2018
Was ist wahre Entwicklung?
Gedanken zu einem essenziellen Begriff.
Inhalt
Die Revolution der Entwicklung
Unmenschliche Prinzipien
Heiliges Empfinden und Gottesdienst
Rudolf Steiners Begriff „Entwickelung“
Vom Verfehlen des Geheimnisses
Die Notwendigkeit des Verfehlens
Organik und Einschläge
Das Unorganische der modernen Seele
Das Wesen der Freiheit
Heilige Erkenntnis – und der weitere Weg
Die Revolution der Entwicklung
Wir leben in einer Zeit, in der der Begriff der Entwicklung ein vom Menschen abgelöstes Dasein bekommen zu haben scheint. Lebten die Menschen Jahrtausende von ihrer Hände Arbeit, so brachte das technische Zeitalter eine völlig neue Evolution, Entwicklung, der Lebensverhältnisse. Die elektrischen Kräfte und schließlich die „digitale Revolution“ brachten diesem Prozess jedes Mal eine neue Stufe und eine neue Beschleunigung. Die Entwicklung scheint wie ein ICE geworden zu sein, nein, eine Rakete, und die nächste Stufe wartet schon...
Hinzu kommt, dass wir seit dem technischen Zeitalter – und dies beginnt im Grunde mit dem Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen, mit der Renaissance – in einer neuen Dimension ein Prinzip in das menschliche Denken, Handeln und Leben aufgenommen haben, das es so vorher nicht gab: das (materielle) Wachstum. Man kann zwar an das römische Reich denken, überhaupt an verschiedenste Reiche, die sich unvorstellbar ausdehnten. Aber das waren Reiche. Nun begann ein ganz anderes, ein grundsätzliches Wachstum. Und jeder Einzelne konnte die neuen Möglichkeiten der Ausbeutung der Natur und auch des Menschen für sich nutzen. Ein neues Prinzip des Wachstums war geboren. Und der Kampf um die Grenzen des Wachstums begann...
Zugleich damit wurden auch andere Begriffe und Realitäten auf neuer Stufe ins Leben gerufen: Konkurrenz. Gier. Wenn Wachstum zum obersten Ziel wird, kennt es keine Grenzen, anerkennt es keine solchen – wird es die personifizierte Gier. Diese Gier kann über Leichen gehen. Das Ziel des Wachstums führt zu einer Vernichtung des Moralischen. ,Man kann nicht zwei Herren dienen...’
Unmenschliche Prinzipien
Und heute? Längst ist das Prinzip der Konkurrenz allgemein anerkannt. Seit diesen letzten Jahrhunderten basiert eben das, was wir seitdem „Wirtschaft“ nennen, auf Konkurrenz – auf dem Kampf egoistischer Akteure gegeneinander. Diese Akteure werden nicht nur in der Theorie egoistisch gedacht, sondern die Theorie wurde von der Wirklichkeit abgezogen – und wirkt wieder auf diese zurück. Man hat den Egoismus beobachtet, man hat gesehen, dass die Gier Reichtümer akkumuliert – und man hat die Theorie aufgestellt, dass dies unter dem Strich allen am meisten nütze... So wurde der Mensch immer mehr als „homo avarus“ gesehen – als das gierige Tier (lat. avaritia, die Habgier). Inzwischen gilt es gleichsam als Naturgesetz und die diesem zugrundeliegende Wirtschaftsordnung als gut oder zumindest als ... unabänderbar, ohne auch nur annähernd gleiche oder bessere Alternative.
Aber nicht genug damit – weil das Grundprinzip Konkurrenz ist, gilt auch der Kampf ums Dasein als unabänderlich. Das muss man sich einmal klarmachen. Kampf als Grundprinzip menschlichen Lebens! Die unmenschliche Kategorie schlechthin, wenn sie gegen andere Menschen gewandt wird, als Grundprinzip „menschlichen“ Lebens! Verpackt wird dies natürlich in andere Begriffe – in „Fortschritt“, in „Entwicklung“, in „Wettbewerbsfähigkeit“, in „Flexiblität“ und so weiter. Man denke nur an die regelmäßigen EU-Veröffentlichungen. Fortwährende Entwicklung und Fortschritt scheinen das höchste Ziel, gleichsam hehrer Selbstzweck. In Wirklichkeit aber geht es um die brutale Konditionierung aller auf Höchstleistung – und dies, um im Kampf ums Dasein gegen den Konkurrenten bestehen zu können. Man muss sich klarmachen, was Konkurrenz wirklich heißt. Es heißt in letzter Hinsicht: Entweder er oder ich...
Hier wurde der Begriff der „Entwicklung“ völlig pervertiert. Denn er hat kein eigenes Ziel mehr, das Ziel jeder Entwicklung ist von nun an vorgegeben: Höchstleistung, um besser zu sein als der andere. Kampf um Absatzmärkte, Marktanteile, Ressourcen, Kampf um die Grundlagen der Erde, Kampf um das Überleben, Kampf um die Vorherrschaft. Denn nicht nur neue Arbeitsabläufe müssen entwickelt werden, auch neue Techniken der Ausbeutung, neue Waffen, neue Methoden des Informationskrieges... Der Kampf gegeneinander hat kein Ende.
Der Begriff der Entwicklung wurde dem Begriff des Kampfes unterworfen. Er ist selbst Opfer eines Kampfes innerhalb des Menschen geworden – und Lüge, Gier und Angst haben gesiegt. Die Lüge: dass der Mensch bloß ein intelligentes Tier sei. Die Gier: das Anreizen dessen, was im Menschen wirklich animalisch, ja sogar dämonisch ist. Und die Angst: Angst vor dem Mitmenschen und dem Nachbarstaat, der das genauso sieht...
Heiliges Empfinden und Gottesdienst
Einst war es anders. Entwicklung wurde erkannt als ein allerhöchstes, heiliges Geschenk. Als die von einer göttlichen Welt geschenkte Möglichkeit der Entwicklung. Und was tat man mit dem, was man so als Geschenk empfand, vielleicht nicht bewusst, aber doch unmittelbar fühlend? Man weihte es selbst wieder den Göttern. Man fühlte das Heilige dieses Geschenks, man fühlte auch das Heilige dessen, mit dem man sich verbinden konnte, noch unmittelbar – und man weihte das Geschenk der Möglichkeit der Entwicklung dem Höchsten. O, Mensch – entwickle Dich! Entwickle Dich in Deiner Verehrung und Deiner lebendigen Verbindung zum Wahren, Schönen und Guten! Denn dies hast Du in Dir! Und Du sollst, ja Du darfst es entfalten!
Das war das heilige Grundempfinden in Bezug auf „Entwicklung“, noch ehe es diesen Begriff überhaupt gab. So war die Entwicklung ganz und gar innere Entwicklung – und sie war Gottesdienst, weil man gleichsam den Göttern zurückgab, was sie den Menschen geschenkt hatten. Und man tat es, weil man wusste: nur dadurch verwirkliche ich überhaupt mein volles Menschsein. Ich darf Mensch werden!
Man fühlte noch ganz direkt, was eigentlich „Mensch“ bedeutete. Es bedeutete den unmittelbaren Zusammenhang mit diesem heiligen Erleben: dem Erleben des Wahren, des Schönen und des Guten. Der Mensch war nicht losgelöst davon, und wenn, dann nur, um sich eben in diese Reiche hinein entwickeln zu können. Um dieses Hineinwachsen in diese Reiche selbst zu er-reichen... Er sollte sein eigenes Wesen er-reichen und be-reichern, er sollte das Reich des Wahren, des Schönen und des Guten in sich wahrmachen, indem er die eigene Seele wahr, schön und gut werden ließ. Indem er dies er-reichte, auferstanden in seiner eigenen Seele diese Reiche, als die ureigenen. Das Ewige wurde eins mit dem heiligen Wesen der Individualität...
Rudolf Steiners Begriff „Entwickelung“
Rudolf Steiner schrieb den Begriff „Entwicklung“ immer mit „e“, Entwickelung, und betonte so, dass es geheimnisvoll um Prozesse geht, die in etwas bereits hineingelegt, „hineingeheimnisst“ sind – und dann im Laufe von Zeit zur Entfaltung kommen.
Dass dies so ist, kann man sich etwa durch seine Samenmeditation (in „Wie erlangt man…?“) zum Erleben bringen. Wäre in dem Samenkorn nicht schon die ganze Pflanze enthalten, wie könnte sie sich dann je entwickeln? Man schreibt dies heute dem Erbgut zu. Aber die moderne Genforschung hat längst erkannt, dass auch das „Ablesen“ dieses Erbgutes wieder ein hochkomplexer Prozess ist, der durchaus von den konkreten Bedingungen der Umwelt beeinflusst wird. Und die nächste Frage wiederum ist: Wer liest da eigentlich „ab“? Ist es ein „selbstorganisierender“ Prozess, der als Endergebnis einen Organismus, ein Wesen hat – oder ist es auf geheimnisvolle Weise dieses Wesen selbst, das sich in Erscheinung bringt? Jedenfalls – selbst wenn man es auf die materialistischste Stufe des „Erbguts“ reduzierte, ist das Wesen bereits anwesend, bevor es sich entwickelt, denn nur dann kann es sich entwickeln.
Auf der anderen Seite kann es so scheinen, als wäre in menschlichen Zusammenhängen damit der Prädestination, der Vorherbestimmung, das Wort geredet. Aber dem schiebt Rudolf Steiners Erkenntnis schon in der „Philosophie der Freiheit“ einen Riegel vor, indem er Stufen der Entwicklung unterscheidet:
Es ist in dem Wahrnehmungsobjekt Mensch die Möglichkeit gegeben, sich umzubilden, wie im Pflanzenkeim die Möglichkeit liegt, zur ganzen Pflanze zu werden. Die Pflanze wird sich umbilden wegen der objektiven, in ihr liegenden Gesetzmäßigkeit; der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift, und sich durch eigene Kraft umbildet. Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur läßt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwickelung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwickelung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.
Der Standpunkt der freien Sittlichkeit behauptet also nicht, daß der freie Geist die einzige Gestalt ist, in der ein Mensch existieren kann. Sie sieht in der freien Geistigkeit nur das letzte Entwickelungsstadium des Menschen.
Die Philosophie der Freiheit, 9. Kapitel.
Damit ist gesagt: Als Naturwesen entfaltet der Mensch sich, bis sein Naturwesen zur Erscheinung gekommen ist. Als Gesellschaftswesen entfaltet der Mensch sich, bis er als Gesellschaftswesen zur Erscheinung kommt (handelnd nach den Gesetzen der Gesellschaft: Gesetze, Normen, Konventionen, Erwartungen…). Aber darüber ist noch etwas in ihn gelegt, und das ist der Geist – und dieser Geist ist zur Freiheit bestimmt. Seine in ihn gelegte Bestimmung ist die Freiheit! Sie kann er ... ent-wickeln.
Indem der Mensch also diese höchste Freiheit entwickeln würde, würde er nur dasjenige entwickeln, was er zu verwirklichen in der Lage ist, weil es ihm gegeben wurde. Aber ist er dann nicht wieder fremdbestimmt? Nein, denn die Fremdbestimmung als Begriff fällt im Begriff der Freiheit in ein Nichts zusammen. Mit dieser letzten „Bestimmung“ ist alle Bestimmung aufgehoben. Mit dieser letzten „Gesetzmäßigkeit“ ist alle Gesetzmäßigkeit an ihr Ende gekommen. Denn dieses letzte ihm eingeschriebene Gesetz ... kann der Mensch nur selbst verwirklichen. Niemand sonst tut es für ihn, und es wird auch nicht an ihm getan. Nur er selbst...
Vom Verfehlen des Geheimnisses
Dieser heilige, allerhöchste Begriff der Entwicklung, der in dem Begriff der Freiheit als heiliges Geschenk an den Menschen gipfelt, ist heute völlig verloren gegangen.
Freiheit wird heute verstanden als „Meinungsfreiheit“, als „Freiheit des Kapitals“, als Freiheit der Körper, einschließlich freie Wahl des Wohnortes etc. Immer nur betrifft es die Freiheit des Menschen, wie er ist. Völlig verloren geht die Erkenntnis, wie sehr Freiheit erst eine zu entwickelnde ist. Völlig verloren ist die Erkenntnis, dass der Mensch ein mit Geist begabtes Wesen ist; was der Geist überhaupt ist; dass dieser Geist ins Leben gerufen werden muss. Dass gerade dies das eigentliche, das wahre Geheimnis der Freiheit ist.
Wird dieses Geheimnis aber nicht verwirklicht, dann geschieht etwas anderes. Auch dies ist so, weil die Entwicklung nicht stehenbleibt. Entwicklung findet eben dennoch statt. Das Weltgeschehen ist nichts Statisches, es ist in Entwicklung. Allein daran kann man schon sehen, dass es weder um Vorherbestimmung noch um bloße „Entfaltung des in den Dingen Liegendem“ geht, als hätte ein großer Schöpfer eine Spieluhr aufgezogen, die sich nun dreht und abläuft. Es läuft eine Entwicklung ab – aber in sie „hineingeworfen“ ist der Mensch, und in den Menschen ist etwas hineingelegt, was dieser Entwicklung unendlich verschiedene Verläufe geben kann. Verwirklicht er seine eigene „Bestimmung“, wird das ganze Weltgeschehen einen anderen Verlauf nehmen, als wenn er diese heilige Bestimmung ... verfehlt.
Wenn der Mensch nicht seine eigene heilige Bestimmung ergreift, pervertiert sich alles, denn der Mensch und sein Wesen ist der Schlüssel zur Schöpfung – und zur Entwicklung, zur Evolution in alle Zukunft hinein. Wenn der Mensch sein eigenes Wesen verfehlt, werden sich alle Begriffe in etwas anderes verkehren – bis hin zu einer Orwellschen Welt, weil das Wesen des Menschen selbst degeneriert.
Dann wird Freiheit Willkür, dann wird Entwicklung Wachstum von Kampfkraft, dann wird Sinn zu Sinnlosigkeit, Geist zu Ungeist, Kultur zu Gefangenschaft im Sinnessein – und der Mensch wird Tier, längst bevor er es merkt, und wie soll er es jemals noch merken, egal wie schlimm es noch werden wird?
Die Notwendigkeit des Verfehlens
In der Natur kann die Weisheit überall beobachtet werden. Die Ökologie lebt sich in weisheitsvollen Zusammenhängen aus. Das Bild der „Nahrungspyramide“ verdeckt, dass es sich um Nahrungsnetze handelt – und dass es in der Natur keineswegs nur um Fressen und Gefressenwerden geht, sondern um Kreisläufe des Werdens und Vergehens und auch der fortwährenden Verwandlung. Die Regenwürmer und Mikroorganismen verwandeln alles fortwährend – und auch alle anderen Organismen leben nicht nur „auf Kosten von“, sondern sie schenken auch wieder zurück, sie sind ein wichtiger Teil des Ganzen. Der Mensch aber vernichtet und rottet aus, bevor er überhaupt alle weisheitsvollen Zusammenhänge auch nur ansatzweise erkannt hat. Und selbst wenn er erkannt hat, macht er weiter...
Kein Lebewesen geht über den ihm bestimmten Teil im Ganzen hinaus, es ist ein organisches Ganzes. Und wo eine Population zu stark anwächst, fällt die Entwicklung schließlich in sich selbst zusammen. Anderenfalls würde man von einem aus dem Ganzen herausgefallenen, krebsartigen Wachstum sprechen. Und das hat man auch getan: Der Mensch als Krebsgeschwür der Schöpfung.
Nun ist gerade diese Entwicklung aber eine Folge dessen, dass der Mensch ein ... Freiheitswesen ist. Er kann zum Krebsgeschwür werden – das ist seine negative Freiheit, bestehend in einer Befreiung aus allen Zusammenhängen, so weisheitsvoll sie auch seien. Und er muss es zunächst auch – denn Freiheit ist nur durch ein Herausfallen zu haben, wie denn sonst? Würde er nicht zunächst herausfallen, wäre er immer nur ein Weisheitswesen, nie aber ein freies. Er muss sich die Weisheit erringen, sonst wäre sie nicht seine eigene und er wäre noch immer ... unfrei. Er muss die Weisheit wollen – aber um sie wollen zu können (und nicht wollen zu müssen), muss er auch das Gegenteil wollen können, und zwar real und als wirkliche Versuchung.
Das bedeutet nicht, dass der Mensch notwendig böse werden muss, um frei das Gute finden und wollen zu können. Es bedeutet aber, dass das Böse genauso in ihn hineingelegt sein muss, damit er hin und her schwanken kann, in Versuchung geführt werden kann und erst durch diese grundlegende Verwirrung lernen kann, frei zu wollen. Die Emotionalität des Menschen muss sich losreißen von bloß weisheitsvollen leiblichen Vorgängen, sie muss sich befreien und all das als reale Möglichkeit entwickeln, was das Reich des Seelischen ist, auch im Dunklen, was genannt werden kann: Antipathie, Hass, Gier, Begierde, Selbstsucht, Verachtung, Spott, Bosheit...
Das aber ist nicht der Endzustand des Menschen, auch nicht ein normaler Bestandteil seiner „Ganzheit“, sondern die Grundlage der Freiheit. Der Mensch soll dieses Dunkle nicht verwirklichen und entwickeln – es ist in ihn als Möglichkeit mit hineingelegt, und er soll sich davon abstoßen, um in Freiheit das Andere zu verwirklichen und zu entwickeln. Aber – es steht ihm frei, was er verwirklicht...
Organik und Einschläge
Im Grunde ist die weisheitsvolle Ganzheit und die ganzheitliche Weisheit heute in einen vollen Gegensatz zum Menschenwesen geraten. Der Mensch ist aus dieser Weisheit voll herausgefallen und hat seine negative Freiheit sozusagen voll verwirklicht – wobei hier noch immer dunkle Steigerungen denkbar und sogar zu erwarten sind.
Würde der Mensch vom Ganzen her denken, so würde er auch diese Ganzheit wiederfinden. Aber er soll es ja nicht automatisch. Wäre er gezwungen, ganzheitlich zu denken, würde er sich selbst zunächst völlig verlieren. Er muss also erst eine Instanz in sich finden und verwirklichen, die gerade nichts anderes will.
Das Organische wird urbildlich verwirklicht vom Pflanzenreich. Organisches Wachstum – sichtbar bis ins Sinnliche alles immer bezogen auf das Ganze und immer eine Ganzheit bleibend, eine weisheitsvolle Gestalt bildend, sogar in der Zeit, eine Zeitgestalt. Das Gleiche gilt aber für das Tierreich mit seinen weisheitsvollen Funktionen jedes einzelnen Organs – und jedes dient dieser Ganzheit, keines ist für sich da.
Goethes Erkenntnis des Organischen mit seinen Gesetzen der Metamorphose, mit seiner lebendigen Anschauung der Urpflanze, war für Steiner so entscheidend für dieses Reich des Organischen, dass er feststellte, Goethe sei „zu gleicher Zeit der Kopernikus und Kepler der organischen Naturwissenschaft“.
Der Begriff der Entwicklung geht nun aber weiter als der der bloßen Organik. Denn während das Organische sich immer in Zusammenhängen und weisheitsvollen Bezügen entfaltet, kann es in der Entwicklung auch „Sprünge“ geben, „Einschläge“, für die es aus dem Vorherigen keine Grundlage gibt. Zwar ist schon die Blüte einer Pflanze ein größtmöglicher Sprung – aber Goethe erkannte diesen eben als Metamorphose. Und – selbst diese steht wieder im weisheitsvollen Zusammenhang des Ganzen, ist doch gerade die Blüte das heilige „Ziel“ der Pflanze und folgt diesem das allerhöchste Ziel, die Bildung neuer Samen...
„Einschläge“ mag es zum Beispiel in geschichtlichen Entwicklungen geben – und man kann sich fragen, wer diese Einschläge in die Entwicklung hineinwirft. Man käme zu dem Begriff der Impulse einer höheren Welt. Vielleicht war es dem Menschen schon immer bestimmt, etwas Bestimmtes noch zu „entdecken“ und zu „entwickeln“. Aber warum geschehen bestimmte Entwicklungen gerade zu bestimmten Zeitpunkten? Die Alternative ist, alles als zufällig anzusehen.
Das Unorganische der modernen Seele
Aber wenn wir nun die Einzelseele nehmen, so sehen wir, dass die weisheitsvolle Organik hier heute gerade völlig verlorengeht. Natürlich hat alles immer „Gründe“ und „Ursachen“, aber Goethe hat mit seiner wahren Organik diese lineare Kausalität der Physik ja gerade verlassen und das Wesen des Organismus als ein fortwährend gegenseitiges Sich-Bedingen erkannt, als eine Ganzheit, die nicht auf die Summe ihrer Teile reduziert werden kann.
Die Ganzheit wird in der modernen Seele aber gerade verlassen. Zügellos, weder von einem „Reiter“ noch von einem Ganzen bestimmt, kann sie hierhin und dorthin fallen. Das übergeordnete Prinzip ist der Selbstbezug geworden (das sogenannte „Ich“), aber dieses Ich kann fortwährend den Verführungen verfallen – es hat also eben gerade keine Weisheit mehr (Sophia), wodurch wieder (oder erstmals, auf völlig neuer Stufe) ein Ganzheitliches gefunden und verwirklicht wäre. Sondern völlig willkürlich und unvorhersehbar, rein getrieben von diesem Ich-Punkt, der aber wiederum getrieben wird von Gegenmächten, fällt das Ich als gewöhnlicher Seelen-Mittelpunkt, von einer Emotion in die andere – in dem vermeintlichen Erleben, sich selbst dazu zu entscheiden, und dennoch in Wirklichkeit getrieben und unfrei, sich hin-reißen lassend.
Unfrei ist die Seele sowohl in ihrer einzelnen Handlung als auch in ihrer grundsätzlichen Erkenntnis. Denn sie ist gefangen in ihrem Horizont. Sie erkennt nicht, was ihr möglich wäre. Schon die Erkenntnis könnte sich unendlich entwickeln. Und die Seele ist unfrei durch ihre Begrenzung und Beschränkung, mit der sie ihre Erkenntnis weder zu erweitern vermag noch dies überhaupt will, ihr Mangel an Fähigkeiten und an Wille machen sie unfrei. Und sie erkennt auch nicht, wie sehr sie dies wollen würde, wenn sie es einmal wahrhaft erkannt hätte. Sie erkennt nicht, dass sie nicht erkennt – und sie erkennt auch nicht, was sie tun wollen würde, wenn sie erkennen würde. Sie ist noch vollkommen gefangen in ihrer Unfreiheit. Weder den vollen Umfang der ihr möglichen Erkenntnis erkennt sie, noch den vollen Umfang des ihr möglichen Willens – wenn sie ihn und ihre Erkenntnis ent-wickeln würde. Dasjenige, was in sie sehr wohl hineingelegt ist...
Stattdessen wird die Seele in eine andere Entwicklung hineingerissen – und diese besteht immer mehr in Willkür, in willkürlichen Sprüngen, sinnlosen Sprüngen, die nur noch aus dem bestehen, was sie aus dem Ganzen herausgreift, um es zu verfolgen, während es etwas Herausgefallenes ist und auch sie herausfällt aus dem Ganzen. Sie sucht Erfüllung etwa in immer neuen Eindrücken. Oder sie lässt sich von einer Emotion in die andere treiben. Oder sie sucht ihr Heil in einem Streben nach Reichtum, materieller Sicherheit, nach Macht und Einfluss, nach Anerkennung...
Weil sie aber immer mehr aus dem Zusammenhang herausfällt, auf der Suche nach ihrer eigenen Freiheit, von der sie aber keinen Begriff hat, wird diese Entwicklung immer weisheitsloser, weil sie immer mehr nur ein Opfer der Gegenmächte wird.
Das Wesen der Freiheit
Diesen Gegenmächten wurde im Menschen die „Freiheit“ gegeben, über den weisheitsvollen Zusammenhang, den sie in der ganzen übrigen Natur einhalten müssen, hinauszugehen. Sie sollen den Menschen aus dem Zusammenhang herausreißen – und die Macht haben, ihn in ihr Reich hineinzureißen. Dass sie damit fortwährend die Grundlage für die Freiheit des Menschen legen, ist die ... höhere Weisheit daran.
Dennoch wäre Freiheit nicht Freiheit, wenn sie – nicht auch scheitern könnte. Deswegen ist „Irren menschlich“ – weil nur durch das Irren auch das Finden möglich ist. Weil das Grandiose des „verlorenen Sohns“ nicht möglich wäre, wenn er nicht erst ins Verlorene gehen könnte. Aber diese Freiheit kann sogar endgültig scheitern. Eine Existenz kann scheitern. Aber auch die gesamte Entwicklung kann scheitern. Sogar die gesamte Schöpfung – weil und seitdem in sie das Prinzip der Freiheit eingewoben wurde. Mehr und mehr hängt damit alles am Menschen. Es sei denn, die schöpferischen Mächte würden sich entscheiden, dem Menschen seine Freiheit wieder zu nehmen, was auch denkbar wäre. Und doch ist gerade der freie Mensch das Ziel der Götter. Und damit richtet sich die Frage in allertiefstem Ernst an den Menschen: O, Mensch, wie wirst Du Deine Freiheit nutzen? Wirst Du ihr Wesen überhaupt einst ... erkennen?
Entwicklung geht über Organik weit hinaus, schrieb ich. Goethe wurde von Steiner als Begründer der wahren Organik erkannt. Aber Goethe hat eben noch nicht den Schritt zur Erkenntnis derjenigen Entwicklung gemacht, die dem Menschen bestimmt ist. Steiner hat diesen Schritt gemacht, und damit wurde der Organik eine Anthroposophie hinzugefügt. Und was ist diese Anthroposophie? Ein Entwicklungsweg, der den Menschen wahrhaft zu sich selbst führt – ein Weg, auf dem er sein wahres Freiheitswesen wahrmachen würde.
Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte ,nach tausendfältigen Pflanzen’ noch eine machen, worin ,alle übrigen enthalten’ sind, so bringen sie auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. […] Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. […] Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose nie in sein Bewußtsein aufgenommen.
GA 6, Goethes Weltanschauung.
Heilige Erkenntnis – und der weitere Weg
Es wird von diesem Mysterium wahrhaft zu gering gedacht, wenn es einfach wiederum nur in die gewöhnliche Seele „inkorporiert“ wird, ohne in seinem Wesen erkannt zu werden.
Der hier von Steiner geschilderte Prozess wird nicht wahrgemacht, indem man ihn fortan einfach für sich – beansprucht. Sondern dann, wenn das Denken in voller, reiner, man kann sagen heiliger Aktivität mit sich allein ist – und wenn dieses Reine, Heilige dann in die Anschauung tritt. Was dann geschieht, ist, dass dieser heilige Prozess, das Erkennen, selbst erkannt wird, indem er angeschaut wird – und dass gerade dies eins ist mit dem Gewahrwerden der Realität der Freiheit.
Das „Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit“ – und hier jener heiligen Idee, „worin die ganze Ideenwelt enthalten ist“, hat nichts, wahrhaftig absolut nichts zu tun mit der gewöhnlichen Verfasstheit der Seele. Was in diesem Mysterium angeschaut wird, als ein heiliger Prozess, ist das eigene Wesen des Menschen.
Aus einer solchen Anschauung kann der Mensch nur als ganz Verwandelter, man kann sagen, als neu Getaufter, zurückkehren. Man kann sagen: Er ist in die Freiheit hinein getauft worden. Damit aber hat er auch das Weisheitsvolle, Organische wiedergewonnen. Denn von nun an wird dieser Weg, der mit jener „wahren Kommunion des Menschen“ begonnen hat, organisch voranschreiten – es wird aber der Mensch selbst sein, der dies tut, aus Freiheit wollend.
Sich befreiend von dem, was ihn bisher unfrei gemacht hat, dies erkennend und immer mehr abstreifend, wird der Mensch den Weg der Freiheit gehen – der der Weg der Läuterung ist, weil er es nicht mehr nötig hat, denjenigen Impulsen zu folgen, die die Gegenmächte in ihn hineingelegt haben, um ihn frei zu machen. Jetzt ist er frei – und wird es immer mehr. Er befreit sich, um sein wahres Wesen zu entwickeln und mit diesem wieder hineinzuwachsen in seine ursprüngliche Heimat: die Welt der heiligen Weisheit, die ihn einst entlassen hatte, damit er wieder zurückkehren darf, als Freier...
Auf diesem Weg befreit sich der Mensch auch von seinem Hochmut – von diesem mit als allererstes. Weiß er doch von nun an bis ins Innerste, dass jegliche Erkenntnis nur selbstlos möglich ist – und dass auch sein eigenes Wesen, das eines Erkennenden, Erkennen-Dürfenden, ihm ... geschenkt ist. Und so erkennt er immer mehr selbstlos und in Wahrheit, wie sehr er von Anfang an begleitet wurde. Von allen guten Mächten und von jenem Wesen, dem sie alle gedient haben, letztlich sogar die Gegenmächte – jenem Wesen, das das Wesen der Wahrheit ist, dass auch das Wesen der Entwicklung selbst ist, das Wesen des heiligen Weges, Begleiter sogar inmitten der Irrungen, und das Wesen des heiligen Lebens.
Novalis schrieb von diesem Wesen der Liebe: „Du stehst voll treuer Liebe / Noch immer jedem bey, / Und wenn dir keiner bliebe, / So bleibst du dennoch treu.“ – Und wenn dir keiner bliebe! Das ist das Wesen der Freiheit... Da ist es noch die negative Freiheit, der verlorene Sohn. Aber es ist auch das Wesen der Freiheit, dies zu erkennen, frei, ganz und gar frei. Das ist die positive Freiheit. Nichts mehr müssen, aber können, dürfen, die Möglichkeit dazu haben... Und so kann Novalis mit geschenktem und frei errungenem Vertrauen schließen: „Einst schauen meine Brüder / Auch wieder himmelwärts...“ Weil auch sie ihre Freiheit finden werden...