2018
Von „Lügenpresse“, Lebenslügen und Wahrheitsliebe
Eine Besinnung über drängende Fragen.
Inhalt
Abnehmendes Vertrauen
Von Abgehängten, Demokratie und Macht
Elitekonsense trotz gespaltener Gesellschaft?
„Berichten, abbilden, repräsentieren“
Von Gewaltfreier Kommunikation und Visionen
Ein billiger Vorwurf – und sein Irrtum
Beispiel Israel...
...und die ganze übrige Welt
„...dass du es sagen darfst“
Die Wahrheit und die Liebe zu ihr
Die Wahrheit und das Mädchen
Abnehmendes Vertrauen
Unsere Gesellschaft offenbart eine immer tiefgreifendere Spaltung. Diese Spaltung offenbart sich etwa in der Rede von der „Lügenpresse“, in der Ausbreitung von Verschwörungstheorien – und auf der anderen Seite eben oftmals auch in einer großen Selbstgefälligkeit im Medienbereich, einer Wagenburg-Mentalität der Kritisierten und einem „Weiter so“. Dasselbe lässt sich mühelos auf weitere Bereiche ausdehnen.
Aber bleiben wir einmal bei den Medien, denn hier spiegelt sich auch vieles andere, sollen die Medien doch gerade ein Spiegel sein. Im Folgenden werde ich mich auf einen Aufsatz des Medienwissenschaftlers Uwe Krüger beziehen: „Mit Transparenz gegen die Vertrauenskrise der Medien? Über politische Entfremdung und den Eliten-Diskurs“ (mehr über Krüger hier, Verzeichnis seiner Veröffentlichungen hier).
Zunächst zitiert Krüger folgende Umfrageergebnisse:
In einer Allensbach-Umfrage für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Dezember 2015 gaben 39 Prozent der Befragten an, am Vorwurf der „Lügenpresse“ sei etwas dran in dem Sinne, „dass die Medien angeblich nicht objektiv berichten, sondern Sachverhalte verdrehen oder bestimmte Tatsachen ganz verheimlichen“ . In einer Emnid-Umfrage für den Bayerischen Rundfunk vom März 2016 glaubten 65 Prozent der Befragten, „Journalisten dürfen oft nicht sagen, was sie denken“, und 60 Prozent fanden, Medien „blenden berechtigte Meinungen aus, die sie für unerwünscht halten“. Und immerhin 55 Prozent hatten den Eindruck, die Medien würden die Mächtigen im Land – also Staat, Regierung, Wirtschaft und einflussreiche Interessengruppen – eher stützen denn kritisch kontrollieren.
Im weiteren führt Krüger aus, dass verschiedene Medien als Reaktion darauf versucht haben, Transparenz bezüglich der Bedingungen von Journalismus zu schaffen:
Zum Beispiel haben Zeit Online und Spiegel Online eigene Blogs („Glashaus“, „Backstage“) eingerichtet, in denen sie ihre internen Debatten nach außen tragen und von ihren Recherchen, Selektionskriterien oder Produktionsroutinen berichten.
Daraufhin macht er deutlich, dass dies möglicherweise keineswegs ausreichend ist. Denn wenn man auf dem Standpunkt steht, dass das von den Medien gezeichnete Bild die Wirklichkeit ungenügend oder gar falsch wiederspiegelt, wird man sich kaum mit einem Blick in die Produktionsbedingungen zufrieden geben – man wäre hinterher noch genauso unzufrieden. Krüger bringt hier das Bild eines Fleischers, der für die Kunden, denen seine Wurst nicht schmeckt, einen Tag der offenen Tür veranstalten würde. Und das eines Radiohörers, der keine Volksmusik mag, sich nun aber eine Dokumentation über die Entstehung von Volksmusik anhören soll.
Die dahinterliegende Frage ist doch offenbar: Kann sich Vertrauen allein schon durch Transparenz bilden? Oder wird vielleicht durch diese Transparenz andererseits auch offenbarer und transparenter, warum das Produkt (vielleicht: trotz allem) so schlecht ist?
Eine sehr entscheidende Frage, die fortwährend bei jeder Botschaft gestellt werden kann, ist zudem: Was will mir das sagen? Warum wird dies jetzt berichtet? Und was wird alles nicht berichtet? Und warum wird gerade in dieser Form berichtet? – Mit anderen Worten: Ist ein „Bericht“ jemals wertfrei oder steht er immer schon auf einem bestimmten Standpunkt? Und selbst wenn er „vollkommen objektiv“ wäre – was würde diese ,Objektivität’ genau bedeuten? Und was würde neben dem Berichteten zeitgleich alles nicht berichtet werden? In den Worten von Krüger:
Stets gibt es einen submedialen Raum, der […] Fragen aufwirft wie „Was bezweckt der Autor mit dieser Mitteilung?“, „Welchen Interessen dient das?“ oder „Warum werde ich mit dieser Information gerade jetzt konfrontiert?“ Wenn es aber das Bedürfnis von Mediennutzern ist, durch die „Zeichenwand“ hindurchzugehen und das dahinter Verborgene zu entdecken beziehungsweise zu entlarven, dann kann es keine Lösung sein, ihnen eine neue Zeichenwand anzubieten, die vom Entstehungsprozess der ersten Zeichenwand erzählt.
Von Abgehängten, Demokratie und Macht
Krüger weist nun folgerichtig darauf hin, dass vor allem danach gefragt werden müsse, woher das Bedürfnis komme, „die Zeichenwand anzuzweifeln“. Und er weist dann auf entsprechende Forschungsergebnisse hin:
Aus der Forschung sind einige Gründe für Misstrauen gegenüber etablierten Medien bekannt: ein genereller anti-elitärer Affekt, das Gefühl von gesellschaftlicher Randständigkeit, Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der demokratischen Ordnung, niedriges generelles Institutionenvertrauen und niedriges zwischenmenschliches Vertrauen.
Man könnte dies zunächst scheinbar als die „Kritik der Abgehängten“ bezeichnen. Und doch liegen allein in diesen wenigen Ursachen schon verschiedene Phänomene vor. Man könnte „abgehängt“ worden sein, obwohl die demokratische Ordnung wunderbar funktioniert. Man könnte aber auch keineswegs „abgehängt“ sein und dennoch erkennen, dass die demokratische Ordnung deutliche Schwächen aufweist. Und dazwischen sind noch alle möglichen anderen Varianten denkbar.
Offenbar aber kann sehr gut einerseits eine Demokratie existieren und können andererseits in dieser demokratischen Gesellschaft Menschen „abgehängt“ werden. Demokratie als Form der Regierungsbildung ist kein Garant für eine soziale Gesellschaft.
Genauer gesprochen: Auch in einer Demokratie, wie wir sie kennen, geht es um Macht und Machtverhältnisse. Wer die Wähler am machtvollsten auf seine Seite ziehen, überzeugen, beeinflussen, manipulieren etc. kann, so dass er regieren darf, ist „am Drücker“. Und die Frage ist dann: Verstärkt seine Regierung die (ökonomisch-soziale) Spaltung der Gesellschaft, oder verringert sie sie? Hinzu kommt, dass auch die Regierenden Machteinflüssen unterliegen: das berühmte „scheue Kapital“ hat so viel Macht über die Politiker, wie diese ihm geben – bewusst oder unbewusst. So hat jede Regierung eine „Schattenregierung“, denn die, die die Kapital-Macht haben, stellen Forderungen. Die Gegenseite (etwa die Umweltschützer) stellen auch Forderungen – aber es ist leicht, zu sehen, welche Forderungen „mächtiger“ sind.
Dies also ist die komplexe Realität auch schon jeder „gut funktionierenden“ Demokratie. Und hierbei ist die wirkliche Komplexität noch kaum berührt. Denn hinzu kommen die sogenannten „Sachzwänge“ durch Nachbarstaaten, die sich als „Konkurrenten“ entpuppen, weil sich weltweit diese Logik der Konkurrenz durchgesetzt hat (demokratisch oder machtvoll?). Hinzu kommen Grundeinstellungen, die alles weitere entscheidend prägen, etwa in Bezug auf das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit (bzw. Ungleichheit).
Wer sich an der Spitze der Gesellschaft befindet, also zu den „oberen Zehntausend“ oder zumindest den oberen zehn Prozent gehört, wird vielfach sehr schnell die These bzw. den Standpunkt vertreten, dass „jeder seines eigenen Glückes Schmied“ sei bzw. sein solle – ungeachtet der Tatsache, dass er selbst ja auch zumeist bereits in diese Klasse der oberen Prozent hineingeboren wurde, also gerade nicht seines Glückes Schmied war. Es ist eine Tatsache, dass zunehmende Privilegiertheit tendenziell den Egoismus weiter verstärkt – und sei es, dass dieser mit aus der Blindheit für die wirkliche Realität geboren wird, zudem aus Angst, Angst vor Verlust, Angst vor dem Abgeben, Angst überhaupt vor „denen da unten“.
Elitekonsense trotz gespaltener Gesellschaft?
Was man hier sieht, ist, dass Spaltung zu Spaltung führt. So, wie der Hass den Hass nährt, so nährt auch die Spaltung die Spaltung. Wer zunächst gleichsam „von Natur aus“ abgespalten zu den reichsten zehn Prozent zählt, der findet nur sehr schwer überhaupt Zugang zu den übrigen – und um so schwerer, je weiter er „nach unten“ gehen müsste, um überhaupt noch zu verstehen, was dort die wirklich realen Lebensbedingungen sind, die immer mehr schrumpfende Teilhabe, die immer mehr zunehmende Härte des Lebens, das immer weiter anwachsende Unsoziale, in dem das tägliche Leben zugebracht werden muss. Der Privilegierte wird es kaum jemals kennenlernen – und er will es auch gar nicht. Er ist froh, dass er privilegiert ist, und er wird diesen Zustand um jeden Preis aufrechterhalten wollen. Und er wird tendenziell leugnen oder herunterspielen bzw. verteidigen, dass er privilegiert ist – denn täte er es nicht, stünde er vor der moralischen Forderung, abzugeben...
Doch nun weiter Uwe Krüger. Er stellt konsequent fest:
Medienvertrauen hängt also mit dem Gefühl zusammen, repräsentiert zu sein, und dem Lügenpresse-Verdacht liegt ein Repräsentationsdefizit zugrunde. Genauer gesagt: Ihm liegen Klüfte zwischen Elite und Bevölkerung zugrunde – die deshalb ein Problem für die etablierten Medien werden können, weil diese sich häufig am Diskurs der Eliten orientieren und Elitenkonsense oft übernehmen.
Das ist der springende Punkt – und so entstehen dann Begriffe wie ,Mainstream’-Presse, die eine Realität abbilden. Denn in der ,Mainstream’-Presse werden unhinterfragt ,Elitekonsense’ wiedergegeben. Das bedeutet zum Beispiel: Das Modell des Kapitalismus wird nicht mehr grundsätzlich hinterfragt. Oder sogar: die Kapitalismuskritik bekommt ihre obligatorische Nischenspalte – aber das große Schiff heißt „Weiter so“. Oder eben auch: „Wir wissen ja, dass wir daran nichts ändern können“. Oder wie auch immer man diese Konsense einschließlich integrierter kleiner Kritiknischen nennen soll. Immer sind es Konsense – Elitenkonsense. Es kann sogar Konsens sein, dass sich ,die kleinen Umweltschützer’ und ,die kleinen Kapitalismuskritiker’ in diversen Kommentarspalten ,immer auch mal austoben’ dürfen sollen. Die wirkliche, progressive, zukunftsorientierte zivilgesellschaftliche Bewegung kennt diese Mechanismen der ,Vereinnahmung’ sehr, sehr genau – aber sie ist eben entsprechend machtlos, weil der große, dominierende ,Konsens’ ein anderer ist...
Würde man das wirkliche Innenleben einer Gesellschaft abbilden wollen, sähen die Medien ihrem ganzen Inhalt nach sehr, sehr anders aus. Dann müsste zum Beispiel wirklich die Unzufriedenheit ein Thema werden. Dann müsste das Abgehängtsein ein Thema werden. Die ganze Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung, die Verarmung, die Prekarisierung, die Explosion der Mieten und unzählige andere Themen müssten Thema werden. Sieht man hier nicht schon unmittelbar, wie die ,Mainstream-Medien’ bestimmte Themen vermeiden – weil sie eben ein sehr, sehr heißes Eisen sind, weil sie wirklich Grundsatzfragen berühren würden?
Man könnte sich ja als Journalist oder als Medium, als Zeitung, fragen: Stelle ich mich schon außerhalb des transatlantisch-kapitalistischen Bündnis-Konsenses, wenn ich die unaufhaltsam zunehmende Schere in der Einkommens- und Reichtumsverteilung benenne? Wenn ich sie als Problem benenne? Wenn ich sie als existenzielles Problem benenne? Wenn ich auf die Realität der unteren zehn oder gar vierzig Prozent aufmerksam mache? Wenn ich diese Spaltung nicht mehr akzeptiere? Wenn ich nach den Ursachen frage? Vielleicht sogar nach den Folgen dieser selbstzerstörerischen kapitalistischen Lebensweise? Wann verlasse ich den Konsens? Und – was passiert dann?
„Berichten, abbilden, repräsentieren“
Uwe Krüger stellt fest:
Was folgt aus diesen Überlegungen? Transparenz – zumindest medial hergestellte – kann keine Repräsentationskrise beenden, keine politischen Entfremdungsgefühle beseitigen und auch keine strukturell bedingte Glaubwürdigkeitslücke schließen [...].
Und er setzt dann fort:
Ohnehin sollten Journalistinnen und Journalisten nicht in erster Linie sich selbst bespiegeln (und sich in ihren Produktions- und Selektionsroutinen bestärken), sondern die Gesellschaft. Sie sollten, anstatt die Menschen in ihre Stahl- und Glasbauten hineinzuholen, aus diesen heraustreten und zu den Menschen gehen – auch zu denen, die Wut haben und Milieus angehören, die nicht liberal-intellektuell geprägt sind, sondern in denen es „brodelt und stinkt“, wie die liberal-intellektuelle Zeit einmal titelte.
Schon hier wäre zu hinterfragen, welche Haltung in einem Menschen steckt, der über andere Menschen und deren Fragen, Empfindungen und Meinungen nur schreiben kann, es „brodelt und stinkt“ – ohne nach Ursachen zu fragen oder sich darum zu bemühen, hier etwas zu verändern, und zwar grundlegend. Das Erste wäre doch, überhaupt einmal zu versuchen, zu verstehen, wie es zu diesen Empfindungen, Erlebnissen und Meinungen kommen kann. Denn andernfalls behandelt man ja diese anderen Empfindungen, Erlebnisse und Meinungen selbst auch „untermenschlich“, mit leiser Verachtung, mit sehr konkretem Unverständnis. Aber dann ist der andere kein Mensch mehr, wird nicht mehr als solcher wahrgenommen, wird „abgehakt“, landet in einer Schublade, und man zelebriert im Übrigen das große „Weiter so“. Damit verstärkt man aber nur die Spaltung – und die eigene Arroganz ist dabei im Gegensatz zur eigenen Selbstwahrnehmung ebenfalls ein treibender Faktor.
Und Krüger macht auf eine ganz elementare Wahrheit aufmerksam, nämlich auf die eigentliche Grundaufgabe der Medien. Diese ist und bleibt: „berichten, abbilden, repräsentieren“.
Das ist wichtig, sich bewusst zu machen – es sei denn, man möchte ein seit den Anfängen der modernen Presse grundlegendes Prinzip und Ethos einfach so aufgeben. Diese lautete: berichten. Es lautet eben nicht: „über eine rechtsradikale Demonstration berichten, aber im selben Atemzug den Leser sofort auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung einschwören und ihn über die moralische Inferiorität der Demonstranten belehren“. Dasselbe gilt auch für die internationale Politik: berichten. Und nicht: „Putin als den Bösen schlechthin hinstellen, den machtvollen Strippenzieher, den Diktator, den Aggressor.“
Der entscheidende Punkt ist, dass Journalisten nicht die Aufgabe haben, Dinge zu werten und dem Leser sozusagen die Wertung von Tatsachen abzunehmen, sondern sie sollen Tatsachen berichten. Nicht mehr und nicht weniger. Heute ist es immer weniger. Ein paar kleine Tatsachen werden von einem Schwall an Wertungen begleitet, statt umgekehrt. Man hat Tatsachen? Wunderbar – man berichte über sie, so genau wie möglich, so objektiv und sachlich wie möglich und tue nichts weiter, stelle sie nur hin, vollkommen rein. Entweder sie sprechen für sich selbst – oder sie sprechen gar nicht. Die Aufgabe des Journalisten aber ist, nur zu berichten. Nichts anderes. Wirklich nichts anderes.
Von Gewaltfreier Kommunikation und Visionen
Kehren wir zurück zu Krüger, so schreibt er gegen Ende seines Aufsatzes, nun wieder bezogen auf das, was, herabsetzend gesprochen, „brodelt und stinkt“:
Das bedeutet nicht, dass Rassismus und Menschenverachtung normale Bestandteile der öffentlichen Debatte werden sollen. Es bedeutet aber, dass die dahinterstehenden Wahrnehmungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche normaler Teil der Debatte werden. (Diese müssen häufig erst einmal recherchiert werden und sind teilweise den Betroffenen selbst nicht bewusst.)
Das ist doch interessant! Recherche ist doch das Kerngeschäft eines guten, wirklichen Journalismus. Und hier, bei dem, auf das man herabblickt, versagt dieses Ethos auf einmal? Man recherchiert doch auch die Hintergründe anderer übler Entwicklungen. Ist es nicht extrem wesentlich, Recherche in Bezug auf Stimmungen zu betreiben, die die Gesellschaft zu sprengen drohen? Anstatt sich reflexartig zurückzulehnen und gegen dasjenige anzuschreiben, was sich ja durch so etwas gar nicht aufhalten lässt? Ein Pegida-Demonstrant ist keineswegs ein Nazi – aber er hat bestimmte Erlebnisse, Empfindungen, Wahrnehmungen. Eine Hartz-IV-Empfängerin hat Wahrnehmungen. Eine alleinerziehende Mutter hat Wahrnehmungen. Ein Rentner mit minimaler Altersrente, der „zusätzliche Hilfen zum Lebensunterhalt“ beantragen muss, hat Wahrnehmungen. Und so geht es immer weiter. Recherche statt Hochmut und Blindheit!
Und Krüger schließt seinen Aufsatz mit den Worten:
Wahrnehmungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche: Das sind übrigens die vier Bestandteile der „Gewaltfreien Kommunikation“, eines Konzeptes zur aufrichtigen, nicht-entfremdeten Kommunikation in Konfliktfällen, das der US-Psychologe Marshall B. Rosenberg entwickelt hat. Wenn Journalistinnen und Journalisten dazu beitragen, diese Wahrnehmungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche von Menschen, die mit ihrem Frust heute von Rechtspopulisten abgeholt (und betrogen) werden, in den Mainstream-Diskurs zu bringen und ernsthaft und ideologiefrei zu verhandeln, dann gibt es nicht nur eine Chance auf die Transformation verfestigter Einstellungen und Ideologien, sondern auch auf gesellschaftliche Integration in Zeiten von Spaltungstendenzen.
Und warum birgt dies eine anders niemals mögliche Chance? Weil dieses aufrichtige und ideologiefreie „Verhandeln“ bedeutet, grundlegende Fragen zu stellen, die bisher immer übersehen wurden. Hinter jeder Empfindung steht ein Schicksal. Je mehr Menschen sich in einer Gesellschaft „frustriert“ fühlen, um so größer wird die Notwendigkeit des ernsthaften, aufrichtigen und ideologiefreien Hinschauens. Hinschauen bedeutet das Bedürfnis, zu verstehen – und je mehr verstanden wird, desto mehr kann man zu den wirklichen Ursachen durchdringen – und erst dann sind wirkliche Suchen nach Lösungen möglich.
Es gibt nicht nur auf der Seite der Abgehängten und Frustrierten „verfestigte Einstellungen und Ideologien“, die auf eine Transformation warten – es gibt sie ebenso auf der Seite derer, von denen sie abgehängt und frustriert wurden. Und hier liegt die eigentliche Chance. Es ist die Chance auf einen ernsthaften und ideologiefreien Blick auf die Frage: Was sind die wirklichen Kräfte, die unsere Gesellschaft spalten? Wo überall lebt die Spaltung? Das Abgehängtwerden? Das Frustrierende? Was sind die Ursachen? Welche Kräfte wirken hier? Und auf der anderen Seite: Welche Kräfte wären wirklich zukunftstragend? Welche Kräfte führen zu einem Beenden des Abgehängtwerdens? Welche Kräfte führen zu einem wirklichen, einem ernsthaften, einem aufrichtigen Zusammenschluss einer Gesellschaft? Nicht einem Zusammenschluss „gegen“, sondern überhaupt einem Zusammenschluss.
Man käme unweigerlich auf Begriffe wie: Verständnis, gegenseitiges Verstehen, Wohlwollen, Abgeben, Teilen, einander fördern, Ermutigen, Freiräume schaffen. Positive Bilder entwerfen, Ideale entzünden, Visionen haben – aber mit voller Aufrichtigkeit, ohne alles Plakative, Pragmatische, Phrasenhafte.
Wäre man ehrlich, würde man spüren, wie weit wir davon heute entfernt sind.
Ein billiger Vorwurf – und sein Irrtum
Es ist deutlich, dass einer so radikalen Sichtweise extrem schnell bloßer Idealismus oder reine Naivität vorgeworfen wird. Aber dies ist selbst wieder eine verfestigte Sichtweise. Es ist die Sichtweise des: „Es gibt Sachzwänge, und die sind nun einmal nicht zu ändern.“ Diese Sichtweise ist gleichsam das Urphänomen der Verfestigung! Man behauptet Sachzwänge und man lässt sich von ihnen zwingen. Das Urphänomen des Menschen dagegen ist es, seine eigenen Bedingungen immer wieder neu zu schaffen. Die Freiheit beginnt „im Kopf“ – bei der Frage, ob ich überhaupt noch denken kann, was ich will, oder ob ich mir meine eigene Zensurschere bereits freiwillig implantiert habe. Nie hätte sich jemals in der Menschheitsgeschichte etwas geändert, wenn nicht große Geister immer wieder gesagt hätten: Ich verweigere mich jeglicher Bedingtheit. Von diesen ging immer wieder das Neue aus. Denn der Mensch schafft die Umstände – fortwährend.
Und nun können wir die Frage auf eine übergeordnete Ebene heben.
Der Begriff „Lügenpresse“ kann nur entstehen, wenn Menschen das reale Erleben von Abgehängtsein, von Unwahrheit, von einem grundlegenden Nicht-mehr-Stimmen haben. Ohne hier ins Einzelne der Frage zu gehen, was dann genau falsch berichtet wird, nicht berichtet wird, ausgelassen wird, verdreht wird, zu kurz kommt etc., geht es um eine ganz andere Frage. Es geht nicht darum, was genau in der Ukraine passiert, was in Syrien passiert, es geht nicht darum, was Putin vorhat, was die US-Geheimdienste vorhaben, was der Eine treibt, was der Andere treibt – sondern die Fragen sind viel grundsätzlicher.
Die entscheidende Frage lautet: In welch einer Welt wollen wir leben? Und dies ist keine Frage, in der man äußerlich mit dem gewöhnlichen Intellekt vorankommen könnte. Denn dieser ist immer schon pragmatisch, immer schon geprägt, konditioniert, gelenkt und sogar hochmütig, abgrenzend, ausgrenzend, besserwisserisch, all das. In dieser einen, entscheidenden Frage kommt man nur weiter, indem man ganz nach innen geht. Es ist eine Konfrontation mit der innersten Sehnsucht der Seele, des Herzens. Natürlich ist diese extrem schwierig zu erreichen, wenn die Seele und das Herz bereits sehr verschüttet sind, in jeder Sekunde neu beiseite gedrängt werden – vom Intellekt, von den erlittenen Verletzungen, von dem Drang nach außen, dem Drang nach Kampf, nach Verurteilung „der anderen“, nach einem Bekämpfen des Sich-Aussetzens gegenüber dem, was ganz innen liegt.
Dennoch wäre dies die eine entscheidende Frage. Der Weg nach innen, zu der innersten Sehnsucht, ist nur in voller Einsamkeit möglich. Auf diesem Weg schweigt jegliches Bedürfnis, anderen die Schuld zu geben, denn es geht nicht um Schuld, es geht um die innerste Sehnsucht und die ist jeder Schuldzuweisung vorgelagert. Hier ist noch keine Rede von Schuldigen oder Nicht-Schuldigen, sondern nur von der Sehnsucht selbst. Diese aber ist reine Zukünftigkeit, reines Ideal. Und sie muss gefunden werden – in aller Reinheit. Nur dann kann ... Zukunft werden.
Sonst lebt sich immer nur das Alte, das Vergangene, aber auch das Veräußerlichte und Entfremdete aus – in einem „Gegen“. In Sachzwängen, in Urteilen, in einem Besserwissen, in Wertungen, Herabsetzungen, in Interessenpolitik und Geopolitik, in einem Weiter so, in der zerstörerischen Eigenlogik eines entmenschlichten Systems, in dem alle gefangen sind und bleiben.
Beispiel Israel...
Um es noch einmal ins Konkrete zu führen. Veränderung ist nur möglich, wenn eine Sehnsucht entsteht oder eine bereits existierende, aber unterdrückte Sehnsucht bewusst gemacht wird – und dann verstärkt wird, zu einer treibenden Kraft gemacht wird. Wie denn sonst?
Nehmen wir einmal das Beispiel Israel/Palästina – ein Beispiel, an dem sich immer mehr die Hände verbrennen, weil mit immer härteren Bandagen um die Deutungshoheit gekämpft wird, bis sich schon in der Diskussion alle die Köpfe einschlagen. Was wäre das (heilende) Gegenbild? Es hätte viel mit der Gewaltfreien Kommunikation zu tun. Es wäre ein Durchbrechen der Schuldzuweisungen und der Selbst-Berechtigungen.
Man könnte neutral und wertfrei berichten. Man könnte berichten, wann irgendeine selbstgebastelte Rakete auf israelisches Grenzgebiet abgefeuert wird. Man könnte berichten, was tägliche Wirklichkeit der Siedlungen und der besetzten Palästinensergebiete ist. Man könnte berichten, wie lange die USA und Israel schon die Resolutionen der übrigen Völkergemeinschaft ablehnen. Man könnte über die Demütigungen der Palästinenser berichten (wie auch über die Demütigungen der Hartz-IV-Empfänger). Man könnte über israelische Offiziere berichten, die sich weigern, die Besatzungspolitik weiter mitzutragen. Oder über die Friedensbewegung in Israel, die seit vielen Jahren eine völlig andere Politik wünscht. Über Begegnungsprojekte zwischen Israelis und Palästinensern. Oder über die Macht der Israel-Lobby in den USA und welche Ausrichtung diese hat. Über all das könnte man wertfrei berichten. Auch über die Hassrhetorik – auf beiden Seiten.
Berichten, berichten, berichten. Ohne Verurteilung. Wertfrei. Die Weltgemeinschaft informieren. Und durch die Tatsachen eine immer tiefere Sehnsucht nach einer Lösung wachsen lassen. Die tiefe Sehnsucht nach einer Lösung, die von heute auf morgen möglich wäre – und die auch nicht mehr verhindert werden könnte, wenn genügend viele Menschen ganz klar und ohne jeden Zweifel wüssten, dass dies so ist: dass sie von heute auf morgen möglich wäre. Und selbst wenn sie nicht so klar auf der Hand läge, könnte sie aus der Sehnsucht heraus gefunden werden. Man müsste nur neutral und klar recherchieren und berichten, wer diese Lösung(en) verhindert.
...und die ganze übrige Welt
Das Gleiche gilt für die Sehnsucht nach einer besseren Welt in Bezug auf die Klimakatastrophe, in Bezug auf wirkliche soziale Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Teilhabe, auf ein Zusammenwachsen des Menschlichen schlechthin. Immer könnte man noch ganz andere Fragen stellen, die den Finger wahrhaftig und ernsthaft in die Wunde legen – denn die Wunden sind da. Unser Planet ist eine einzige Wunde, die Seele jedes Menschen ist eine Wunde, überall besteht die Wirklichkeit aus Wunden – und nicht aus Sachzwängen. Das Letztere ist einfach die Lebenslüge unserer modernen Zeit.
Und das bedeutet: In letzter Hinsicht kann die Presse zu einer „Lügenpresse“ werden, weil wir alle, als Menschheit, längst auf einem riesigen Berg der Lebenslügen sitzen – Lebenslügen, die das Leben selbst bekämpfen, unterdrücken, ja, vernichten. Würde die Presse ihr tiefstes Ethos ernst nehmen, würde sie recherchieren, bis sie an diese grundlegenden Lebenslügen herankommt – die auch ihre eigenen sind, weil sie die Lügen unseres ganzen Gesellschaftssystems betreffen, die inneren Widersprüche, die Zerrissenheit, das Aufhören lebendiger Fragen, all das.
Da, wo die Presse nicht auch zu diesen Fragen durchdringt und diese treu „berichtet“, bleibt sie in der herrschenden Ideologie befangen. Diese Ideologie ist, bestimmte Fragen nicht zuzulassen, sie zu übertönen, beiseite zu drängen, als „schon beantwortet“ zu bezeichnen und so weiter. Diese Ideologie ist, dass bestimmte Fragen nicht mehr gestellt werden dürfen, weil sie naiv und albern, idealistisch und unrealistisch, bloß philosophisch und nicht lebensnah seien. Und überhaupt, dass sie in der gegenwärtigen Situation, in der man sich ganz auf die Konkurrenz gegen China, gegen Russland, gegen die USA etc. voll auf die „harten Fakten“ besinnen müsse, völlig irrelevant und behindernd seien. Dass die Welt ganz andere Fragen brauche als solche der „Sehnsucht“ oder gar nach dem Menschenbild, die doch alle in vergangenen Jahrhunderten schon abgehandelt wurden und inzwischen längst in die Mottenkisten gehörten.
Spürt man nicht, wie hinter solchen Argumentationen die klare Intention besteht, diese Fragen zu unterdrücken und so weit herabzuwürdigen, dass sie wirklich nicht mehr gestellt werden? Mit aller Kraft, die die Seele zur Verfügung hat? Der „Mainstream“ ist heute von jener Macht dominiert, die eine volle Hinwendung zu der tiefsten, in der Seele lebenden Sehnsucht um jeden Preis verhindern will.
Und deswegen wird eben alles immer gleich bewertet, mit dem Intellekt eingeordnet. Wertungen, Urteile, Sicherheit. Die innere Sicherheit des selbstgewissen Intellekts mit all seinen Prägungen und verfestigten Vorstellungen. Was aber notwendig wäre, wäre Recherche. Aufrichtiges, ernsthaftes, reines Berichten. Und dies beginnt bereits innerhalb der Seele. Aufrichtige Recherche in der Seele. Und dazu gehört: Schweigenlernen, Zuhören. Die Stimme der Sehnsucht spricht nicht, wenn der „Zuhörer“ (man selbst) immer schon alles besser weiß. Wahre Recherche beinhaltet immer auch Hingabe.
„...dass du es sagen darfst“
Jede aufrichtige Berichterstattung, die nicht einfach unmittelbar meinungsbildend und -beeinflussend wirken will, ist zunächst selbst auf der Suche nach der Wahrheit. Das Ethos des Journalisten ist eine Berichterstattung, die die wahre Wirklichkeit wiederspiegelt, die getreu berichtet. Und dies ist eigentlich ein wunderbares Ideal, denn es enthält eine Liebe zur Wahrheit und es enthält das Mysterium der Treue.
Die Liebe zur Wahrheit wird zu einer Treue ihr gegenüber – auch da, wo die Wahrheit wehtut, weil sie eigene Hoffnungen, vielleicht sogar eigene Überzeugungen verletzt. Die Treue gegenüber der Wahrheit wiegt stärker als die eigenen Lieblingsanschauungen. Diese Treue gegenüber der Wahrheit ist eine reale Kraft in der Seele. Sie kann wirklich den ganzen Charakter eines Liebesverhältnisses annehmen – denn warum sonst sollte man vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel setzen, zumindest aber seinen guten Ruf, um eine Wahrheit treu und unerschütterlich zu verteidigen, wiederzugeben, zu berichten?
Man kann etwa an die Whistleblower denken, die ihre Karriere opfern, um die Wahrheit bekanntzumachen. Man kann auch an Noam Chomsky denken, der 1979 die Redefreiheit des Holocaust-Leugners Faurisson verteidigte, weil die von ihm unmittelbar erlebte Wahrheit die war, dass man seine eigenen Ideale aufgibt, wenn man etwas, an dessen Unwahrheit man selbst keinen Augenblick zweifelt, dadurch bekämpft, dass man es mit Redeverboten belegt.
Das dahinterstehende Erleben ist, dass es die Menschenwürde gebietet, bei jedem Menschen anzunehmen, dass er selbst überzeugt ist von dem, was er sagt (also nicht bewusst und böswillig Lügen verbreitet); dass ihm dieses Recht zweifellos zugestanden werden muss – und dass sich die Wahrheit einer Sache aus sich heraus erweisen muss: in der Begegnung der Erkenntnisbemühungen des Einen und des Anderen und aller übrigen, die daran Anteil nehmen. Und dass ich selbst dem Lügner nicht seine Menschenwürde nehmen darf, indem ich ihm das Sprechen verbiete – sondern dass der Mensch selbst dahin kommen soll, die Wahrheit zu erkennen, sogar die Wahrheit der mit einer Lüge einhergehenden Schuld und des eigenen inneren Herabsinkens.
Dies alles steht hinter Chomskys Verteidigung seines gedanklichen Gegners. Und dahinter kann man das Christus-Wort erleben: „Liebet eure Feinde“. Liebet selbst die, die euch mit der Unwahrheit ins Gesicht schlagen – liebet ihre Freiheit so wie eure eigene. Man kann diese Haltung auch mit folgenden Worten ausdrücken: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Dahinter steckt eine feurige Liebe in die Freiheit des Anderen.
Vielleicht muss man eine derartige Liebe zur Wahrheit haben, um wirklich wahrhaftig zu werden – gewissermaßen geglüht sogar durch den Schmerz, dass Andere mit der Wahrheit und den Tatsachen viel sorgloser umgehen. Das Leid an dieser Sorglosigkeit, vielleicht sogar Böswilligkeit, darf nicht dazu führen, dem Mitmenschen das Reden zu verbieten – sondern es kann nur die eigene Wahrhaftigkeit vertiefen. Wiederum kann man hier an Rudolf Steiners Worte denken, dass im Zeitalter der Bewusstseinsseele die Begegnung mit dem Bösen notwendig ist – und dass aus der tiefen Begegnung mit dem Bösen eine um so heiligere, innigere Liebe zum Guten hervorgehen soll. Dies aber ist nur möglich, wenn man tief an dem Bösen zu leiden vermag, ohne es zu bekämpfen.
Die Wahrheit und die Liebe zu ihr
Es gibt keinen anderen Weg zur tiefsten Wahrheit als die tiefe Liebe zu ihr. Niemand sollte glauben, mit der Wahrheit schon verbunden zu sein, der noch kein ... Liebesverhältnis zu ihr hat. Es geht um eine so tiefe Liebe zur Wahrheit, dass die Seele gleichsam in Selbstlosigkeit verbrennt – dass ihr Selbstbezug in Flammen aufgeht. Es ist nicht umsonst, dass das Wort „Läuterung“ dasselbe ist wie dasjenige, das den Feuersturm bezeichnet, in dem das Erz geläutert wird, so dass es am Ende lauter, rein daliegt, befreit von aller Schlacke.
Dieses Finden einer heiligen Liebe zur Wahrheit, einer heilig brennenden Liebe, hat nichts zu tun mit einem Kampf gegen Andere. Es ist ein Kampf gegen sich selbst. Der reine Teil der Seele, der die Wahrheit innig liebt, kämpft gegen den anderen großen Teil, der sich selbst und seine eigenen Meinungen viel mehr liebt. Es ist ein Kampf um die heilige Vorherrschaft in der Seele. Nur wenn die Seele in heiliger Weise die Wahrheit zu lieben imstande ist, kann sie jederzeit ihre Irrtümer einsehen – und liebend, mit fliegenden Fahnen, berichtigen. Es liegt ihr nichts daran, Recht gehabt zu haben. Sie kann ohne Abbruch ihrer Würde eingestehen: Hier hatte ich Unrecht... Wie gut, dass ich nun die Wahrheit finden durfte, denn sie liebe ich doch, nicht mich selbst.
Wann aber dient man der Wahrheit wahrhaft? Indem man sich zu ihrem Verwalter macht? Das würde heißen, dass die Wahrheit nicht für sich selbst sprechen kann. Was aber ist dann die Aufgabe, in dem heiligen Dienst für die Wahrheit? Ich muss treu berichten, was geschieht. Ich kann sogar treu berichten, was man (meiner Überzeugung nach) der Wahrheit antut. Aber ich diene der Wahrheit nicht, wenn ich dann meine ureigenen Wertungen, Antipathien, Gehässigkeiten und so weiter hineinmische. Nicht jene, bei denen ich stets selbst nur die gewöhnliche, niedere Seele bin, die auf den anderen Menschen herabblickt.
Das Wesen der Wahrheit sprach selbst die Worte: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werden.“ Was aber kann man dann im Dienste der Wahrheit tun? Man kann so genau wie möglich beschreiben, was man empfindet, während man seine eigene Seele so gut wie möglich in das Reich der Läuterung erhebt. Beschreiben, was man dann erlebt als Wahrheit – und als das, was sich einem als Entfremdung Anderer von der Wahrheit darstellt. Man kann es schildern, so rein wie möglich, und es dann hinstellen für Andere, die selbst versuchen können, dem Erlebten zu folgen und es aus ihrem eigenen, möglichst reinen Erleben heraus zu bestätigen oder zu korrigieren.
Ein Beschreiben in möglichster Reinheit, in möglichster Lauterkeit, reinen und lauteren Herzens – das allein kann der wahre Dienst für die Wahrheit sein. Man kann nur so sehr Diener der Wahrheit sein, wie man sich mit der Seele in ein reines, lauteres Reich erhebt. Tut man dies nicht, kann man zwar mitunter Wahres und Richtiges verkünden – aber niemand spürt, was der Weg zur Wahrheit allein sein kann. Es ist ein Weg der Läuterung, der zunehmenden Liebe zur Wahrheit, immer existenzieller, und ein Weg der abnehmenden Selbstliebe, des abnehmenden Hochmuts des Intellekts, des bloßen, vom Herzen abgekoppelten Denkens.
Die Wahrheit und das Mädchen
Es gibt kein Wesen, das die innige Verbindung von Denken und Fühlen berührender verkörpert als das Mädchen. Das Mädchen, dessen ganzes Wesen darin liegt, ein reines Herz zu haben, kann nicht lügen. Es kann es mit der Wahrheit nicht einmal nicht so genau nehmen. Das, was wir uns erst mühsam erringen müssen, eine tiefe Liebe zur Wahrheit, das hat das Mädchen von Natur aus – aus der Natur seines eigenen reinen Herzens heraus.
Aber darum wird an ihm so tief erlebbar, was das ist – ein reines Herz. Was alles damit untrennbar verbunden ist. Und was alles nicht lebt, wenn das reine Herz verloren ist. Aber dafür darf man dies nicht bloß intellektuell nachvollziehen, denn dann bleibt das Herz noch immer verloren, sondern man muss in ein Erleben eintauchen. Dazu ist die Seele heute kaum noch fähig – sie weiß nicht einmal mehr, wie sie das machen soll. Aber selbst wenn sie es weiß, hat sie eine ungeheure Angst, sich zu verlieren – entweder sich oder den klaren Verstand oder was auch immer. Man kann versuchen, diese Tatsachen innerlich in sich real zu erleben. Aber die größte Angst ist nicht die vor einem Sich-Verlieren, sondern die größte Angst ist die vor der Läuterung selbst. Die Seele schreckt vor dem wirklichen Erleben, dem wirklichen Eintauchen zurück – weil sie ganz real und heftig die Läuterung fürchtet.
Die Seele kann sich nicht mehr hingeben. Wirklich nicht mehr. Sie hat furchtbare Angst davor. Und – die Kehrseite dieser Angst ist ein unglaublicher Unwille. Die Angst tarnt sich als Unwille. Und dieser Unwille offenbart sich als Hochmut. Dieser Hochmut hält dann alles, was in diese Richtung der Läuterung geht, für unsinnig, für irrelevant, womöglich sogar schon für „erledigt“ und für was auch immer. Dieser Hochmut wehrt sich heftig gegen die Läuterung – und seine große Waffe ist das „Abtun“, das Lächerlichmachen, das Ausweichen, das Nichtbeachten. Flucht, Angst, Unwille – das ist die gewöhnliche Seele.
In demselben Maß aber, wie die Seele die Begegnung mit dieser Wirklichkeit fürchtet, weicht sie auch vor der übrigen Wirklichkeit aus und lernt diese niemals kennen, trennt sich nur immer kontinuierlich von ihr ab.
Die Seele müsste ganz und gar von innen heraus, in einem erschütternden Moment, erleben, wie das Mädchen zur Wahrheit steht – erst dann hätte auch sie, in ebendiesem Moment, ein wahres Verhältnis zur Wahrheit. Vorher kennt sie die Wahrheit noch gar nicht – denn sie weiß nicht einmal ansatzweise, was für ein Verhältnis zur Wahrheit möglich ist.
Das Mädchen mit dem reinen Herzen lebt in der Hingabe. Und diese Hingabe erstreckt sich auch auf die Wahrheit. Das Mädchen hat eine abgrundtiefe Liebe zur Wahrheit, weil diese Liebe seinem Herzen unmittelbar entströmt. Jede Lüge empfindet das Mädchen als einen tiefen Schmerz, weil sein eigenes Herz ganz in Wahrheit und Wahrhaftigkeit lebt, in tiefster Reinheit und Unmittelbarkeit. Es ist ein seelisches Leuchten und Leben, von dem man sich überhaupt keinen Begriff macht. Es ist eine allergrößte Treue gegenüber der Wahrheit, weil diese Treue das ganze Wesen des Mädchens umfasst.
Das reine Herz des Mädchens liebt aber nicht nur die Wahrheit, sondern das Gute überhaupt. Hätte die Welt nur ein Zehntel von dem guten Willen des Mädchens und von seiner Wahrheitsliebe – es fände sich für alles eine Lösung, und es gäbe eine Presse, die nicht nur wahrhaftig berichtet und recherchiert, sondern auch die wahrhaftigen, die guten Fragen stellen würde. Geleitet von einer in einem innigen Feuer brennenden Liebe zur Wahrheit und zum Guten. Einer Liebe, die selbst den „Feinden“ immer wieder die Hand reicht...
Denn das Wesen der Wahrheit ist kein anderes als das Wesen der Liebe...