2017
Der Populismus der Populismus-Gegner
Eine Erwiderung auf reaktionäre „Egoisten“-Kommentare.
Inhalt
Bobbys Post
Der Populismus dahinter
Die Realität
Die Linke
Paranoia oder Zukunft
Bobbys Post
„Bobby“, der bei den „Egoisten“ durchaus oft auch differenziert Sachverhalte aufarbeitet und offenlegt, zeigt in seinem neuesten Kommentar entweder extreme Schwächen oder ganz bestimmte, bewusste Tendenzen:
Bobby – 30.12.2017 20:19
Heute in der aktuellen Druckausgabe des "Spiegels", passend zum Beitrag und Diskussion:
"Liste Sahra Wagenknecht" als neue Querfront: Spaltung in der Partei "Die Linke"?
Sara Wagenknecht, Diether Dehm, Oskar Lafontaine fordern eine neue populistische Einheitspartei der Querfront die eine Verbindung nach rechts sucht und das Nationale hochhält gegen die dunkle Mächte der etablierten Politik. Mit dabei: Verschwörungsideologen Ken Jebsen sowie Jean-Luc Mélenchon. Daniele Ganser wird zufrieden sein. Nicht nur er…
"Der Machtkampf: Kipping gegen Wagenknecht.
…Auf der anderen Seite Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, 48, die einst von ganz links kam und nun die enttäuschten Wähler aus dem Osten von den Rechten zurückholen will. Bei dem Streit geht es nicht allein um Flüchtlinge, die Gräben reichen inzwischen tiefer. Es geht um das Selbstverständnis: Will die Linke eine weltoffene Partei sein, die den Nationalstaat für ein Modell von gestern hält und die Solidarität fordert, auch über Grenzen hinweg? Oder soll sie sich umformen in eine Bewegung, die Solidarität nur für die eigenen Leute propagiert, auch um das Wählerpotenzial zu optimieren – was im Zweifel bedeutet, Ressentiments zu schüren, gegen Flüchtlinge, Brüssel, die etablierte Politik. Wagenknechts Gatte Oskar Lafontaine fordert schon eine neue "linke Volkspartei", die das deutsche Parteiensystem umkrempelt. Er hat gesehen, wie andere es geschafft haben, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen; Sebastian Kurz in Österreich oder Emmanuel Macron in Frankreich. In der Partei macht die Befürchtung die Runde, aus der Linken werde über kurz oder lang eine "Liste Sahra Wagenknecht"…
…Wenn man Wagenknecht zuhört, sind ständig dunkle Mächte am Werk: die EZB, die Wall Street, das Kanzleramt. Meistens geht es darum, verborgene Zusammenhänge aufzudecken, die von der etablierten Politik so leider nicht angesprochen werden. Wagenknecht gibt sich radikal volksnah…
…„Wir holen uns Ärzte aus dem Irak, Syrien, Niger oder anderen Ländern – zynischer geht’s nicht.“ Solche Posts regen viele in der Partei auf. Sie nähere sich nun endgültig der Rhetorik der AfD an, schimpfte ein Fraktionsmitglied…
…So werden die Gräben immer tiefer. Kippings (Vorsitzende der Linken) absolute Horrorvision wären neue "Querfrontler", die eine Verbindung nach rechts suchten und das Nationale hochhielten. Dieser Streit entzündete sich erneut, als sich der Bundestagsabgeordnete und Wagenknecht-Vertraute Diether Dehm kürzlich dafür einsetzte, dass der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen einen Kulturpreis bekommt…
…Gerüchte über eine "Liste Wagenknecht" machen in der Linkspartei schon länger die Runde. Sie bekamen neue Nahrung, als die Planung für den Neujahrsempfang der Linken am 14. Januar bekannt wurde. Diether Dehm organisiert die Veranstaltung, sie wird finanziert aus der Kasse der Bundestagsfraktion. Dehm lud neben der Sängerin Nina Hagen den französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ein. Mélenchon wettert gegen den Euro, genauso wie Lafontaine und Wagenknecht…
…"Was hat es mit den Gerüchten um die Liste Wagenknecht auf sich?"
"Ich habe nicht vor, die Linke zu spalten", sagt Wagenknecht. Es gehe nur darum, langfristig eine soziale Machtoption zu ermöglichen"…
Der Spiegel, Nr. 1.2018 (30.12.2017), Seiten 14-17
Der Populismus dahinter
Was „Bobby“ hier treibt, ist selbst reinster Populismus. Er gibt die Urteile, die sich in den Köpfen festsetzen sollen, vor und scheut dabei vor Wahrheitsverdrehungen, Schwarz-Weiß-Malerei und anderem nicht zurück.
Er bezeichnet den französischen Präsidentschaftskandidaten Mélenchon als „Verschwörungsideologen“ und rührt alles in eine braune Brühe zusammen, bei der jeder Versuch, aus dem Partei-Einerlei (Schwarz-Rot-Grün-Gelb) auszubrechen, gleich mit der Keule gebrandmarkt wird, die scharf-rechts zu den Nazis und Truthern weist.
Wieviel Angst muss hinter solchen Formulierungen stecken – dass nicht gemerkt wird, wie hier dumpf Stimmung gegen jegliche politische Veränderung gemacht wird? Wie sehr wird hier vergessen, dass zum Beispiel 2008 beginnend mit Obama sämtliche Politiker unisono die „Wall Street“ und die gesamte Spekulantenszene gegeißelt haben? Geändert hat sich seitdem ... fast nichts.
Die Quintessenz aus Bobbys Bemerkungen ist: Alles ist gut. Weiter so! Wer die AfD-Wähler zurückholen will, ist selbst „rechts“. Wer die „europäischen“ Institutionen kritisiert, ist rechts oder Verschwörungstheoretiker oder beides. Und er wird gnadenlos in einen Topf mit allen Übrigen geworfen.
Das ist die Taktik von Populisten – nicht zu differenzieren, sondern die Zwischentöne grob zu zertreten und eben um jeden Preis Stimmung zu machen, die Urteile in die Köpfe zu hämmern, bevor Menschen selbst anfangen können zu denken.
Sehen wir einmal von der „rechten Gefahr“ ab, die sich im Erstarken der AfD widerspiegelt, so ist die alles entscheidende politische Frage heute doch: Leben wir mehr oder weniger in „der besten aller möglichen Welten“ – oder stimmt irgendetwas ganz grundsätzlich nicht?
Politiker wie Sahra Wagenknecht und Jean-Luc Mélenchon werden nicht müde, das Letztere zu betonen und zu versuchen, in sehr begründeten Argumentationen den Menschen die Augen für diese Tatsache zu öffnen.
Die Realität
Wer heute noch nicht wahrhaben will, dass die politische Klasse in Bezug auf die Finanzmärkte nicht nur versagt hat, sondern den Katastrophen eigenhändig Tür und Tor geöffnet hat, lebt selbst in einer illusionären Blase (siehe dazu sehr ausführlich mein zweibändiges Werk „Zeit der Entscheidung“). Wer nicht wahrhaben will, wie die europäischen Institutionen vor allem unter deutscher Führung Griechenland mit nie dagewesener Brutalität sinnlos in ein unglaubliches Elend gestoßen haben, nachdem es von Spekulanten (!) in den Ruin getrieben wurde, lebt nicht in der Realität, sondern in Dogmen-Gebäuden. Wer nicht realisieren will, dass es die deutsche Lohnschneiderei ist, die nicht nur deutsche Arbeiter seit über einem Jahrzehnt um ihren Anteil am Produktivitätszuwachs betrogen hat, sondern auch andere Länder brutal an die Wand drückt, ohne dass diese mit Währungsanpassungen darauf reagieren können, hat weder das deutsche Problem noch das Problem, das Deutschland für Europa bildet, verstanden.
Man kann vor alledem die Augen verschließen – aber dann erweist man sich nur als Geisteskind der ignoranten, konservativen Mächte, die die Entwicklung bis hierhin getrieben haben. Man macht sich selbst zu reaktionären Bewahrern des Bestehenden. Man geifert gegen jede Veränderung, weil man einerseits Angst vor den „Rechten“ hat, andererseits aber auch keine Visionen. Und deswegen wirft man die Veränderer mit den Rechten in einen Topf – so hat man das einfachst-mögliche Feindbild. Die naheliegendste Reaktion für simple Geister ohne Geist.
Wie sehr ist man den neoliberalen Märchen aufgesessen? Man stimmt ein in das Schlaflied der Verteidiger des Status Quo, dass es doch allen so wunderbar gut gehe, weil doch das neoliberale Märchen Wahrheit geworden sei und die massive Unterstützung der Reichen selbst noch bei den Ärmsten zu Wohlstand geführt habe. Man ist williges Opfer der Gehirnwäsche geworden – anstatt zu sehen, dass die Umverteilung von Unten nach Oben ungebremst weitergeht und dass nur das Bewusstsein davon aus den Köpfen geprügelt wird, indem die Menschen mit allen Mitteln an immer prekärere Arbeitsverhältnisse und „flexiblere“ Anforderungen gewöhnt und auf diese konditioniert werden.
Man könnte dies alles an unzähligen Beispielen konkretisieren – Bücher würden nicht ausreichen, um zu dokumentieren, wie der gegenwärtige Neoliberalismus alles an die Wand fährt und fahren wird. Man braucht Augen, um dies zu sehen, und man braucht einen Kopf, aber vielleicht auch ein Herz, um es zu erkennen und zu begreifen.
Die Linke
Es ist entlarvend, wenn „Bobby“ einen Spitzenpolitiker wie Mélenchon als „Verschwörungsideologen“ diffamiert und dessen eigentliche radikale Ansätze völlig verschweigt.
Die Linke in Europa sucht überall neue Ansätze und Visionen – in der Wirtschaftspolitik, in der Umweltpolitik, in der Sozialen Frage. Es geht um grundsätzliche Fragen nach der politischen Struktur, innerhalb der sich die Menschheit künftig überhaupt bewegen will. Man kann hier an Joseph Beuys denken, den radikalen Künstler. Man kann an die grandiose, von den Medien totgeschwiegene Rede von Jeremy Corbyn in Genf denken. Das Bewusstsein der fortgeschrittensten Geister drängt nach dem Neuen, um das es menschheitlich auch wirklich geht. Die herrschenden Politiker, Institutionen und Interessenmächte sind hier machtvolle Bremsblöcke und sogar Gegner.
Die großen Kapitalbesitzer verfolgen weitgehend egoistische Ziele, wie es eine auf Egoismus basierende Wirtschaftsordnung ja nahelegt und belohnt. Die Politik hat dies immer weiter laufen lassen, die Spitzensteuersätze stetig gesenkt, die Besteuerung von Reichtum überhaupt immer weiter verwässert – und macht sich blind, taub und stumm gegenüber der kontinuierlichen Umverteilung nach oben. Sie zeigt sich machtlos gegenüber kriminellen Machenschaften, die Umweltgesetze umgehen, sie zeigt sich unwillig, irgendetwas Substanzielles gegen die künftigen Umweltkatastrophen (Stichworte Treibhauseffekt, Artensterben, Biomasse-Schwund etc. etc.) zu unternehmen, von den künftigen religiös-kulturellen Konflikten (Stichworte Fanatismus, Frauenbild etc.) einmal ganz abgesehen.
Jetzt diese „etablierte“ Ordnung in den Himmel zu heben und linke Politiker, die daran radikal etwas ändern wollen, gerade in die rechte Ecke zu stellen, ist der Gipfel der Niedertracht. Man fühlt sich an den Kadavergehorsam gegenüber der Obrigkeit erinnert, wie er in vergangenen Jahrhunderten herrschte – an huldigende Oden an die führenden Kräfte, die in ihrer unendlichen Weisheit nicht zu übertreffen sind.
Beuys schrieb auf eine der hundert Tafeln seines Werks „Richtkräfte“ die folgenden Worte:
Only on condition of a radical widening of definition will it be possible for art and activities related to art to provide evidence that art is now the only evolutionary-revolutionary power. Only art is capable of dismantling the repressive effects of a senile social system that continues to trotter along the deathline: to dismantle in order to build
A SOCIAL ORGANISM
AS A WORK OF ART
Wer nicht sieht, in welch grauenhaftem Maße der Neoliberalismus – vom Kapitalismus einmal ganz abgesehen – alles wahrhaft Menschliche verrät und vernichtet, der hat keinen Blick für dieses wahrhaft Menschliche.
Paranoia oder Zukunft
Die Angst vor der „rechten Gefahr“ tut dann noch ein übriges, den eigenen angstvollen Geist in die reaktionäre Ecke zu treiben. Und das eigene Ertrinken in der Beschäftigung mit der VT-Gefahr tut ein Übriges, um den Blick noch weiter zu verengen. Die eigene Böswilligkeit und Undifferenziertheit tut dann den letzten Schritt und verschweißt alles, aber auch alles, was nach irgendeiner Seite ausschert, zu einer einzigen, großen, gemeinsamen Gefahr. Die Psychologie kennt dafür einen Begriff: Paranoia. Ein Bewusstsein, das ganz und gar „daneben“ liegt.
Es mag populistisch von Sahra Wagenknecht sein, Institutionen wie die EZB usw. nur zu kritisieren. Dennoch bringt sie in jeder Talkshow mehr Fakten auf den Tisch als alle ihre politischen Gegner. Es ist doch geradezu der Standard der (noch) führenden Parteien geworden, möglichst wenig zu sagen, Dinge auszusitzen und sich mehr oder weniger konzeptlos an der Macht zu halten – was sogar zunehmend reaktionäre Blätter wie „Der Spiegel“ thematisieren.
Einst war radikale Kritik wacher Medien der Garant einer funktionierenden Demokratie – und dies sogar in der Zeit des Kalten Krieges. Heute ist eine zunehmende Vereinheitlichung und Zahnlosigkeit der Berichterstattung der Garant nur für eines – eine zunehmende Unzufriedenheit der Menschen, die merken, dass „nichts stimmt“. Dass die Kaufkraft der Löhne zurückgeht, dass die Situation in Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen etc. immer katastrophaler wird, dass Konzepte und politischer Wille fehlen; dass im Grunde immer nur ein „Weiter so“ gepredigt wird, während dieses „Weiter so“ längst als eine Sackgasse empfunden und erkannt wird.
Was Spitzenpolitiker wie Wagenknecht und Mélenchon wollen, ist nicht Stimmenfang am rechten Rand und mit irrationalen Verschwörungstheorien, wie „Bobby“ machtvoll suggeriert, sondern ganz im Gegenteil – sie wollen eine politische Sammlungsbewegung, die mit vollem Recht all jene Wähler zu gewinnen und ihnen wieder eine Perspektive zu geben versucht, die von der herrschenden Politik enttäuscht sind – unter vielen anderen auch jene, die die AfD gewählt haben, obwohl sie dort sicher nicht ihre Heimat empfinden.
Selbstverständlich haben diese linken Politiker eine Vision, die sich von der Institutionsgläubigkeit der bisherigen Politik radikal unterscheidet. Darin stimmen sie mit all jenen überein, die über die Scheinlösung machtvoller Super-Bürokratien ebenfalls nur den Kopf schütteln können und entweder deutlich empfinden oder aber klar erkennen, dass die EU ihren eigenen obersten Grundsatz der Subsidiarität (nämlich, auf unteren Ebenen, lokal und regional, all das zu regeln, was dort geregelt werden kann) eklatant verraten hat.
Überregulierung, sinnlose Angleichung und bürgerferne Vorschriften – das ist es, was die Menschen mit der „EU-Bürokratie“ verbinden, sehr oft mit vollem Recht. Die menschliche Zukunft sieht vollkommen anders aus. Und das sehen linke Politiker sehr klar – im Gegensatz zu all jenen, die bereits jenem fatalen „There-Is-No-Alternative“-Denken“ verfallen sind.
Wer der linken Bewegung Populismus vorwirft, der sollte erst einmal die Augen für den Populismus der visionslosen „Weiter-So“-Politik erkennen. Mit „Mama Merkel ist die Beste“ und „die deutsche Wirtschaft brummt“ und „Uns geht’s gut“ ist nichts gewonnen als eben dumpf einlullende Gehirnwäsche, die eigenständiges Denken und Visionen (was beides seit jeher das wahre Wesen von Politik war) verhindern will.
Wer meint, „realpolitisch“ zu denken, wenn er linke Politik verteufeln zu können meint, der hat entweder sein eigenes Gewissen verraten, oder er möchte warten, bis Klimakatastrophen, wegbrechende Mittelschicht und verwahrlosende Städte und Gemeinden eine andere Realpolitik fordern. Die Frage ist nur, welche das dann noch sein soll.
Die Zeit der Blindheit gegenüber den eigentlichen Herausforderungen ist definitiv vorbei. Die Frage ist nur, wie lange man die Antworten noch den Rechten überlassen will.