2018
Über das heilige Wort „Mädchen“
Ein Versuch der Hingabe an das Geheimnis seines Klanges.
Von der Heiligkeit der Sprache
In den Mysterien von Ephesus, jener Insel, wo der Evangelist Johannes in hohem Alter die Apokalypse (griech. Offenbarung, Enthüllung) schrieb, wurde der Mysterienschüler zum Erleben des schöpferischen Weltenwortes geführt. Und Johannes selbst beginnt sein Evangelium mit dem eine Unendlichkeit umfassenden Satz: „Im Urbeginne war das Wort.“ Das Weltenwort, das Wort Gottes, zugleich der Sohn: der Logos.
Das menschliche Wort, das Wort der menschlichen Sprache, hat demgegenüber unendlich viel verloren. Es ist herabgesunken zum lateinischen „verbum“. Und doch lebt in den Klängen noch immer unendlich viel und kann wiedergefunden werden. Der Klang, die Laute – all dies ist noch immer eine Offenbarung des Wesens. Dies war die Überzeugung der Realisten im Gegensatz zu den Nominalisten – die schließlich die Herrschaft gewannen, als die tiefere seelische Empfindung immer mehr dem trockenen, nüchternen, empfindungslosen Intellekt wich.
Etwas von diesem Geheimnis lebt aber auch in der Legende, dass der erste Mensch, Adam, von Gott die Aufgabe bekam, allen Dingen und Wesen ihren Namen zu geben.
Und bis in jüngste Zeit war das wahrhaft reale Reich der Klänge das Lebenselement der Dichter, der Poesie, das Reich der menschlichen Sprache als Klang-, als Laut-Erlebnis. Es ist ein Unterschied, ob ich „Kopf“ sage oder „Haupt“. Es ist ein Unterschied, ob ein Junge Pitt heißt oder ein Mädchen Julia. Die Welt der Klänge ist wirklich eine Welt, ein heiliger Kosmos, in den man eintauchen kann. Das aber geht nicht ohne Hingabe. Es geht nicht ohne eine Selbstloswerden der Seele und ein Zurücklassen des nüchternen Verstandes. Die Seele muss sich an ein Erleben hingeben.
Und so möchte ich mit einem Gedicht beginnen, das eine ganz andersartige Stimmung aufruft – nicht nur durch die Wortkraft ihrer Bedeutung nach, sondern auch durch die Magie des Klanges. Es stammt von einem der wirklichen Meister dieser Sprachmagie – von Conrad Ferdinand Meyer. Ich verdanke es einer kürzlichen Begegnung.
Schillers Bestattung
Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kargsten nicht, und kein Geleit!
Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht,
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war’s.
Würde man mit Hingabe jede Zeile laut, langsam genug und auch durchaus dramatisch sprechen, so würde sich schon in der ersten Zeile alles dasjenige in ein wirkliches Erleben heben, was mit den Worten gesagt wird. Der Klang der Laute würde den Inhalt der Worte in vollkommen übereinstimmender Weise begleiten. Man würde vom Klang umhüllt die zwei ärmlich düster brennenden Fackeln förmlich vor sich sehen, umpeitscht von Sturm und Regen, fortwährend fast verlöschend.
Und dann dieses geniale, unmittelbar im Lauterleben lebende: „Ein flatternd Bahrtuch...“. Die losen Zipfel hört man förmlich im Wind, spürt sie in nächster Nähe um einen herumschlagen. Dann: ein gemeiner Tannensarg. Die schlichteste Schlichtheit – gleich darauf gesteigert in das kalt-nackte vierfache K: „mit keinem Kranz“, „dem kargsten nicht“ – und kein Geleit! Dann der Frevel – alles gleicht einsamster Verachtung.
Und dann das Erstaunliche: eine Gestalt. Und nun der Wechsel zu dem Klang des Hehren, des Edlen, des Geheimnisvoll-Großen. Die „ei“-Laute, das „u“, das „ü“, das „w“, das „e“ – die ganzen letzten beiden Zeilen atmen einen vollkommen anderen Klang. Hehre ewige Ruhe. „...schritt dieser Bahre nach...“ Und wer war diese heilig-große Gestalt? Kein einziger Mensch, der Schillers Sarg begleitete, ihm die letzte Ehre gab. Doch mehr als das – der Menschheit Genius ... war’s.
Das Eintauchen in die Sprache kann keine schnelle Abhandlung, kein kurzer Ausflug sein. Es muss mit wirklicher Hingabe geschehen. Nur in dem Maße wird man ein Erlebnis haben. Dieses aber kann immer und immer tiefer werden, je tiefer die Hingabe wird...
Das „M“ – heilige Sanftheit
Das „M“ beginnt ganz und gar im Verborgenen, es kommt mitten aus dem heiligen Geheimnis – und es trägt das Geheimnis mit sich.
Das sanfte, weiche, liebliche „M“ liegt im „Meer“, im „Murmeln“, es liegt in dem weichen „Mund“. Und es ist kein Zufall, das der Mund beim Formen dieses weichen Lautes dieselbe Bewegung macht wie bei dem zärtlichen Kuss... Das „M“ lebt in der „Melodie“, im träumerischen „Mond“, in der „Milde“ – hier in heiligem Bunde mit dem ich-haften „I“ –, ebenso in der heiligen „Minne“. Mit „M“ beginnt der Name der heiligen Jungfrau: Maria.
Das „M“ liegt in dem frühen Morgen, der wie eine junge Verkündigung aus dem Mysterium der Nacht geboren wird. Es liegt aber auch in dem „morgen“, das noch im heiligen Schoß der Zukunft liegt. Das „M“ ist das erste Wort des kleinen Kindes: „Mama“. Es liegt in der „Mystik“, in der „Magie“, aber auch in der „Muse“. Es liegt in der „Melancholie“, im weichen „Moll“, im „Mysterium“. Das „M“ ist ein Mysterium. Es bezeichnet das tief Geheimnisvolle und das zugleich tief Vertraute, das Zarte, das Weiche, eine heilige Heimat.
Das „M“ ist wie geschaffen für das Mädchen. Zwar beginnt mit demselben Buchstaben auch der „Mann“ und auch der „Mensch“ überhaupt – aber beim „Mann“ läuft der Rest in dieses Starke, Stämmige aus – und der „Mensch“ ist in ganz anderer Weise geheimnisvoll, gar nicht zu vergleichen mit dem Mädchen...
Auf einer Seite mit Vornamen fand ich 88 Namen, die mit einem M begannen. 26 davon waren Jungennamen, 62 aber Namen für Mädchen... Sagt dies nicht schon alles? Um nur einige hier zum Erklingen zu bringen: Madeleine, Maja, Malve, Mareike, Marie, Marlene, Melissa, Merit, Mia, Mona, Muriel...
Mit dem „M“ verbunden ist eine heilige Sanftheit, die bis zu einer heiligen Hingabe geht.
Das „D“ – sanft aufhaltend...
Ein jedes Wort lebt nun in dem Übergang der Klänge untereinander. Es ist wie eine heilige Gemeinschaft, die die Laute miteinander haben – und zusammen, gemeinsam, bilden sie dann ein Ganzes. Die Melodie dieses einen Wortes. Bei dem Mädchen geht diese Melodie vom „M“ über zum weichen „d“. Mädchen...
Man kann das Geheimnis der Klänge, der Laute, nur erleben, wenn die Seele sich von ihnen wahrhaft gleichsam gestreichelt fühlt. Und es sind weiche Laute, die das Wort Mädchen bilden. Vom „M“ zum weichen „d“...
Was ist nun das Geheimnis des „d“? Jeder Laut führt in jedem Wort ein Eigenleben. Es ist nicht derselbe in einem anderen Wort. Man muss das Wesen des „d“ im Wort Mädchen empfinden. Hier, wo es eine heilige Verbindung mit dem „M“ eingeht, verbunden durch andere Laute, die mit diesen beiden eine einzigartige Gemeinschaft eingehen.
Mädchen... Die Empfindung eines Lautes innerhalb des Wortes ist viel schwieriger als die des ersten Buchstaben. Man muss schon eingetaucht sein – und dann langsam weitergehen, sich weiter führen lassen. Aber das Erleben muss schon da sein – und sich dann wandeln lassen, anders färben lassen, durch den anderen Buchstaben. Wir können das Geheimnis des „d“ in diesem einen Wort nur erleben, wenn wir bereits ganz in der Stimmung des „M“ eingetaucht sind. Diese aber war die der Sanftheit und Hingabe...
Der weiche, liebliche, sanfte Strom des „M“ wird sanft aufgehalten von dem „d“. Er wird nicht gebremst, nicht beendet, sondern sanft aufgehalten – um dann weiterzufließen. Zunächst muss man dies erleben: dieses sanfte Aufgehaltenwerden.
Auch das „d“ ist ein durch und durch sanfter Laut. Er entsteht, wenn die Zunge in zärtlicher Weise einer bestimmten Stelle der Zahnreihe begegnet, diese sanft berührend. Und dieses Geheimnis der sanften Begegnung liegt auch im „d“ selbst. Das Ur-Wort: Du...
Kann man nicht hier schon die ganze Zärtlichkeit des „d“ empfinden? Auf der einen Seite das heilige Ich, aber nun: Du... Heilige Begegnung. Zärtliche Begegnung...
Auf der Suche nach weiteren Worten, die etwas von dieser heiligen Qualität des „D“ in sich aufgenommen haben, kann man finden: die Demut ... das Dienen ... den Dank... Die zarte Begegnungsqualität lebt sogar in der „Linde“, dem Baum der Liebenden.
...in Unschuld und Anmut
Lässt man sich auf diesen heiligen Laut ganz ein, gibt man sich ihm tief hin, so kann man spüren, wie es der Laut einer reinen Unschuld ist. Und im Mädchen ist er es ganz – er ist ganz und gar reine Unschuld. Mädchen...
In dem alten Wort der „holden Maid“ hatte man nur diese beiden Laute: den Laut der aus dem Geheimnis kommenden Sanftheit schlechthin und den sanft endenden Laut einer holden Unschuld. Maid...
Und dieses sanfte Aufgehaltenwerden – kann man es nicht empfinden? Es enthält sogar ein Zweifaches. Es ist das Mädchen selbst, das in allem sanft innehält – heiligste Zurückhaltung, die dennoch Hingabe ist. Scheue Zuwendung, zu allem. Unschuldige Liebe, zu allem. Das Geheimnis dieser sanften Zurückhaltung des Mädchens liegt hier – in diesem einzigartig sanften „d“. Es ist, als wenn einem die Unschuld selbst in die Augen blickt, wenn das Mädchen seine Augen öffnet...
Wundervoll hat auch dies C. F. Meyer in einem Gedicht ausgedrückt:
So harrst du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffnest staunend deinen Blick.
Das Mädchen ist reine Unschuld, in seiner Seele und seinem Herzen lebt reine Unschuld – und diese offenbart sich auch in seinem Namen, ganz besonders aber in diesem sanften „d“.
Ebenso sanft hält das „d“ zurück, wenn man dem Mädchen begegnet. Das Mädchen selbst ist zurückhaltende Unschuld – und seine Unschuld hält auch in der Begegnung zurück. Das Geheimnis des Mädchens strömt von ihm aus, leuchtet sanft in seine ganze Umgebung – und wandelt diese ebenfalls. Das heilige „d“ leuchtet auch in die andere Seele – die, die dem Mädchen begegnet...
Dieses heilige Mysterium kommt tief in einem Gedicht von Morgenstern zum Ausdruck:
Erster Schnee
Aus silbergrauen Gründen tritt
ein schlankes Reh
im winterlichen Wald
und prüft vorsichtig Schritt für Schritt,
den reinen, kühlen, frischgefallenen Schnee.
Und deiner denk ich, zierlichste Gestalt.
Das Mädchen – reine Unschuld in seiner Gestalt und seinem ganzen Wesen, reine Unschuld, der man nur unschuldig begegnen kann. Das ist das Geheimnis des „d“. In der Unschuld des Mädchens liegt seine ganze Anmut. Diese Anmut ist das Zur-Erscheinung-Kommen seiner Unschuld – und hier, in dieser Offenbarung der Unschuld als Anmut, liegt das Geheimnis des „d“.
Das „-chen“
Das Enden des Wortes Mädchen... Es gilt in der deutschen Sprache als „Verkleinerungsform“, und diese Verkleinerung gilt als Abwertung. Aber kann man sich davon nicht einmal völlig freimachen?
Kann man sich nicht in ein unschuldig empfindendes Mädchen hineinversetzen – und mitempfinden, was es erlebt, wenn es etwa einem ebenso unschuldigen Tier begegnet? Etwa ... einem Häschen? Einem Eichhörnchen? Einem Vögelchen? Kann man nicht spüren, dass in dieser Silbe etwas unendlich Heiliges zum Ausdruck kommt?
In ihr liegt eigentlich vollkommen dieselbe Unschuld, wie sie überhaupt in dem Wort Mädchen liegt. Und erst durch sie wird das Mädchen wirklich so tief unschuldig. Auch die holde Maid ist vielleicht unschuldig – aber das Mädchen ist es ganz sicher.
In diesem „-chen“ liegt die ganze Schwachheit des Mädchens – in körperlicher Hinsicht. Zugleich aber liegt darin die volle Macht seiner Unschuld. Denn bezwingt nicht auch das Häschen unsere Seele ... durch unmittelbare Zuneigung?
Es scheint darin das sogenannte „Kindchenschema“ zur Wirkung zu kommen. Aber solche Erklärungen greifen viel zu kurz. Es ist nicht einfach nur ein angeborener „Beschützerinstinkt“. In der Seele lebt vielmehr eine tiefe, eine allertiefste Sehnsucht nach Unschuld. Nur deswegen ist Unschuld so berührend – aus keinem anderen Grund. Selbst der Vergewaltiger sucht die Unschuld – und er ist wahrlich nicht ihr Beschützer. Er will sie an sich reißen. Selbst hier spricht noch die Sehnsucht der Seele, nur zerstört sie gerade das, was sie unbewusst so liebt, natürlich hier neben dem Begehren nach dem unschuldigen Leib. Immer aber bleibt es dieses Geheimnis: Unschuld...
Wenn die Unschuld zu einer tiefen Berührung führen würde; wenn die Seele der Unschuld wirklich begegnen würde, von ihr erschüttert werdend, dann würde sich ereignen, was ich oben beschrieben habe; was Morgenstern beschrieben hat. Diese heilige Begegnungs-Qualität. Das Ur-Wort: Du...
Das Mysterium der tiefsten Wandlung durch die Begegnung mit der Unschuld beschrieb ich auch in „Der Drache und das Mädchen“ [o]. Dies aber liegt auch in dem sanften Enden des Wortes „Mädchen“. Niemand, kein Wesen auf Erden, kann unschuldiger sein als sie – das Mädchen... Es geht gerade darum, dass das Mädchen bereits bewusst ist, kein Kind mehr, es hat seine jugend-reinen Augen geöffnet, seine Seele erblüht wie eine Blume am Morgen – und trotzdem besitzt es diese erschütternde Unschuld. Es ist ... das Mädchen.
Magische Unschuld
Dass wir all dies nicht mehr empfinden können ... beweist unsere verlorene Unschuld. Das Mädchen besitzt diese in heiliger Tiefe, sie, die Unschuld, lebt in ihm, in seiner Seele – und wir haben sie verloren.
Wir würden sie wiederfinden können, wenn wir das Mädchen wiederfinden würden – sein Wesen und das Wesen dessen, was sein Wort ist, niemandes Anderen Wort: das Mädchen.
Wahrnehmung und Begriff verbinden sich zur Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann immer tiefer werden. Aber hierzu müssen sich Wahrnehmung und Begriff gegenseitig befruchten. Erst wenn sie eine heilige Hochzeit eingehen, wird die Wirklichkeit geboren. Eine heilige Wahrnehmung kann mich zu einem heiligen Begriff führen – und umgekehrt. In Wirklichkeit habe ich aber bei einer heiligen Wahrnehmung unmittelbar einen heiligen Begriff.
Würde es gelingen, die Wahrnehmung zutiefst zu reinigen, zu heiligen, zu läutern – man bräuchte nur seine Augen unschuldig zu öffnen und unschuldig zu blicken, wie das Mädchen selbst ... und es würde sich in dieser Wahrnehmung der mit ihr vermählte Begriff unweigerlich hinzufügen. Könnte ich mit heilig-unschuldig-wahrem Blick das Mädchen in seinem wahren Wesen erblicken – ich hätte in demselben Moment den Begriff seines Wesens, ich hätte sein Wesen lebendig begriffen, und das Begreifen hätte mich lebendig ergriffen.
Das Begreifen ist ein ergreifender Vorgang. Er ist es nur dann nicht, wenn er abstrakt bleibt, ein bloßer Prozess im Intellekt, der nichts begreift, weil er nie ergriffen wird. Darin liegt dann seine Freiheit, aber eben auch seine Abgelöstheit von aller Wirklichkeit, sein Herausgefallensein. Der abstrakte Intellekt lebt nicht in der Wirklichkeit, er lebt außerhalb von ihr. Und das ist das Grandiose von Novalis’ magischem Idealismus, dass er wieder in die Wirklichkeit hineinführt, weil er den Intellekt von seiner Abstraktheit heilt. Und was wird dieser Intellekt dann? Er wird heilige Intelligenz, heilige Weisheit, die in einem fortwährenden heiligen, erschütternden Erkennen lebt.
Die Magie von Novalis führt dazu, den Bann, den die Gegenmächte auf alles gelegt haben, wieder zu entzaubern. Und was dann aufersteht, ist die magische Wirklichkeit. Eine ewig junge, leuchtende, zauberhafte Wirklichkeit.
Das Mädchen aber ist der Inbegriff der Magie überhaupt. Sein Ursprung liegt im indogermanischen „magu“, woraus dann das althochdeutsche „magad“ wird (die Jungfrau, wie Maria von sich selbst sagt: Siehe, ich bin des Herrn Magd). „Magu“ aber bedeutet jung. Die Magie des Mädchens ist seine Jugend – aber diese erstreckt sich auf alles. Einstein sagte einmal: „Jugend ist nicht ein Lebensabschnitt – sie ist ein Geisteszustand“. Das Geheimnis der Jugend des Mädchens ist seine Unschuld. Diese Unschuld ist das Geheimnis seiner Jugend, das Geheimnis seines ganzen Namens: Mädchen.
Das in der weiteren Wandlung des Wortes ins Unsichtbare gesunkene „g“ enthält ein weiteres Geheimnis dieser Jugend: das zukünftige Gebärenkönnen. „G“ ist der Laut der Schöpfung, der Genesis. Es ist das Gebärdende schlechthin. Und so lebt es auch im griechischen Wort der Frau: „gyn-“. Hier gibt es zusammen mit dem den weiblichen Schoß erleben lassenden dunklen „y“ den ganzen Klang. Im Mädchen aber lebt es verborgen. Im althochdeutschen „magad“ ist es noch vorhanden – begleitet und eingehüllt von dem zweifachen Laut reinster Verwunderung und Unschuld, dem reinen „a“. Das Mädchen kommt aus dem Mysterium („m“), es erwacht in reiner Unschuld („a“), und es kann gebären („g“) und sanft begegnen („d“) – aber alles eingehüllt von Unschuld. Siehe – das Mädchen...
Das Mädchen ist eine heilige Magierin – in jeder Hinsicht.
Verkehrungen
Würden wir uns vom Wesen des Mädchens berühren lassen können, so würde seine Magie auf uns übergehen können – sie würde zu wirken beginnen. Das heilige Wesen des Mädchens würde auch unsere Seele aus ihrem Bann erlösen können – jenem Bann aus Schuld und Nüchternheit, aus Abstraktheit und Blindheit.
Die Magie des Mädchens würde auch uns in ein heiliges Erleben führen. Es würde uns an die Hand nehmen und uns hineinführen in die Magie – so zum Beispiel auch in die Magie der Klänge. Bis ins Innerste würde es uns zeigen, was jeder Laut und was jede ihrer Verbindungen bedeutet. Es würde uns sanft untertauchen in ein Erleben, es würde uns mit dem Wasser der Wirklichkeit taufen.
Und dieses heilige Reich ist überhaupt nicht fern, es ist nur wie durch einen Hauch von der äußeren (Un-)Wirklichkeit getrennt. Alles, was die Seele braucht, ist wahre Hingabe – mit der sie wieder zu einer ersten Unschuld finden könnte. Mit der sie wieder beginnen könnte, in ein reales, immer tieferes Erleben einzutauchen.
Wir wollen hier noch eines zu erleben versuchen, was uns zeigen kann, wie wenig beliebig auch nur die Reihenfolge der Laute in einem Wort ist. Jeder einzelne Laut hat selbst in seiner Stellung eine heilige Bedeutung. Und diese Entdeckung kann unsere Seele mit einer ganz neuen Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Sprache durchdringen. Ihrer Heiligkeit und ihrer Unschuld, mit der sie so erschütternd offenbart, was sie zu offenbaren hat.
Um dies zu erleben, müssen wir uns aber bereits zuvor mit Ernst durchdringen. Denn das ist wesentlich für alles, was mit dem Heiligen in Berührung kommt. Das Heilige kann nur erfahren, wer sich dafür würdig macht und wer seine Seele dafür bereitet. Dem Unwürdigen wird sich das Heilige entziehen wie der Regenbogen. Wir aber wollen dem Heiligen jetzt begegnen. Und dafür müssen wir uns tief bewusst machen, dass das, was jetzt folgt, keine bloße Spielerei ist, sondern eine Betrachtung, die einen erschüttern kann.
Das Mädchen... Wenn wir jetzt zwei seiner Laute verändern, werden wir etwas anderes bekommen. Es wird nicht mehr das Mädchen sein – aber was dann? Vertauschen wir die zwei zuerst erlebten Laute miteinander. Wir haben dann auf einmal ... das Dämchen. Und jetzt erleben wir dies...
Hier verkehrt sich alles. Es wird alles in eine unglaubliche, furchtbare Verkehrung geführt – wirklich in das Gegenteil des Mädchens, nur durch diese „kleine“ Verdrehung. Das Dämchen ist in vollem Wortsinne eine Karikatur. Das Dämchen ist eine kleine Dame, ein bereits „Dame“ sein wollendes Geschöpf, das eitel groß und vornehm tut, obwohl es sich damit nur lächerlich macht. Und wie spiegelt sich dies im Wort außerdem wieder? Indem das „D“ nach vorne gerückt ist und den „Ton angibt“. Jetzt drückt sich dadurch die fehlgeleitete Bewusstwerdung aus. Die Begegnungsqualität des „d“ ist ganz zu einem eingebildeten Stolz geworden – das „D“ begegnet sich eigentlich nur selbst, indem es stolz in der Welt umherstolziert, vielleicht kokettiert, und so seine Unschuld gegen eingebildetes Gehabe verschleudert. Das geheimnisvolle „m“ ist in die Mitte gerückt, hinter das „D“ – und offenbart hier im Grunde nur noch, dass diese Eingebildetheit in Wirklichkeit in ein Nichts versinkt... Wodurch sich dann die ganze Kleinheit offenbart: „-chen“.
Ein größerer Gegensatz ist wirklich nicht denkbar, und man sollte all dies hier nur kurz Angedeutete in der Seele eigenständig und in wirklicher Ruhe durchleben und die Seele durch solche Entdeckungen wirklich erschüttern lassen. Das Dämchen ist eine traurige, zumindest aber bloß niedliche Karikatur. Das Mädchen ist eine heilige Gestalt, eine Offenbarung reiner Unschuld und Sanftheit, eine Magierin...
Das Wesen der Vokale
Zum Ende nun wollen wir uns noch dem Vokal zuwenden, den wir im Gang unseres Erlebens bisher ausgelassen haben.
Im Grunde sind es gerade die Vokale, die den Worten ihre ganze seelische Färbung geben, ihren wirklichen Klang – zumindest ist es gerade ihr ganzer Klang, der mehr in das Bewusstsein tritt. Die Vokale sind gleichsam die Seele der Worte.
Und was haben wir nun im Mädchen? Etwas sehr Seltsames – einen Umlaut! Es heißt eben nicht „Mad-“, es heißt auch nicht „Med-“, nicht „Mid-“, nicht „Mod-“, nicht „Mud-“. All dies würde das ganze Erleben vollkommen verändern. Warum? Weil es dem Wort eine ganz andere Seele geben würde. Es wäre nicht mehr dasselbe Wort, es wäre ein völlig anderes. Ein jedes Wort kann nur seine Seele haben.
Durch Rudolf Steiner und durch die Eurythmie wissen wir etwas über das Wesen der Klänge, er hat bewusst gemacht, was die Seele fortwährend unbewusst erlebt – und was bis auf das Ätherische wirkt, noch feiner sogar bis auf das Physische. So ist das „A“ der Laut reiner, unschuldiger Verwunderung, der Laut staunender Hingabe. Parzival... Maria... „Siehe, ich bin des Herrn Magd.“ Hier haben wir das reine „A“ – reine Hingabe.
Im „E“ lebt dagegen die Bewegung des Sich-Kreuzens, wodurch Bewusstsein entsteht. Alles Sehen entsteht durch ein Sich-Kreuzen der Blickachsen, wodurch erst die räumliche Realität entsteht. Zugleich ist alles Sehen Begegnung – und oft auch ein Gesehen-Werden. Überall Bewusstsein. Dies kann auch bis zur Antipathie gehen, bis zur Abwehr, ja, bis zum Ekel. „E“ bis ins Negative hinein...
Das „I“ offenbart die Qualität des Ich. In seiner höchsten Qualität ist es die Liebe – nicht bloß seelisch, sondern ich-haft geistig. Zugleich aber ist das Ich der Mittelpunkt der Seele. Worauf es hier ankommt, ist, dass diese Liebe nichts Egoistisches hat, aber auch nicht nur von seelischen Wallungen oder unbewussten Sympathien gebildet ist, sondern von einem heiligsten „Ort“, einer heiligsten Instanz aus. Siehe – das Ich.
Das „O“ ist das Umhüllende. Es lebt etwa in Worten wie „umsorgen“, „liebkosen“, aber auch „Wohnung geben“. Und wiederum in dem „Morgen“, sowohl dem frühen als auch dem noch zukünftigen, beide bergen etwas, und dieses ist noch fast oder ganz unsichtbar darin geborgen. Dieses Bergende kann man auch im Wort „Rose“ ahnen. Oder auch im „Born“, einem alten Wort für Quelle.
Das „U“ hat etwas noch tiefer und geheimnisvoller Bergendes. Es liegt im „Dunkeln“. Und man kann es wiederfinden im „Wunder“ – aber auch im „Mut“. Wenn es nicht Übermut, sondern heiliger Mut ist, dringt auch dieser aus heiligen Tiefen herauf... Man findet das „u“ in der „Geburt“, in der „Furcht“, auch in der „Wut“. Es lebt in der „Kunst“, in der „Suche“, in der „Sehnsucht“. Es lebt in der „Schuld“, aber dann auch in dem heiligen Begriff des „Guten“ – zusammen mit dem gebärenden „G“...
In dem im Deutschen so einzigartigen Wort „Gemüt“ wandelt sich das „U“ zum Umlaut. Und hier begegnen wir bereits dem Geheimnis der Umlaute – in ihnen verbinden sich die Qualitäten, und es entsteht etwas Neues. Im Gemüt verbindet sich das „U“ mit dem seelenvollen „E“ – und das geheimnisvolle „U“ bekommt selbst Seele: Gemüt...
Der Seele Geheimnis
Oft spricht man das Wort „Mädchen“ gar nicht richtig – sondern das „ä“ wird wie ein bloßes „e“ gesprochen: „Medchen“. Dadurch wird das Mädchen wirklich verkleinert – dann ist es noch bloßes Kind. Wird es so gesprochen, verliert das Wort seine ganze Seele. Denn die Seele dieses Wortes liegt gerade in dem Umlaut.
Im althochdeutschen „magad“ hatte es diesen Umlaut noch nicht, aber da lautete es eben auch sonst noch ganz anders. Nun aber hat es diesen Umlaut – und wir können es vergleichen mit der „Magd“. Maria sagt: „Siehe, ich bin des Herrn Magd“. Das Mädchen aber heißt „Mädchen“, nicht Magd. Es ist nicht bloß reine Hingabe – es ist noch etwas anderes.
Wir können es im inneren Erleben auch mit der „Maid“ vergleichen. Die holde Maid gleicht ebenfalls schon mehr der Jungfrau. Und in ihrem Wort verbindet sich das reine Staunen („a“) mit dem aufklingenden ichhaften „i“. Es hat viel, viel Ähnlichkeit mit dem Mädchen – es ist im Grunde dasselbe, aber lautlich ist das Mädchen dennoch anders. Dies alles sind Übergänge, und diese Übergänge sind fortwährend lebendig. Die „Maid“ kann neunzehn, zwanzig Jahre alt sein, oder aber erst fünfzehn, vierzehn...
Und worin unterscheidet sich nun das Mädchen? Im Grunde müssen wir wiederum erst in das Erleben der übrigen Laute eintauchen, bevor wir die Seele des ganzen Wortes wirklich erfassen können. Wiederum eintauchen in das Sanfte des „M“, das vollkommen Unschuldige des „d“, in das heilig-unschuldig Ausklingende des „-chen“. Und nun auch den einzigartigen Klang erleben, der diesem einen, einzigartigen Wort seine Seele gibt. Mädchen...
Und wir müssen diesen Klang dann völlig freihalten von seiner Verkehrung, die er auch haben kann, etwa als Laut des Ekels („bäh“) oder als von uns abgewertetes Blöken der Schafe („mäh“). In diesem heiligen Wort muss auch dieser Klang in reiner Unschuld erlebt werden – und alles andere Erleben muss völlig abgelegt werden. Erst dann offenbart er seine wahre Seele.
Es ist ein Klang, der in einer heiligen Vermählung zwei Klänge miteinander verbindet. Das eine ist noch immer das reine „A“. Hier liegt neben dem „M“ die ganze Hingabe des Mädchens verborgen. Aber das „A“ wird gleichsam abgeschwächt, verborgen, zugleich ins Innere gewendet. Es offenbart sich zugleich die unschuldig dahinter stehende Seele. Das reine „A“ wendet sich zum „E“, es tritt in heiliger Gemeinsamkeit mit dem E in die Offenbarung. Es offenbart sich Hingabe und scheue Seele. Vollkommene Offenheit und zugleich vollkommene Zurückhaltendheit.
Das Mädchen ist beides – erschütternde Aufrichtigkeit und erschütternd scheue Unschuld. Und dies, gerade dies kommt zum Ausdruck in jenem einzigartigen Laut, der das „M“ der Sanftheit mit dem „d“ der Unschuld verbindet und beide erklingen lässt. Siehe – das Mädchen... Sanfte Unschuld, unschuldige Sanftheit, verbunden mit einem heiligen, reinen, scheuen Willen zum Guten.
Dies alles ist das heilige Geheimnis des Mädchens und seines Namens...