04.02.2018

Novalis und das Geheimnis des Mädchens

Vertiefung in ein Mysterium.


In den berühmten „Fragmenten“ von Novalis gibt es einen Abschnitt, der überschrieben ist mit „Sophie, oder über die Frauen“. In seinen Fragmenten hat der Dichter des magischen Idealismus tiefe Gedanken notiert, die oftmals wie Samen sind und ihren Inhalt nicht ohne weiteres preisgeben. Ich möchte hier einige davon wiedergeben und weitere Besinnungen dazu anschließen.

Novalis schrieb „Sophie, oder über die Frauen“. Aber man sollte sich hierbei bewusst machen, dass es um das Wesen des Weiblichen geht, denn Sophie war ein Mädchen. Der 22-jährige Novalis begegnete ihr, als sie zwölf Jahre alt war. Zwei Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag verlobte er sich mit ihr – und zwei Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag starb sie. Sie wurde sein Genius, und nach ihrem Tod schrieb Novalis seine berühmten Werke. Er selbst starb dann fast genau vier Jahre nach ihrem Tod.

Friedrich von Hardenberg wurde durch ein Schicksalsereignis zu Novalis – durch die Liebe zu einem Mädchen.

Im folgenden stehen seine Fragmente durch Rahmen hervorgehoben. In meinen Betrachtungen knüpfe ich dann jeweils an.


Es geht mit der Liebe wie mit der Überzeugung – wie viele glauben überzeugt zu sein und sind es nicht. Nur vom Wahren kann man wahrhaft überzeugt sein – nur das Liebe kann man wahrhaft lieben.

Das Mädchen aber kann sich allem mit seiner eigenen Liebe zuwenden. Seine unschuldige und aufrichtige Zuneigung strahlt auf alles aus – sogar auf die ,toten’ Gegenstände. Selbst die Dinge werden lieb, weil sie vom Mädchen geliebt werden. Was das Mädchen liebt, das wird dem Mann allein schon deshalb lieb. Er kann die Dinge nicht so lieben wie das Mädchen – aber er lernt es von ihm. Das Mädchen selbst ist das Ur-Liebe. Es kann nicht wahrhaft nicht geliebt werden.


Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hilflosen Zustande, um zu lieben und andern verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung andrer fähig, und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur andre helfen.

Das offenbare Geheimnis des Herzens ist die Liebe. Seine Krankheit ist der Mangel an Liebe. Seine Heilerin ist das Mädchen – der unschuldigste Engel Christi. Das Mädchen lehrt die Liebe, indem es sie unweigerlich hervorruft. Zugleich ist es das heilige Vorbild – in unschuldigster Nachfolge Christi. Das Mädchen ist langmütig und freundlich. Es sucht nicht das Seine, es lässt sich nicht erbittern. Es leidet an der Ungerechtigkeit und freut sich an der Wahrheit. Das Mädchen erträgt alles, es verzeiht alles, es glaubt alles, es hofft alles.

Wäre das menschliche Herz vollkommen, bräuchte es nicht geheilt zu werden – und wäre keiner fremden Einwirkung fähig. Weil das Herz aber krank ist, kann es vom Wesen des Mädchens so sehr berührt werden – und sich von ihm helfen lassen. Jenes Herz aber, das nicht einmal mehr vom Mädchen berührt wird, ist krank bis zum Tode. Es ist unheilbar, weil es die Liebe nicht mehr kennt. Hilfloser als der Liebende ist der Lieblose. Wer nicht spüren kann, was das Mädchen heilen könnte, kennt das Mädchen noch nicht.


Die Liebe hat von jeher Romane gespielt, oder die Kunst zu lieben ist immer romantisch gewesen.

Romantik darf nicht mit Illusion verwechselt werden – sie ist gerade das Gegenteil. Das Unromantische ist eine Illusion. Romantik ist das Durchdringen zur Wirklichkeit. Magischer Idealismus.


Alles fordert von den Frauen unbedingte Liebe zum ersten besten Gegenstande. Welche hohe Meinung von der freien Gewalt und Selbstschöpfungskraft ihres Geistes setzt dies nicht voraus.

Es gibt zwei Arten von Liebe. Die impulsive Sympathie ist bloße Neigung und so Gegenstand des Subjekts. Höhere Liebe ist immer frei. Sie ist daher wahre Liebe. Wahrer Wille der Seele – nicht Neigung, sondern Entscheidung. Das Mädchen kennt keine Neigung, sondern allein Zuneigung. Sie aber richtet es auf alles – weil es das will. Die Zuneigung des Mädchens ist seine freie Liebe, ihr Ursprung ist sein reines Herz. Nur das Böse kann seine Zuneigung schwächen.


Sollte nicht für die Superiorität der Frauen der Umstand sprechen, daß die Extreme ihrer Bildung viel frappanter sind als die unsrigen? Der verworfenste Kerl ist vom trefflichsten Mann nicht so verschieden, als das elende Weibsstück von einer edlen Frau. [...] Haben sie nicht die Ähnlichkeit mit dem Unendlichen, daß sie sich nicht quadrieren, sondern nur durch Annäherung finden lassen? [...] Würden wir sie auch lieben, wenn dies nicht so wäre? Mit den Frauen ist die Liebe und mit der Liebe die Frauen entstanden, und darum versteht man keins ohne das andre.

Victor Hugo schrieb: „Der Mann steht, wo die Erde endet, die Frau, wo der Himmel beginnt.“ Und: „Der Mann ist ein Genie, die Frau ein Engel.“

Die Erde und selbst das Genie sind endlich. Unendlich ist nur der Genius – und der Engel. Was sollte der Mann lieben, wenn es die Frau nicht gäbe? Was aber liebt er an der Frau? Das, was er nicht hat – dieses Unendliche. Die Sanftheit, die Unschuld, die unschuldige und reine Liebe zum Guten. Der Mann liebt das, was er nicht hat, was aber sein krankes Herz heilen kann. Er liebt das Mädchen – weil sie die Heilerin ist. Magierin des Guten. Das Mädchen holt die Unschuld aus einer Unendlichkeit in die andere. Vergangenheit und Zukunft. Jede Heilung ist Annäherung.


Sie sind ein liebliches Geheimnis – nur verhüllt, nicht verschlossen. Auf ähnliche Weise reizen die philosophischen Mysterien.

Das Mädchen ist das Ur-Liebe – und die Liebe das letzte Ziel aller Mysterien. Alle Erkenntnis ist tönernes Erz ohne die Liebe. Das Mädchen hat Liebe bereits ohne alle bewusste Erkenntnis. In seinem Herzen aber lebt der Himmel. Würde man nicht alle Geheimnisse des Himmels enträtseln, kennte man das Herz eines Mädchens ganz?


Frauen und Liebe trennt nur der Verstand.

Das Mädchen ist die Trägerin unschuldigster Liebe – darum erweckt es sie unweigerlich. Das Mädchen ohne das Wesen der Liebe ist undenkbar. Lieblose Mädchen sind keine Mädchen mehr.


Das schöne Geheimnis der Jungfrau, das sie eben so unaussprechlich anziehend macht, ist das Vorgefühl der Mutterschaft, die Ahndung einer künftigen Welt, die in ihr schlummert und sich aus ihr entwickeln soll. Sie ist das treffendste Ebenbild der Zukunft.

Der Mann zeugt, die Frau gebärt. Sie ist die Hüterin des Lebens – der Mann oft der Zerstörer. Das Mädchen ist die unschuldige Blüte. Warum liebt der Mensch Blüten mehr als Früchte? Wegen ihrer Schönheit. Die Blüte aber ist nicht steril – sie trägt ein heiliges Geheimnis noch ganz verborgen in sich.

Das Anziehende am Mädchen ist aber nicht nur seine künftige Mutterschaft, seine Gebärfähigkeit, sondern seine Unschuld. Künftige Mutterschaft ohne Unschuld ist nicht anziehend, sei es noch leiblich verführend. Was das Mädchen so unaussprechlich anziehend macht, ist das heilige Geheimnis der Unschuld. Die Unschuld des Leibes als Sonderfall von Unschuld überhaupt. Unschuld als Leuchten des Leibes und der Seele. Dieses Leuchten als Geheimnis der Schönheit. Vollkommene Schönheit als Übereinstimmung von Seele und Leib. Schönheit als Phänomen der Unschuld.


Die Frauen haben vorzüglich eine idealisierende Physiognomie. Sie vermögen die Empfindungen nicht bloß wahr, sondern auch reizend und schön, idealisch auszudrücken.

Die Unschuld des Mädchens als das Ur-Idealische überhaupt. Aufrichtigkeit und Scheu als Aspekte der Unschuld. Der Reiz als das Berührende der Unschuld – die Wunde des eigenen kranken Herzens berührend. Heilung durch Reizung, Erwecken der Liebe.


Moralische Psychologie. Der Busen ist die in Geheimnisstand erhobne Brust – die moralisierte Brust. Fernere Bemerkungen dieser Art. So z. B. ist ein gestorbner Mensch ein in absoluten Geheimniszustand erhobener Mensch.

Das unantastbare Heilige als Geheimnis – nur zu erreichen durch Moral, nicht durch die Sinne. Der Busen als Begriff der durchseelten Brust, als das Geheimnis des Herzens bergendes Heiligtum. Die Brust des Mädchens als heiligster Ort des ganzen Kosmos. Absoluter Geheimnisstand, erst erfassbar durch die tiefe Moral der Mysterien.


Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. [...] Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet. [...] Religiosität der Physiognomik. Heilige, unerschöpfliche Hieroglyphe jeder Menschengestalt. Schwierigkeit, Menschen wahrhaft zu sehn.

Verfall der griechischen und der menschlichen Tempel. Schwierigkeit, bis in den Leib hinein moralisch zu empfinden. Das Mädchen als Einheit von Leib und Moralität. Der Mädchenleib als Offenbarung des unschuldigen Herzens. Weichheit seiner Gestalt und Sanftheit der Liebe. Anmut als flüssiger Tempel, heilige Seele des Mädchens.


Setzt man das Böse der Tugend entgegen, so tut man ihm zu viel Ehre an. [...] Es gibt einen wesentlichen Bestandteil der Tugend. – Alle Tugend ist nur eine. Verschiedne Tugenden entstehn aus der Tugend in mancherlei Verhältnissen.

Die Tugend als lebendige Liebe zum Guten. Das Mädchen als lebendiges Ur-Wesen dieser Liebe – nicht Trägerin der Tugenden, sondern ihre lieblich sprudelnde Quelle. Das Böse nicht als Gegensatz dazu, sondern als tiefste Krankheit. Das Böse verzehrt sich in seiner Sehnsucht nach dem Guten. Jede Gewalt gegenüber dem Mädchen als verirrte Sehnsucht. Das Böse hasst die Tugend nur, weil es sie eigentlich liebt. Fehlende Kraft zur Katharsis.


Veredlung der Leidenschaft – durch Anwendung derselben als Mittel, durch freiwillige Beibehaltung derselben, als Vehikels einer schönen Idee, z. B. eines innigen Verhältnisses mit einem geliebten Ich.

Die Liebe als Ziel der Erde. Liebe ohne Leidenschaft als Versäumen des Wahren. Die Talente des Evangeliums. Leidenschaft als Feuer der zum Stern werdenden Erde. Prometheus. Vermählung des Persönlichen und des Ewigen. Der Mensch mehr als der Engel. Das Mädchen als Führerin. Die Leidenschaft des Mädchens rein wie ein Kristall. Nicht Neigung, sondern Zuneigung. Erdenliebe mit dem Himmel im Herzen. Der Himmel blickt durch die Augen des Mädchens – und begreift die Heiligkeit der Erde. Das Mädchen blickt mit den Augen Christi – aber als Mädchen.


Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlichern Nebenbuhler als das Ideal der höchsten Stärke – des kräftigsten Lebens – was man auch das Ideal der ästhetischen Größe, im Grunde sehr richtig, der Meinung nach aber sehr falsch, benannt hat. – Es ist das Maximum des Barbaren – und hat leider in diesen Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größesten Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten.

Verherrlichung der Stärke als Anti-Religion. Notwendiger Verlust des Sittlichen, Harren auf eine Neugeburt. Das Mädchen als reines Zukunftswesen. Sittlichkeit als unmittelbares Leben. Liebe zum Guten als Atemluft der Seele. Voller Gegensatz des Barbaren und des Mädchens. Die absolute Schwäche und der Verzicht auf jede Durchsetzung als das heilige Geheimnis. Christus und das Mädchen. Das Mädchen als geborenes Opfer – Christus als göttliches Opfer. Das kosmische Lamm und das treu ihm folgende Lamm. Das Mädchen als wahre Braut Christi.


Echte Unschuld geht, so wenig wie echtes Leben, verloren. Die gewöhnliche Unschuld ist nur einmal wie der Mensch da und kommt so wenig wieder als er. Wer, wie die Götter, Erstlinge liebt, wird nie an der zweiten Unschuld den Geschmack finden wie an der ersten, ohngeachtet die letztere mehr ist wie die erste. Manches kann nur einmal erscheinen, weil das Einmal zu seinem Wesen gehört. Unser Leben ist absolut und abhängig zugleich. Wir sterben nur gewissermaßen.

Das Mädchen als heilige Trägerin der wahren Unschuld – ewig, unverlierbar. Künderin der wahren Menschenwürde. Prophetin des ewigen Lebens. Das Mädchen als Erstling der zweiten Schöpfung.


Unschuld und Unwissenheit sind Schwestern. Es gibt aber edle und gemeine Schwestern. Die gemeine Unschuld und Unwissenheit sind sterblich – Es sind hübsche Gesichterchen – aber ohne alle Bedeutung und nicht dauerhaft. Die edlen Schwestern sind unsterblich – Ihre hohe Gestalt ist unveränderlich – und ewig leuchtet ihr Antlitz vom Tage des Paradieses. Beide wohnen im Himmel und besuchen nur die edelsten und geprüftesten Menschen.

Das gewöhnliche Mädchen als vergängliche Naivität. Das eigentliche Mädchen als ewige Unschuld. Ewige Unwissenheit – Abwesenheit von allem Urteilen. Heilige Vorsicht bei allem. Scheue Zuneigung – und heilige Unsicherheit. Phönixflug ohne Boden unter den Füßen. Reines Vertrauen. Glaube statt Wissen. Die Welt als Religion des Mädchens. Das Mädchen weiß am meisten und am wenigsten.


Verwandtschaft von Dank und Mitleiden.

Das heilige Geheimnis des Selbstloswerdens als ihr gemeinsamer Ursprung. Das Mädchen will nichts für sich – deswegen kann es für alles dankbar sein und mit allem mitleiden. Beides in tiefster Aufrichtigkeit. Freude und Traurigkeit im Mädchen beide von heiliger Tiefe.


Die Moral ist recht verstanden das eigentliche Lebenselement des Menschen. Sie ist innig eins mit der Gottesfurcht. Unser reiner sittlicher Wille ist Gottes Wille.

Abwesenheit des Moralischen als Abwesenheit des Menschlichen. Grundlage der Freiheit. Negative Freiheit als Vorstufe zur positiven Freiheit, die Seele wieder mit der heiligen Moral zu vereinigen. Daher Mensch werdend. Der Mensch darf die Gottesfurcht wieder finden. Dann aber wird sie zugleich Gottesliebe. Die Liebe als tiefster Wille Gottes.

Das Mädchen als heiligster Engel Gottes. Verlorene Legende – Luzifer als Bruder Christi, das Mädchen als kleine Schwester Christi. Das kleine Opfer – Therese von Lisieux. Treu bis in den Tod – treu schon im Leben. Vollkommenes Licht im Herzen. Heiliges Mysterium der Unschuld. Die Unschuld als Liebe Gottes zum Mädchen. Hüterin mit Christus. „Wenn alle untreu werden...“


Alle Bezauberung geschieht durch partielle Identifikation mit dem Bezauberten – den ich so zwingen kann, eine Sache so zu sehn, zu glauben, zu fühlen, wie ich will. [...] Alle Bezauberung ist ein künstlich erregter Wahnsinn. Alle Leidenschaft ist eine Bezauberung. Ein reizendes Mädchen eine reellere Zauberin, als man glaubt.

Jedes reizende Mädchen bezaubert. Das wirkliche Mädchen aber ist zugleich die Heilerin des „heiligen Wahnsinns“, denn es bezaubert mit seiner Unschuld. Die Unschuld aber zwingt nur, weil das Herz eine unbezwingbare Sehnsucht nach Heilung hat. Sie zwingt die Seele zu ihrem eigenen Glück. Aber sie zwingt nicht – sie berührt nur und lässt dennoch frei. Das Mädchen zwingt niemanden – es ist selbst gezwungen, zu berühren, weil das Schöne das weniger Schöne immer berührt. Der Eros der Unschuld des Mädchens. Plato und Diotima. Sehnsucht, so zu fühlen wie das Mädchen. Bezauberung als Heilung. Leidenschaft als Leiden an der verlorenen Unschuld. Bezauberung des Mädchens wird Liebe zur Läuterung, um ihm näher zu sein. Geheimnis der Identifikation.


Jede unrechte Handlung, jede unwürdige Empfindung ist eine Untreue gegen die Geliebte – ein Ehebruch.

Die Liebe zum Mädchen als Treue gegenüber seiner Unschuld. Jede gewöhnliche Empfindung und Handlung als Untreue gegenüber dem Mädchen – Unwahrhaftigkeit der Liebe. Mangelnder Ernst. Verlust der Bezauberung. Bloßes Spiel. Ernst der Liebe – Berührung durch das Wesen des Mädchens in jedem Moment. Völlige Wandlung. Treue als Identifikation und innere Nähe. Braut und Bräutigam. Bereiten der Seele, damit das Mädchen eintreten kann.


Die Ehe ist das höchste Geheimnis. Die Ehe ist bei uns ein popularisiertes Geheimnis. Schlimm, daß bei uns nur die Wahl zwischen Ehe und Einsamkeit ist. Die Extreme sind es – aber wie wenig Menschen sind einer eigentlichen Ehe fähig – wie wenig können auch Einsamkeit ertragen. – Es gibt Verbindungen aller Art. Eine unendliche Verbindung ist die Ehe. – Ist die Frau der Zweck des Mannes und ist die Frau ohne Zweck?

Gegensatz von gewöhnlich und heilig. Nur das Heilige als Unendliches. Das Mädchen trägt den Himmel im Herzen – seiner Verbindung würdig ist nur die tiefste Treue. Popularisiert ist, das Mädchen reizvoll zu finden. Das höchste Geheimnis: sich in tiefster innerer Berührung von dem Mädchen heilen zu lassen. Kommunion mit seinem Wesen. Das Mädchen als heilige Oblate Christi. Von Gott selbst in die Welt hineingeopfert, um wie er und mit ihm die Seelen zu wandeln.


Das gewöhnliche Leben ist ein Priesterdienst, fast wie der vestalische. Wir sind mit nichts als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt – einer doppelten, wie es scheint. Es hängt von uns ab, wie wir sie pflegen und warten. Sollte die Art ihrer Pflege vielleicht der Maßstab unserer Treue, Liebe und Sorgfalt für das Höchste, der Charakter unsers Wesens sein?

Der heilige Priesterdienst: Evangelium, Opferung, Wandlung, Kommunion. Die heilige Flamme – unaussprechlich. Alles hängt von uns ab, und wir sollen Hüter der Flamme werden. Das Mädchen aber ist schon Priesterin. Sie ist eine unaussprechlich heilige Hüterin der heiligen Flamme. Vom Mädchen lernen, was Priestertum heißt.


Wenn man eins zu lieben versteht – so versteht man auch alles zu lieben am besten.
Kunst, alles in Sophien zu verwandeln – oder umgekehrt.

Die Liebe ist unteilbar. An dem Punkt, wo sie wahrhaft entspringt, ist sie geboren. Das Mädchen liebt alles, weil es an jedem Punkt ansetzen kann – es trägt die Liebe schon im Herzen. Ungeteilt ist seine Zuneigung in jedem Moment vollkommen aufrichtig. Das Mädchen als Lehrerin der Liebe. Liebe als Frucht der Unschuld. Die Schönheit der Unschuld als Blüte.

Die Kunst, alles auf das Mädchen zu beziehen und mit dem Mädchen auf alles zu schauen. Wie würde das Mädchen schauen? Was würde in seinem Herzen leben? Heiligste Unschuld, die zugleich vollkommen freilässt. Heiligstes Vorbild – unerreichbar und doch magisch in jedem Moment in heiliger Sanftheit bei einem. Gerade die  Unschuld lässt frei. Die Unschuld zwingt nicht, sie berührt und erhebt, sie heilt und veredelt. Sie entzündet und entfacht die heilige Flamme. Die Unschuld selbst ist die vestalische Priesterin in der Seele des Mädchens. Aber das Mädchen ist eins mit ihr.


Jede künstliche Gestalt – jeder erfundene Charakter hat mehr oder weniger Leben – und Ansprüche und Hoffnungen des Lebens. Die Galerien sind Schlafkammern der zukünftigen Welt. – Der Historiker, der Philosoph und der Künstler der zukünftigen Welt ist hier einheimisch – er bildet sich hier und er lebt für diese Welt. Wer unglücklich in der jetzigen Welt ist, wer nicht findet, was er sucht – der gehe in die Bücher- und Künstlerwelt – in die Natur – diese ewige Antike und Moderne zugleich – und lebe in dieser Ecclesia pressa der bessern Welt. Eine Geliebte und einen Freund – ein Vaterland und einen Gott findet er hier gewiß. – Sie schlummern, aber weissagenden, vielbedeutenden Schlummer. Einst kommt die Zeit, wo jeder Eingeweihte der bessern Welt, wie Pygmalion, seine um sich geschaffne und versammelte Welt, mit der Glorie einer höhern Morgenröte, erwachen und seine lange Treue und Liebe erwidern sieht.

Das Mädchen als Brücke zwischen dem heiligen Zustand vor dem Paradies und dem Zeitalter der Philadelphia. Wer das Mädchen nicht als übersinnliche Wirklichkeit findet, der findet es in einem Buch. Das Mädchen als wahre Freundin des Herzens und seiner aufrichtigen Sehnsucht nach Läuterung. Das Mädchen als wahre Eingeweihte einer besseren Welt – sein Herz als Mysterientempel dieser Einweihung. Das Mädchen als Hüterin der Morgenröte. Die Treue zum Mädchen als Treue zur Zukunft. Die heilige Priesterin an der Hand Christi. Unaussprechliche Treue. Die Augen des Mädchens als Frage an die ganze gefallene Menschheit. Sanftes Halten der heiligen Flamme und innigste, unschuldigste Hoffnung, verletzlich wie ein Schwanenhals.


Religion kann man nicht anders verkündigen wie Liebe und Patriotism. Wenn man jemand verliebt machen wollte, wie finge man das wohl an?

Heilige Dinge können nicht gelehrt werden. Das Geheimnis ist die Frage, wie sich eine heilige Flamme wieder entzünden lässt. Die Seele muss den zarten Funken wiederfinden – er ist das Opfer in der Seele jedes Menschen, aber nie ganz gestorben. Darum ist das Mädchen die bezaubernde Heilerin – denn sie macht die Seele von selbst verliebt. Die Seele kann nicht anders, als das Ur-Liebe zu lieben. Wie macht das Mädchen das? Indem es einfach nur ist, was es ist. Das Mädchen als heilige, unschuldige Lehrerin der Religion. Die Seele, die das Mädchen durch die Magie der Identifikation wieder unschuldig macht, findet auch das Göttliche wieder. Die Seele des Mädchens ist der reinste Tempel. Es braucht nur die Augen zu öffnen, und es sieht Gott – ob es dies weiß oder nicht.

Liebe macht immer sehend – die Liebe zum Mädchen in höchsten Maße, weil sie alles Trübe vertreibt. Religion braucht Hingabe, um zu leben. Das Mädchen als große Lehrerin der Hingabe. Hingabe als Wesen des Mädchens. Hingabe an das Mädchen als Wesen der Liebe zum Mädchen. Hingabe als Ur-Geheimnis der Heilung. Die Unschuld des Mädchens als das alles umschließende Geheimnis.