16.01.2018

Die Entwicklung und das Mädchen

Weitere Gedanken.


Inhalt
Die Verbindung zum Mädchen
Die Nüchterlinge
Unschuld und Rosenkreuz
Das Mädchen und die Rose
Unschuld und Erkennen
Die Entwicklung und das Mädchen


Die Verbindung zum Mädchen

Und nun, im Anschluss an den letzten Aufsatz, suche ich wieder die Verbindung zu dem Mädchen – denn diese existiert und muss nur gefunden werden, entwickelt werden, in Freiheit...

Was ist die Verbindung zwischen dem Geheimnis der Entwicklung, wie es in dem letzten Aufsatz beschrieben wurde, und dem Geheimnis des Mädchens, wie ich es immer wieder erlebbar zu machen versuche?

Die erste Verbindung, das „offenbare Geheimnis“ ist, dass das Mädchen etwas entwickelt hat, was andere Seelen noch nicht entwickelt haben.

Ich spreche immer von dem Wesen des Mädchens, nicht von zufälligen, real existierenden Mädchen, die entwickeln können, was sie wollen oder was ihnen zunächst möglich ist – darum geht es hier aber nicht. Es geht um etwas weit über den einzelnen Menschen Hinausgehendes, die einzelnen Menschen sind mitten in einer Entwicklung, oft auch in einer sehr zweifelhaften, sie sind hier also gar nicht gemeint. Gemeint ist das Mädchen in seinem reinen Urwesen.

Und was hat dieses Mädchen entwickelt? Nennen wir nur eines, aber ein Allerwichtigstes: die Unschuld.

Die Nüchterlinge

Der große Einwand, der von den „schuldig gewordenen“ Seelen nun sofort kommen wird, ist: Das ist keine Entwicklung, das ist das Gegenteil. Jede Entwicklung geht durch die Schuld – und die Unschuld ist vielleicht ein paradiesischer Urzustand, der nur gedacht oder geträumt werden kann, der aber nicht mehr wirklich ist und auch nicht mehr wirklich werden wird. Daher gehört er ins Reich Luzifers oder, anders gesagt, ins Reich des Sentimentalen.

Soweit die schuldigen Seelen, die sich dabei natürlich – das ist ja gerade ihr Naturell, wie es sich entwickelt hat –, sehr modern vorkommen. Ihre eigene Nüchternheit gibt ihnen den Hochmut, sich über dasjenige zu erheben, was sie nicht mehr sind, aus der scheinbar sicheren Erkenntnis heraus, dieses Andere sei „aus der Zeit gefallen“ oder aber Luzifer und dem Sentimentalen verfallen oder aber natürlich beides.

Aber dann müssten dieselben Seelen auch Novalis als sentimental bezeichnen – ihn, den Steiner als den größten Vorverkünder eines künftigen Zeitalters und eines künftigen Christentums bezeichnet hat. Die schuldigen, nüchternen, modernen Seelen müssten Novalis gleichermaßen als sentimentalen Ober-Luzifer vor dem Herrn bezeichnen, wenn er alten Zeiten nachtrauert und eine illusionäre neue Zeit herbeiträumt: „Einst schauen meine Brüder / Auch wieder himmelwärts, / Und sinken liebend nieder, / Und fallen dir ans Herz.“

„Ja, ja, alter Knabe“, würden sie sagen, „träum weiter. Der Zug ist abgefahren. Und wir brauchen deine lieblichen Abziehbildchen nicht mehr. Vielleicht findest du ja noch ein paar Mädchen, die sie sammeln...“

Dass es der von ihnen wie selbstverständlich ausgenutzten Freiheit zu verdanken ist, dass es dem Menschen geschenkt wurde, durch einen magischen Idealismus zur vollen Wirklichkeit erst vordringen zu dürfen, in eigener Freiheitstat – das können sie nicht einmal denken. Aber selbst wenn sie es denken könnten, würden sie es doch nicht glauben. Ihr Maßstab ist die Nüchternheit – aber selbst diese wird gefärbt von ihrem Hochmut, und dieser ist das eigentliche Bleigewicht an den Flügeln, die eine Entwicklung tragen sollten...

Unschuld und Rosenkreuz

Dem setzt das Mädchen entgegen: die volle Unschuld. Und sei sie auch ein paradiesischer Urzustand – ist es denn Gerechtigkeit nicht minder? Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? Mitleid? Volles Verstehen? Harmonie?

Sind dies nicht alles paradiesische Urzustände? Was aber, wenn man sie nicht so nennen würde, sondern – moralische Intuitionen?

Was, wenn auch sie eine moralische Intuition wäre – die Unschuld? Und wenn es dazu eine reine Imagination gäbe – das Mädchen? Aber wenn jede, ausnahmslos jede Imagination, wenn es eine wahre Imagination ist, nicht ein Phantasiegebilde, sondern eine sich aus höheren Welten schenkende Imagination – wenn sie realer wäre als alle ausgedachten Gedanken und gewöhnlichen Gefühle, auf die die gewöhnliche Seele ach so stolz ist?

Was, wenn das Mädchen wirklich eine Geistesbotin aus einer heiligen Welt wäre?

Würde nicht auch das Rosenkreuz, wenn die Seele wirklich eins mit ihm werden würde, die Seele vollkommen verwandeln? Zwar mag es zunächst das eigene „Produkt“ der Seele sein, wenn sie beginnt, es vorzustellen, es zu denken – aber dass das Rosenkreuz existiert und dass es für die Meditation gegeben wurde, dass es einen tiefen Sinn in sich trägt und dass dieser Sinn sich immer mehr erschließt und sich der Seele ein-prägt ... das hat mit der Seele nichts zu tun, sondern es wird ihr geschenkt, von oben her...

Das vorgestellte Rosenkreuz mag zunächst das eigene sein – aber immer mehr verbindet sich mit dieser eigenen Aktivität etwas Höheres, was sich in dieses Rosenkreuz einweben kann und ihm entspricht, und schließlich ist es nicht mehr die eigene Vorstellung, nicht mehr der eigene Gedanke, sondern dann wird die Seele gedacht. Durch das Rosenkreuz beginnt etwas hindurchzuwirken, nämlich die höhere Welt selbst.

Zunächst ist das „Symbol“ eine Verkündigung dieser höheren Welt. Dann bringt man das Opfer, seine Seelenkräfte dem hinzugeben, um es – zunächst – selbst zu erschaffen. Dann geschieht eine Wandlung, die Situation verwandelt sich, indem immer mehr das Symbol selbst sich erfüllt mit wirkenden Kräften, die nicht mehr von einem selbst kommen. Und dies geht über in eine Kommunion mit einer höheren Welt, die sich der Seele „in diesem Zeichen“ schenken kann. Und mit dieser Kommunion einher geht eine Wandlung der ganzen Seele...

Das Mädchen und die Rose

Und so mögen die Zweifler und Spötter das Mädchen zumindest als ein „Symbol“ ansehen – es ist aber weit mehr als ein Symbol. Es ist lebendiger als ein Rosenkreuz. Es ist reicher. Und es ist menschlicher. Deshalb liegt es dem Herzen wesentlich näher.

Im Rosenkreuz liegt das Geheimnis Schillers verborgen:

Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ist’s!

Nun hat man gerne solche „Weisheiten“ und bildet sich auch gerne ein, davon bereits etwas verstanden zu haben, und mit verstehen meint man dann auch „verwirklichen“. Aber gleichzeitig will niemand Pflanze sein, will man eben überhaupt nicht, was die Pflanze ist und verwirklicht. Aber man könnte genauso gut sagen:

Suchst du das Höchste, das Größte? Das Mädchen kann es dich lehren:
Was es von seiner ganzen Natur aus ist, erringe du es dir wollend – das ist’s!

Was ist denn die Natur des Mädchens? Seine Unschuld! Warum wirkt es denn oft so träumend und wirft man ihm dies sogar vor? Weil seine Schuld, weil der Selbstbezug noch gar nicht erwacht ist! Und warum wirft man ihm denn Naivität vor? Weil die ganze übrige Welt diesen Selbstbezug so selbstverständlich ausgebildet hat – und weil man weiß, dass das Mädchen in seiner himmelschreienden Naivität untergehen wird.

Untergegangen aber ist die Unschuld der übrigen Seelen. Rudolf Steiner beschreibt das Ertrinken des Menschen in Luzifers Wirken – und nur des Menschen Haupt ist wieder ein Stück weit aus dem Egoismus herausgeholt worden, da der Mensch die Möglichkeit hat, ein freies, ein reines, ein nicht selbstbezogenes Denken zu finden. Die Möglichkeit!

Das Mädchen aber ist nicht ertrunken. Es ist sozusagen die Rose in der Seelenwelt – die himmlische Rose... Nun liebt man die Rosen. Aber in Schillers Spruch ist die Pflanze doch eher ein Ärgernis. Man fühlt sich doch bereits moralisiert – schon von Schiller... Weil man es eben im Grunde nicht will. Man will nicht Pflanze werden. Man will auch nicht Mädchen werden. Es ist ja geradezu ein Schimpfwort: „Du Mädchen!“ – Darin spricht sich etwas Wesentliches aus. Nicht etwa Feigheit, nicht einmal so sehr Sanftheit. Sondern das Geheimnis der Unschuld. So unschuldig will man gar nicht werden…

Unschuld und Erkennen

Aber die Unschuld ist ja nur eine Wesensoffenbarung des Mädchens. Es gibt ja noch viel mehr. Das Mädchen ist nirgendwo herausgefallen aus dem ganzen Zusammenhang. Es mag „aus der Zeit gefallen“ sein – aber die übrige Welt, die „mit der Zeit geht“, ist eben aus allem übrigen herausgefallen. Aus der Unschuld. Aus der Sanftheit. Aus dem Liebevollen. Aus unzählig vielen kostbaren Perlen, die erst den ganzen Teppich bilden würden. Und wenn man ein paar Splitter davon sein eigen nennt, sagt und denkt man gleich: „So, das reicht! Mehr wäre bereits übertrieben.“

Doch verweilen wir noch bei der Unschuld. Jede einzelne Perle ist so groß, dass man ihr ein ganzes Leben schenken könnte, um sie zu erfassen und sich mit ihrem Geheimnis zu durchdringen. Und die wahren Weisen aller Zeiten – die heute freilich alle „aus der Zeit gefallen“ sind –, haben sich eben auch wirklich Zeit gelassen, mit allem. Das haben sie mit dem Mädchen gemeinsam. Zeit. Muße. Wahrhaftigkeit. Innerer Ernst, als tiefe Aufrichtigkeit.

Was ist denn Unschuld? Muss die Seele nicht in jedem Erkennen unschuldig werden? So, wie die Augen selbst unschuldig sind, weil sie nichts aus sich wollen, sondern rein – dem Sehen dienen? Was wäre, wenn die Seele selbst auch Auge werden wollte – und nicht immer nur sich selbst sehen? Was wäre, wenn das angeblich so träumerische Wesen des Mädchens – oder eines Novalis – wesentlich mehr sieht als jede andere Seele, weil es eben ... unschuldiger ist? Was wäre, wenn alles, was wir heute „Sehen“ nennen, immer unglaublich stark gefärbt ist von dem eigenen Wesen, also von – Luzifer?

Was ist, wenn das Mädchen die einzige, wahrhaft – Sehende wäre? Und wenn man nur dann zum Sehen käme, wenn man seine ganze Seele so sehr läutern würde, wie es die ihre – schon ist? Wenn vorher alles Sehen nur eines wäre: Einbildung? Nicht anders, als wie man auch mit dem Rosenkreuz beginnt. Zunächst ganz und gar eigene Bildung – Vorstellungsbildung, nichts weiter. Kann denn Sehen je etwas anderes sein, bevor man anfängt, wirklich zu sehen, rein zu sehen, ohne Hineinmischen seiner unverwandelten Seele zu sehen? Wie kann je irgendein Sinn die Wahrheit empfangen, wenn die Seele noch sich selbst hineinmengt, also noch gar nicht bereit ist, zu empfangen, noch gar nicht bereit ist für eine – reine Empfängnis?

Das Mädchen aber ist immer bereit für eine reine Empfängnis, denn seine Seele ist rein. Seine Seele ist das Hochzeitskleid, das das Mädchen angelegt hat, und alles, was es empfängt, ist, wie wenn es zu einer Hochzeit geht – jungfräulich, unschuldig, ganz und gar rein, befreit auch von jeglicher Profanität oder – Nüchternheit.

Man verwechsle nicht Nüchternheit mit Wissenschaftlichkeit. Das Mädchen ist nicht wissenschaftlich, aber das ist auch gar nicht seine Aufgabe. Wer nüchtern ist, ist auch nicht wissenschaftlich, er ist eben – nüchtern. Man kann mit Nüchternheit nüchterne Wissenschaft betreiben – aber keine Geisteswissenschaft. Und man versteht auch Rudolf Steiner mit der eigenen nüchtern-modern-hochmütigen Seele völlig falsch, wenn man ihm unterstellt, was nur die eigene Schwäche ist.

Und man verwechsle die Unschuld des Mädchens nicht mit Träumerei und Sentimentalität. Die Unschuld ist eine allerheiligste Eigenschaft der Seele. Das Mädchen ist keine Wissenschaftlerin. Und trotzdem erkennt es wesentlich mehr als der nüchterne Wissenschaftler. Denn die Unschuld hat ihre eigene Weisheit. Sie hat offene Augen und sie hat ein offenes Herz. Und ihre Erkenntnisse werden nicht von Nüchternheit verfälscht – höchstens von Gutgläubigkeit... Mehr jedoch verfälscht jede Erkenntnis die heute vorhandene Un- oder sogar Bösgläubigkeit... Vertrauen kann enttäuscht werden. Misstrauen täuscht sich selbst immer schon im Voraus...

Sollte man wirklich die Natur erkennen, indem man sie auf die Folterbank spannt? Sollte man wirklich andere Menschen erkennen, indem man ihnen misstraut oder mit der allgegenwärtigen Antipathie oder auch nur Gleichgültigkeit entgegentritt? Oder sollte es doch wahr sein, wenn das „sie erkannten einander“ mit dem Mysterium der Liebe und damit immer schon der Unschuld verbunden ist?

Die Entwicklung und das Mädchen

Wenn aber nun das Erkennen, wie es im letzten Aufsatz deutlich werden konnte, so sehr mit dem Wesen des Menschen verbunden ist, wie könnte es nicht auch das Mädchen?

Der Mensch soll ein reines Erkennen entwickeln – das Mädchen hat es schon. Nichts kann rein sein, wenn es nicht mit der Unschuld verbunden ist, denn die Unschuld ist gerade die Reinheit. Das Abwesendsein von eigenen Hineinmischungen – auch solchen, die sich mit der Maske der Nüchternheit tarnen. Die Nüchternheit kann sogar die größte Hineinmischung werden! Immer wenn sie mit Spott auf die angebliche Sentimentalität herabblickt, ohne zu sehen, dass es nur Unschuld ist, beweist sie ihre Blindheit, die um so größer wird, je wütender sie angesichts der Unschuld wird. Die Unschuld wurde schon immer bespuckt, weil man sie nicht ertrug.

Aber – das Mädchen hat nicht nur Unschuld, es hat, damit verbunden, auch den guten Willen, in seiner vollen Reinheit und Unschuld.

Und deswegen ist das Mädchen geradezu die Hüterin auch der Entwicklung selbst. Denn das Mädchen würde sich nie gegen eine Entwicklung der Seele sperren. Es würde nur fühlen, was keine Entwicklung ist, sondern ein Abbiegen von der guten Entwicklung. Diese Abbiegungen kommen zustande, weil die Seelen gerade die wahre Entwicklung vermeiden oder gar verspotten. Sie biegen in alle Richtungen ab und nennen es „Entwicklung“, während das Mädchen nie abbiegen würde, sondern immer mitgehen würde, wenn es um wirkliche Entwicklung ginge.

Man sagt den Mädchen, sie sollen nicht mit Fremden mitgehen. Doch es ist die gewöhnliche Seele, die mit Fremden mitgeht – nämlich mit den Gegenmächten, die die Seele nicht erkennt. Sie sind Fremde des Menschlichen, aber die Seele hat sich mit ihnen so vertraut gemacht, dass sie lieber mit ihnen auf Du und Du ist als mit dem Mädchen. Die Seele ist längst mit Fremden mitgegangen, hat sich mit diesen ins Bett gelegt und „Unzucht“ betrieben, und daraus hervorgegangen sind all die hässlichen Kinder, die in ihr geboren wurden: Hochmut, Gier, Neid, Spott, Boshaftigkeit, Selbstsucht – kurz: Schuld.

Das Mädchen würde nie mit Fremden mitgehen. Es bleibt immer auf seinem Weg. Nicht wie das Rotkäppchen, sondern wie Novalis. Wie Novalis singt seine Seele, ob es dies bewusst weiß oder nicht: „Ich habe dich empfunden, / O! lasse nicht von mir; / Laß innig mich verbunden / Auf ewig seyn mit dir.“ Und das Wesen, dem die Seele des Mädchens dies singt, ist mit dem Mädchen auf ewig verbunden – und das Mädchen mit ihm.

Dieses Wesen aber ist das wahre Hüterwesen aller Entwicklung. Und das Mädchen ist seine heilige Dienerin.