat es ihm nach.

Die Mutter lächelte, wie man über kleine Kinder lächelt.

„Na, Lena, bist du beim Christkind? Aber wir wollen gleich essen, ja?“

„Das ist Essen“, sagte das Mädchen leise für sich.

Das kleine Mädchen schaute zu ihr auf.

„Was hast du gesagt?“

Liebevoll wandte sich das Mädchen zu der Kleinen und flüsterte:

„Das Essen ist nicht wichtig, aber das hier – das heilige Kind... Alle Hirten kommen zu ihm, alle Engel singen wegen ihm... Da liegt es. Siehst du es?“

„Ja...“, flüsterte die Kleine andächtig.

„Vergiss es nie...“, flüsterte das Mädchen liebevoll. „Das ist Weihnachten. Der ganze Himmel kommt zur Erde...“

In den Straßen läuteten die Glocken. Das Mädchen folgte ihnen in glücklicher Erwartung.

Aber es wurde bitter enttäuscht. Es sah viele Menschen, die einmal im Jahr zur Kirche gingen. Zufrieden sah es sie wieder nach Hause gehen. Vom Kind hatte es fast nichts gehört, vom himmlischen Frieden gar nichts.

Es wartete beim Ausgang, bis der Pfarrer alle Menschen verabschiedet hatte. Der Pfarrer bemerkte es nun und fragte etwas müde:

„Und du?“

„Warum habt Ihr nicht mehr vom Kind gesprochen?“

„Die Leute wissen es doch.“

„Was wissen die Leute?“

„Dass es um das Kind geht.“

Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf.

„Warum habt Ihr nicht vom Himmelsfrieden gesprochen?“

„Was für ein Himmelsfrieden?“

Bestürzt und hilflos breitete das Mädchen die Arme aus.

„Dieser... Der Weihnachtsfriede... Vom Himmel...“

„Das habe ich doch.“

„Nein, Ihr habt den Menschenfrieden gepredigt.“

„Ja, das ist die Weihnachtsbotschaft.“

„Aber man muss sein Herz doch nur ... dem Himmelsfrieden öffnen!“

„Das ist Symbol, Mädchen. Das müssen die Menschen schon selbst machen, den Frieden.“

„Aber...“, stammelte das Mädchen, „wozu dann ... noch das Kind?“

„Seine Botschaft wollen wir beherzigen.“

„Seine Botschaft?“

„Ja, Jesus: Liebet einander.“

„Und das Kind?“

„Das Kind wird Jesus.“

„Und die Engel?“

„Na ja, die Engel...“, sagte der Pfarrer, wie wenn man mit der Hand Krümel vom Tisch fegt.

„Der ganze Himmel kommt zur Erde...“, sagte das Mädchen leise.

„Gott behüte dir deinen Kinderglauben“, murmelte der Pfarrer.

Das Mädchen hatte es aber gehört.

„Weihnachten ist das Kind“, erwiderte es traurig. „Und der ganze Himmel ist mit ihm.“

„Ja, ja“, sagte der Pfarrer und schien es nun eilig zu haben. „Frohe Weihnacht!“

Damit ließ er das Mädchen stehen.

Einsam ging das Mädchen durch die Straßen. Es war nicht einsam, denn es war nicht getrennt von dem heiligen Friedensstrom, der aus Himmelshöhen herniedertaute und floss, wie reinstes Sternengold – aber einsam war es in seiner Sehnsucht nach anderen Herzen, die dies auch erlebten. Doch in den Stuben, die es noch besuchte, fand es immer wieder das gleiche Bild: die Fenster waren hell erleuchtet, aber die Herzen waren dunkel. Sie beschäftigten sich mit Essen, Spielen, Lachen, irdischen Dingen und Gedanken. Sie waren angefüllt mit Materie – und dies war ihre Dunkelheit.

Und leuchtend und unaufhaltsam strömte die Weihnacht zur Erde...

Mit einem einsam leuchtenden Herzen ging das Mädchen langsam durch die Straßen.

Schließlich kam es zum Hafen. Dort schien alles ganz verlassen.

Das Mädchen stand einige Momente an der Mole und hörte den Wellen zu. Selbst die Wellen wussten mehr vom Weihnachtssegen als die Menschen.

Dann sah es an der Ostspitze des Kais ein kleines Licht. Es ging darauf zu und trat in eine alte, kleine Hütte.

Darin saß ein alter Fischer an einem Tisch und besserte still und ernst ein Netz aus. Auf einem Tischlein an der Wand war eine Krippe aufgebaut, davor stand eine Kerze.

„Und das Kind?“, fragte das Mädchen.

„Ist in meinem Herzen“, erwiderte der Alte.

Das Mädchen fühlte sich wie nach Hause gekommen.

„Und der Weihnachtsfriede?“

„Ist überall um uns“, sagte der Fischer.

Selig kniete sich das Mädchen zu Füßen des Fischers nieder und blickte zur Krippe hinüber.

„Und die Menschen?“

„Brauchen eine Sturmflut, um allen Unrat aus den Herzen zu spülen.“

„Kann man ihnen nicht helfen?“

„Sie klammern sich wie Schiffbrüchige an alles, was darin ist.“

„Und wie retten wir sie?“

„Sie brauchen die Sehnsucht nach dem Meer. Das Meer... Der Himmel... Christus... Das Kind... Die Weihnacht... Die Herzen sind viel zu enge. Das Meer all dessen ist nur zu fassen in tiefster Stille und tiefstem Ernst.“

„Ernst?“

Der alte Fischer sah das Mädchen an. Er lächelte gütig mit den Augen.

„Oder mit einem reinen Herzen, das selbst schon Meer ist – Meer und Himmel zugleich.“

Das Mädchen lächelte.

„Die Menschen werden irgendwann wieder eine Sehnsucht haben, nicht wahr?“

„Wir wollen es hoffen.“

„Frieden...“, sagte das Mädchen. „Himmelsozeangnadengeschenkter Friedenssegenstrom. Man muss ertrinken wollen. Ist es nicht das Schönste, zu ertrinken?“

„Ja.“

Und das Mädchen legte seinen Kopf auf das Knie des Alten, und es ertrank selig im Anblick der Krippe, während sein Herz sich ohne Widerstand dem gewaltigen, sanften, heiligen Strom hingab, der unaufhörlich die Weihnacht brachte...